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Politik statt Lageanalyse

US-Präsident Bush lügt – aber was ist die Wahrheit? Das Iran-Dossier der US-Geheimdienste ist in monatelanger Abstimmung mit dem Weißen Haus entstanden

Von Knut Mellenthin *

Iran arbeitet seit Herbst 2003 nicht mehr an der Entwicklung von Atomwaffen. Das ist die zentrale Aussage eines Thesenpapiers der 16 US-amerikanischen Geheimdienste, das am 3. Dezember veröffentlicht wurde. Jetzt wird gerätselt, seit wann George W. Bush von dieser Erkenntnis wußte. Wie im Fall der verschwundenen Foltervideos der CIA hat der US-Präsident ein Problem mit seinem Gedächtnis und mit der Wahrheit.

Während einer Pressekonferenz am 4. Dezember behauptete Bush, er sei erst in der vorausgegangenen Woche über den Inhalt des National ­Intelligence Estimate (NIE) informiert worden. Zwar sei im August der Koordinator der Geheimdienste, Mike McConnell, zu ihm gekommen »und sagte, wir haben da neue Informationen. Er erzählte mir nicht, was das für Informationen waren; er sagte mir, es werde noch etwas dauern, sie zu analysieren.« Bush antwortete damit auf eine Frage, ob er nicht wider besseres Wissen die von Teheran ausgehende Gefahr übertrieben habe. So etwa, als er am 17. Oktober in einer Pressekonferenz vom »dritten Weltkrieg« sprach, falls Irans Griff nach der Bombe nicht gestoppt würde. Später wurde er gefragt, ob ihm denn wirklich zu keinem Zeitpunkt von den Geheimdiensten geraten worden sei, seine Rhetorik etwas zu mäßigen. ­Bushs Antwort: »Nein, das hat mir nie jemand gesagt.«

Von nichts gewußt?

Aufgabe und Pflicht des Geheimdienstkoordinators ist es selbstverständlich, den Präsidenten zu zentralen Fragen der Weltpolitik auf dem laufenden zu halten. Und mit seiner Behauptung, er habe im August nicht weiter nachgefragt, um was für neue Informationen es sich handelte, hatte Bush sich auch selbst in ein denkbar schlechtes Licht gestellt. Ein Dementi konnte also nicht ausbleiben. Es folgte am 5. Dezember in Form einer Stellungnahme der Pressesprecherin des Weißen Hauses, Dana Perino: McConnell habe dem Präsidenten im August sehr wohl mitgeteilt, daß Iran möglicherweise sein Atomwaffenprogramm gestoppt habe und daß dies, wenn es sich bestätigen sollte, zu einer neuen Einschätzung der Dienste führen könnte. Das einzige, was Bush bei dieser Gelegenheit nicht bekommen habe, seien Informationen über Quellen und Methoden der Erkenntnisse. »Ich kann verstehen, wenn Sie der Meinung sind, der Präsident hätte sich genauer ausdrücken können«, schloß Perino. Aber Bush habe die Wahrheit gesagt. Namentlich nicht genannte Beamte des Weißen Hauses ließen anschließend gegenüber der Washington Post »durchsickern«, Bush habe McConnell ständig nach dem aktuellen Stand gefragt. »Der Präsident und seine Berater wurden regelmäßig und fortlaufend über neue Informationen unterrichtet, sobald wir sie hatten«, zitierte die Post am Wochenende außerdem einen ­anonymen Geheimdienstmann.

Gewünschte Informationen

Der Zeitung zufolge war es Bush selbst, der schon im vorigen Jahr darauf gedrängt hatte, mehr Informationen über das iranische Atomprogramm zu erhalten. Im Juni, berichtet das Blatt aufgrund von offenbar gezielt zugespielten Informationen, habe ein fast fertiger Entwurf des NIE vorgelegen, »der eine scharfe Diskussion hervorrief«. Die CIA und die NSA (Nationale Sicherheitsbehörde) hätten daraufhin verstärkt Personal und Technologie eingesetzt und neue Methoden angewendet, um mehr Erkenntnisse zu gewinnen. Im September sei ein neuer Entwurf des NIE ausgearbeitet worden, »der sich von der Juni-Version radikal unterschied«. Am 15. November sei der Text dem Vizepräsidenten Dick Cheney und dem Sicherheitsberater des Präsidenten, Stephen Hadley, vorgestellt worden. Bush selbst sei jedoch erst am 28. November über den endgültigen Wortlaut informiert worden, als die Nahostkonferenz in Annapolis schon kurz vor dem Abschluß stand. Anschließend sei eine intensive Diskussion ausgebrochen, ob man den Bericht geheimhalten sollte, wie McConnell ursprünglich vorgeschlagen hatte. Man habe sich dann für die Veröffentlichung einer stark reduzierten Fassung entschieden. Der eigentliche Bericht sei 150 Seiten lang und habe rund 1000 Fußnoten mit Quellenangaben. In der freigegebenen Version ist das NIE nur knapp zweieinhalb A-4-Seiten lang und besteht ausschließlich aus sachlich nicht begründeten Thesen (siehe Kasten).

Selektive Weitergabe

Regierung und Geheimdienste versuchen offenbar zur Zeit, durch die Weitergabe von selektiven und manipulierten Informationen an einzelne Journalisten die Entstehungsgeschichte des NIE und das Zusammenspiel zwischen Diensten und Regierung zu vertuschen. Im Vordergrund steht dabei die Behauptung, die Geheimdienste hätten den Bericht eigenständig, auf rein sachlicher Grundlage, ohne Einmischung der politischen Führung, verfaßt. Das NIE widerspiegelt somit einen gründlichen Lernprozeß nach den Fehlern im Vorfeld des Irak-Krieges. Neokonservative wie der frühere UN-Botschafter John Bolton sprechen sogar von einer Meuterei der Dienste gegen Bush und Cheney.

Die tatsächliche Geschichte des NIE bleibt indessen noch zu schreiben. Der bekannte Journalist Seymour M. Hersh hatte im New Yorker schon im November 2006 über eine seit mehreren Monaten vorliegende CIA-Analyse berichtet. Der zufolge gebe es keine schlüssigen Beweise für ein geheimes iranisches Atomwaffenprogramm. Dieses Papier werde zur Zeit mit den anderen Diensten diskutiert. Das Weiße Haus stehe ihm »feindlich« gegenüber. Auch der Militärgeheimdienst DIA, traditionell mit der CIA verfeindet, habe Widerspruch angemeldet. Bush und Cheney seien bestrebt, die Aufnahme der CIA-Thesen in das in Arbeit befindliche NIE zu verhindern.

Stärkere Kontrolle

Im Januar 2007 schrieb Larisa Alexandrovna im investigativen Nachrichtenblog »Raw Story«, daß die Ablösung des Geheimdienstkoordinators John Negroponte durch McConnell Teil der Bemühungen von Cheney sei, die Kontrolle der Regierung über die Dienste zu verstärken. Sie erwähnte in diesem Zusammenhang vor allem den Streit um das Iran-NIE. Negroponte hatte in öffentlichen Äußerungen versucht, die angeblich von Teheran ausgehende Bedrohung etwas zu relativieren.

Alles, was bisher bekannt wurde, ebenso wie die Logik der Machtstrukturen, spricht dafür, das am 3. Dezember veröffentlichte NIE als Produkt von monatelangen Diskussionen und komplexen Kompromissen zu interpretieren, bei denen die US-Regierung, namentlich Dick Cheney, stark engagiert war. Insofern, und nur insofern, hat Bolton recht, wenn er sagt, daß es in dem Papier hauptsächlich um Politik und nicht um analytische Erkenntnisse geht.

Dokumentiert: Die wichtigsten ­Thesen des NIE

Aus der jüngsten Analyse der 16 US-­Geheimdienste:

»Wir meinen mit hoher Gewißheit, daß Teheran im Herbst 2003 sein Atomwaffenprogramm gestoppt hat. Ferner meinen wir mit mittlerer bis hoher Gewißheit, daß Teheran sich zumindest die Option auf die Entwicklung von Atomwaffen offenhält.«

»Wir meinen mit hoher Gewißheit, daß Teile des iranischen Militärs bis zum Herbst 2003 unter Leitung der Regierung an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet haben.«

»Wir meinen mit mittlerer Gewißheit, daß Teheran bis Mitte 2007 sein Atomwaffenprogramm nicht wieder aufgenommen hat. Aber wir wissen nicht, ob es derzeit beabsichtigt, Atomwaffen zu entwickeln.«

»Teherans Entscheidung, sein Atomwaffenprogramm zu stoppen, legt nahe, daß es zur Entwicklung von Atomwaffen weniger entschlossen ist, als wir seit 2005 angenommen hatten.« (Im Mai 2005 war das vorige Iran-NIE veröffentlicht worden) »Unsere Einschätzung, daß das Programm vermutlich in erster Linie als Reaktion auf internationalen Druck gestoppt wurde, legt nahe, daß Iran auf diesem Gebiet vielleicht gegenüber Einflußnahme stärker verwundbar ist, als wir früher angenommen hatten.«

»Wir schätzen mit mittlerer Gewißheit ein, daß das früheste Datum, zu dem Iran technisch in der Lage sein könnte, genug hochangereichertes Uran für eine Waffe zu produzieren, Ende 2009 sein könnte, aber daß dies unwahrscheinlich ist. Wir meinen mit mittlerer Gewißheit, daß Iran irgendwann zwischen 2010 und 2015 technisch in der Lage sein könnte, genug hochangereichertes Uran für eine Waffe herzustellen. (...) Alle Dienste erkennen die Möglichkeit an, daß diese Fähigkeit vielleicht nicht vor 2015 erreicht werden könnte. (Die veröffentlichte Fassung des NIE geht nicht auf die Frage ein, bis wann Iran in der Lage sein könnte, wirklich Atomwaffen zu produzieren, beispielsweise als Raketensprengkopf.)

»Wir haben nicht genug Erkenntnisse, um mit Gewißheit zu beurteilen, ob Teheran bereit ist, den Stopp seines Atomwaffenprogramms unbegrenzt aufrechtzuerhalten.« »Wir schätzen mit mittlerer Gewißheit ein, daß es schwierig sein wird, die iranische Führung dazu zu bringen, auf die mögliche Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten.«

»Wir schätzen mit hoher Gewißheit ein, daß Iran die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Fähigkeiten besitzt, um Atomwaffen zu produzieren, falls das Land sich dafür entscheidet.«

[Das vollständige Papier - 9 Seiten - gibt es hier als pdf-Datei:
Iran: Nuclear Intentions and Capabilities (englisch)]



* Aus: junge Welt, 10. Dezember 2007


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