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Mussawi fordert "Wahrheitskommission"

Unterlegener iranischer Präsidentschaftskandidat veröffentlichte Bericht zu mutmaßlichen Betrugsfällen bei der Wahl

Die iranische Führung fährt weiter eine harte Linie gegen die Proteste im Land. Das geistliche Oberhaupt, Ayatollah Ali Chamenei, bekräftigte am Mittwoch (24. Juni) die unnachgiebige Haltung der Regierung. Der unterlegene Präsidentschaftskandidat Mohsen Rezai zog seine Beschwerde beim Wächterrat gegen die Wahlergebnisse zurück.

Teheran (Agenturen/ND). Die Führung werde nicht »zurückweichen«, erklärte Chamenei angesichts der Demonstrationen. »Weder das System noch das Volk werden nachgeben.« Chamenei hatte sich vergangene Woche deutlich hinter Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad gestellt, dessen Sieg bei der Präsidentenwahl die anderen Kandidaten anzweifeln. Am Mittwoch blieb die Lage auf den Straßen Teherans zunächst ruhig.

Unterdessen scheint die Oppositionsfront zu bröckeln. Der konservative Kandidat Rezai begründete nach einer Meldung der amtlichen Nachrichtenagentur Irna den Rückzug seiner Beschwerde mit mangelnder Zeit für eine Überprüfung. Außerdem verwies er auf die sensible Phase der »politischen, sozialen Situation sowie der Sicherheitslage«. Dies sei wichtiger als die Wahlen. Der frühere Oberbefehlshaber der Revolutionsgarden hatte vergangenen Donnerstag gemeinsam mit den Reformkandidaten Mir Hussein Mussawi und Mehdi Karrubi Beschwerde gegen den Wahlausgang eingelegt.

Der Wächterrat hatte am Dienstag (23. Juni) zwar die Verkündung des Wahlergebnisses um fünf Tage verschoben, um die Beschwerden zu prüfen. Gleichzeitig aber verkündete er, dass die Wahl nicht annulliert werde, weil es keine größeren Unregelmäßigkeiten gegeben habe.

Mussawi veröffentlichte dagegen wie angekündigt einen detaillierten Bericht zu den mutmaßlichen Betrugsfällen und forderte eine »Wahrheitskommission« zur Überprüfung des Wahlvorgangs. In dem Bericht wird unter anderem bezweifelt, dass die Urnen zu Wahlbeginn tatsächlich leer waren. Auch hätten die Wahlzettel keine Seriennummern gehabt. Die Organisatoren der Wahl seien zudem vor allem Anhänger Ahmadinedschads gewesen. Außerdem seien die Vertreter der Präsidentschaftskandidaten daran gehindert worden, die Vorgänge in den Wahllokalen zu überwachen.

Sahra Rahnaward, Mussawis Frau, forderte die Regierung auf, die Gewalt zu beenden. »Sie sollten nicht handeln, als gelte Kriegsrecht auf den Straßen Teherans«, schrieb Rahnaward auf Mussawis Website. Sie werde weiter auf der Seite der Demonstranten stehen, die Proteste sollten aber friedlich und ohne weiteres Blutvergießen bleiben. Rahnaward ist Professorin an einer Teheraner Universität.

Unterdessen erhöhten die Machthaber den Druck auf Mussawi. Rund 25 Mitarbeiter seiner Zeitung »Kalemeh Sabs« seien am Montag ohne Haftbefehl festgenommen worden, sagte ein Mitarbeiter des Blattes.

Die iranische Führung setzte sich zudem weiter gegen Vorwürfe aus dem Ausland zur Wehr. Nach der wechselseitigen Ausweisung von Diplomaten sollen die Beziehungen zu Großbritannien womöglich heruntergefahren werden. »Wir überprüfen es«, sagte Außenminister Manuchehr Mottaki. Die britische Regierung versicherte, sie sei an »konstruktiven Beziehungen« zu Iran interessiert, verwahrte sich aber gegen die Anschuldigungen Teherans. Am Mittwoch warf das iranische Innenministerium unter anderem dem US-Geheimdienst CIA vor, die Demonstranten zu unterstützen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte die internationale Staatengemeinschaft auf, auch langfristig Druck auf Iran auszuüben. Iran-Expertin Ruth Jüttner sagte zudem im Deutschlandradio Kultur, es sei von deutlich mehr Opfern als bisher bekannt auszugehen.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Juni 2009


Dokumentiert: Erklärung von amnesty international

Kein Einsatz der Basij-Miliz bei Demonstrationen

Amnesty International ruft die iranische Regierung dazu auf, den Einsatz der Basij-Miliz bei Demonstrationen umgehend zu stoppen. Berichten zufolge sind Mitglieder der Miliz, deren Brutalität berüchtigt ist, mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vorgegangen.

Viele Demonstrierende berichten, dass nicht-uniformierte, bewaffnete Truppen übermäßige Gewalt angewandt und Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Dabei handelt es sich nach Auffassung der Augenzeugen um Angehörige der Basij-Milizen. Sie schlugen und schossen auf demonstrierende Menschen.

Bei diesen Vorfällen starben mindestens acht Leute. Ein Video zeigt, wie ein Mitglied der Basij-Miliz während der Demonstrationen am Montag, den 15. Juni, von einem Gebäude aus eine Waffe abfeuert. Das Video hätte eine sofortige Untersuchung durch die Behörden auslösen sollen, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen ums Leben kommen. Ein anderes Video zeigt, wie eine junge Frau namens Neda an einer Brustverletzung stirbt. Ihr Tod wurde mit der Basij-Miliz in Verbindung gebracht.

Die Antwort der iranischen Behörden war daraufhin aber nicht, eine korrekte Untersuchung zu eröffnen, um die Umstände der Todesfälle zu klären. Vielmehr gaben sie weitere Warnungen heraus, dass Proteste auf eine "revolutionäre Weise" von der Revolutionsgarde, der Basij-Miliz und anderen Polizei- und Sicherheitskräften niedergeschlagen werden sollen.

Die Befürchtungen von Amnesty International, dass die Lage sich nach der Rede des obersten Religionsführers Ayatollah Sayed 'Ali Khamenei am vergangenen Freitag weiter verschärfen würde, haben sich bestätigt. Die Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte ist in den letzten Tagen gestiegen. Ayatollah Khamenei hatte den Demonstrierenden in seiner Ansprache mit "Konsequenzen" gedroht, wenn die Proteste fortgesetzt würden. Er unterließ es, die Sicherheitskräfte und insbesondere die Basij-Miliz, zu gemäßigtem und rechtmäßigem Handeln aufzurufen. Amnesty International erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der Iran Mitglied des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ist und sich somit verpflichtet hat, die Versammlungsfreiheit seiner Bürger zu gewährleisten.

"Die Iraner und Iranerinnen, die ihre Opposition zu den jüngsten Ereignissen rund um die Präsidentenwahl friedlich ausdrücken möchten, haben keine Gelegenheit, um dies zu tun. Sie sind vielmehr mit der Gewalttätigkeit konfrontiert, die durch die oberste Behörde im Land legitimiert worden ist", sagt Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Direktorin für die Region Mittlerer Osten und Nordafrika von Amnesty International. "Es ist Zeit, dass die iranischen Behörden friedliche Proteste erlauben und die Basij-Miliz von den Straßen entfernen. Die Überwachung der Demonstrationen sollte der Polizei oder anderen Sicherheitskräfte überlassen werden, die adäquat ausgebildet und ausgerüstet werden."

Hintergrund:

Bei der Basij-Miliz handelt es sich um eine paramilitärische Organisation, die aus Freiwilligen besteht. Diese Frauen und Männer unterstehen der Revolutionsgarden. Die Basij-Truppen sind an vielen Orten im Einsatz wie bspw. Schulen, Universitäten, Fabriken, privaten und staatlichen Institutionen, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten und abweichende Meinungen zu unterdrücken. Ihnen wurde wiederholt massive Brutalität vorgeworfen.



Quelle: www.amnesty.de


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