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Aus Schaden nichts gelernt

Trotz der Erfahrungen des Irak-Kriegs blühen Gerüchte über iranische Atomwaffen

Von Knut Mellenthin*

Die Entlarvungen der Lügen über »Massenvernichtungswaffen«, mit denen im Jahr 2002 der Überfall auf den Irak vorbereitet wurde, sind immer noch nicht ganz aufgearbeitet. Und schon demonstrieren die Medien der USA, Europas und nicht zuletzt auch Deutschlands, daß sie aus den damaligen Fehlern absolut nichts gelernt haben und offenbar auch keineswegs die Absicht haben, jemals irgend etwas daraus zu lernen. Jetzt wird der Krieg gegen Iran vorbereitet, der voraussichtlich den gesamten Nahen und Mittleren Osten in Flammen setzen wird – und jedes Gerücht, jede noch so zweifelhafte Behauptung wird bedenkenlos aufgegriffen.

Bemerkenswert ist – das unterscheidet bislang die Situation von der vor dem Irak-Krieg –, daß die US-Regierung sich noch keine einzige der zahlreichen Behauptungen über angebliche iranische Arbeiten an der Entwicklung von Atomwaffen wirklich zu eigen gemacht hat. Die meisten sensationellen »Enthüllungen« erweisen sich als Eintagsfliegen. Sie erfüllen ihren Zweck, indem sie zur allgemeinen Stimmungsmache gegen Iran und dessen kriegswichtiger Dämonisierung beitragen. Gleich anschließend kann man sie getrost vergessen und das nächste Gerücht auftischen. Die inzwischen gefeuerte Journalistin Judith Miller von der New York Times zitierte im Jahr 2002 in ihren Artikeln immerhin noch mehrere halbwegs bezeichnete individuelle Quellen. Verglichen mit heutigen Auslassungen beispielsweise des Spiegel, der sich ganz allgemein und völlig unverifizierbar auf »westliche Geheimdienste« beruft, hat sich Judith Miller noch geradezu innerhalb klassischer journalistischer Standards bewegt.

Halten wir fest: Wenn die US-Regierung dem Iran heute Atomwaffenpläne unterstellt, dann tut sie das bisher nicht auf Grundlage irgendwelcher konkreter Behauptungen, wie sie immer wieder ungeprüft in den Medien auftauchen, sondern führt lediglich scheinbar logische Ableitungen an. Beispielsweise: Daß der Iran jahrelang Teile seines zivilen Atomprogramms verheimlicht habe, beweise seine verborgenen Absichten. Oder: Daß der Iran überhaupt auf Atomenergie setzt, obwohl er doch über reiche Erdöl- und Erdgas-Vorkommen verfügt, mache ihn verdächtig. Oder: Daß der Iran nicht auf Urananreicherung (zur Produktion von AKW-Brennstoff) verzichten will, sei der Beweis für seine Absicht, Atomwaffen zu produzieren. Oder einfach nur, indem ständig ohne jeden Versuch einer Beweisführung das Glaubensbekenntnis wiederholt wird, man sei sich ganz sicher, daß Iran an der Entwicklung von Atomwaffen arbeitet.

Die US-Regierung vermeidet also bisher, im Gegensatz zur Phase vor dem Überfall auf den Irak, sich mit irgendwelchen Gerüchten und Behauptungen über iranische Atomwaffenpläne direkt zu identifizieren. Um so fahrlässiger und unverantwortlicher ist die Rolle, die die Medien spielen, indem sie ständig Stories kolportieren, von denen selbst nicht gerade pedantische Politiker wie Bush, Rice, Rumsfeld, Bolton und Konsorten wohlweislich die Finger lassen.

Hauptquelle der Desinformation

Mehr als die Hälfte aller in den Medien veröffentlichten Geschichten über angebliche Arbeiten Irans an der Entwicklung von Atomwaffen geht auf eine einzige Quelle zurück: Die Mujahedin-e Khalq (abgekürzt MEK oder MKO), in Deutschland besser bekannt als Volksmudschaheddin. Die Gruppe tritt auch unter verschiedenen Alias-Namen auf, vor allem als National Council of Resistance (NCR), auf deutsch: Nationaler Widerstandsrat. Unter diesem Namen behauptet sie gelegentlich auch, ein »iranisches Exilparlament« zu sein.

Die Volksmudschaheddin waren zur Zeit der Schah-Diktatur eine der wichtigsten Organisationen der linken Opposition. In dieser Zeit, besonders in den 70er Jahren, verübten sie zahlreiche Anschläge, denen unter anderem eine Reihe von US-Amerikanern zum Opfer fielen. Sie unterstützten anfangs die »islamische Revolution« von 1979 und sollen – nach Ansicht amerikanischer Dienststellen – an der Besetzung der US-Botschaft in Teheran beteiligt gewesen sein. Schon bald begannen sie aber, die neue islamistische Führung mit Bombenanschlägen zu bekämpfen. Im von Saddam Hussein angezettelten irakisch-iranischen Krieg (1980–1988) traten die Volksmudschaheddin in die Dienste Iraks, wurden zu massiv bewaffneten militärischen Einheiten zusammengefaßt und nahmen an Angriffsoperationen auf iranischem Gebiet teil. Seither gelten sie auch bei iranischen Oppositionellen als nicht mehr bündnisfähig. In den 90er Jahren setzte Husseins Regime die MEK-Truppen gegen Kurden und Schiiten ein. Aussagen Betroffener belegen, daß die MEK damals im Irak eigene Folterhaftanstalten unterhielten, in denen auch Abtrünnige aus den eigenen Reihen gefangengehalten wurden.

Erst 1997 setzte das US-Außenministerium die MEK auf die Liste der »ausländischen terroristischen Organisationen« – in erster Linie unter Hinweis auf die rund zwanzig Jahre zurückliegenden Anschläge gegen Amerikaner. Offenbar hatte die US-Regierung bis zu diesem Zeitpunkt die MEK wegen ihrer Feindseligkeit gegen die iranische Führung geschont. In der offiziellen »Ächtung« der MEK 1997 deutete sich an, daß Kurs auf Krieg gegen den Irak genommen wurde, der immer noch die Schutzmacht der Organisation war. Sehr konsequent wurde das Verbot der MEK jedoch nicht gehandhabt: Unter ihrem Alias-Namen National Council of Resistance agierte die Organisation weiter völlig offen und unterhielt in Washington ein Verbindungsbüro zur Bearbeitung von Kongreßmitgliedern.

Am 15. August 2003 schließlich setzte das State Department auch den NCR auf die Liste der »Terrororganisationen«, beschlagnahmte dessen Bankkonten und schloß das Büro in Washington. Damit aber begann die eigentliche Karriere des Bürochefs und Sprechers von MEK und NCR, Alireza Jafarzadeh: Mit Hilfe von finanzkräftigen Hintermännern gründete er eine »unabhängige Firma« mit dem seriös und neutral klingenden Namen Strategic Policy Consulting. Sein Büro befindet sich jetzt an der Pennsylvania Avenue, dem Sitz vieler Lobbyfirmen unweit des US-Kongresses. Mit Selbstironie oder Dreistigkeit bezeichnet Jafarzadeh sich auf der Webseite der SPC als »bekannte Autorität für Terrorismus und islamischen Fundamentalismus«. Der Vertreter von offiziell verbotenen Organisationen ist jetzt als »Außenpolitikexperte« beim Sender Fox News unter Vertrag, der den Neokonservativen nahesteht. Regelmäßig ist er mit seinen Lügen über iranische Atomwaffenpläne, angebliche Zusammenarbeit Teherans mit Al Qaida und ähnlichen Themen im Fernsehen präsent. Als »Außenpolitikexperte« eines namhaften US-amerikanischen Senders hat Jafarzadeh auch schon den Sprung nach Europa geschafft, unter anderem in ein Magazin des österreichischen Fernsehsenders ORF. Es ist zu fürchten, daß man ihn künftig noch häufiger sehen wird.

Terrorist wird Terrorexperte

Die Mehrheit der über Irans angebliche Arbeiten an Atomwaffen verbreiteten Geschichten geht nachweislich direkt auf Jafarzadeh zurück. Meist wird er dabei nur als »iranischer Oppositioneller« oder »Exilpolitiker« bezeichnet, ohne die MEK zu erwähnen. Gelegentlich tritt aber auch die MEK mit »Enthüllungen« auf Pressekonferenzen in Paris und Wien in Erscheinung, obwohl sie in der EU offiziell ebenfalls als verbotene Terrororganisation gilt. In den Erzählungen Jafarzadehs und der MEK geht es vor allem um immer neue iranische Geheimfabriken, in denen angeblich hinter dem Rücken der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) schon eifrig Urananreicherung betrieben und an Atomwaffen gebastelt wird.

Keine einzige der überaus zahlreichen und immer sehr detaillierten Behauptungen Jafarzadehs und der MEK – mit einer einzigen gleich noch zu erläuternden Ausnahme – hat bisher Eingang in die vierteljährlichen Berichte des IAEA-Generalsekretärs gefunden. Eine ganze Reihe von Angaben wurden durch IAEA-Inspektionen vor Ort sogar definitiv widerlegt. Im Jahr 2004 trat Jafarzadeh bei Fox News mehrmals, zuletzt noch im November, mit der weltweit beispiellosen Behauptung auf, Iran werde schon Mitte 2005 seine erste Atombombe besitzen. Eigentlich sei die Fertigstellung erst im Dezember 2005 geplant gewesen, aber Ajatollah Khameini, die oberste religiöse Autorität des Landes, habe eine Beschleunigung befohlen, wußte Jafarzadeh zu berichten. Nach seinen Aussagen hatte er diese »Informationen« direkt aus »Kreisen innerhalb des Regimes« erhalten. Überhaupt stammen angeblich alle Angaben der MEK aus einem weitverzweigten Netzwerk im Iran, das bis in die Atomindustrie hineinreichen soll. Tatsächlich ist es aber aufgrund der Geschichte der MEK, insbesondere ihrer Kollaboration mit dem Regime Saddam Husseins, äußerst unwahrscheinlich, daß sie über eine nennenswerte Zahl von Agenten im Iran verfügt – und schon gar nicht in sensiblen Bereichen.

Kommen wir an diesem Punkt auf die eben erwähnte einzige Ausnahme zurück, wo sich Angaben der MEK einmal als korrekt erwiesen haben: die im August 2002 präsentierten Hinweise auf die im Bau befindliche Anreicherungsanlage von Natanz und auf die gleichfalls noch nicht fertiggestellte Schwerwasserfabrik in Arak. Mit diesen »Enthüllungen« der MEK wurde damals die Untersuchung des iranischen Atomprogramms durch die IAEA angestoßen. Alireza Jafarzadeh versäumt es, wenn Fragen nach seiner Glaubwürdigkeit gestellt werden, niemals, auf diesen Vorgang zu verweisen. Auch in den Medien heißt es oft, wenn über neue von Jafarzadeh verbreitete Gerüchte berichtet wird, die Informationen stammten aus Kreisen, deren Angaben sich schon früher als zutreffend erwiesen hätten. Allerdings spricht alles dafür, daß der MEK damals die den Geheimdiensten durch Satellitenfotos bereits bekannte Existenz der beiden Anlagen gleichsam als Startkapital zugeschoben wurde. Jedenfalls haben Jafarzadeh und die MEK seither nur noch Behauptungen präsentiert, die nachweislich falsch oder zumindest nicht verifizierbar waren.

Unter den amerikanischen Neokonservativen ist die Unterstützung der MEK umstritten. Manche namhaften Neocons, die eng mit den monarchistischen Kräften um den in Maryland/USA lebenden Schahsohn zusammenarbeiten, halten den Flirt mit den ehemals linken Volksmudschaheddin auch heute noch für gefährlich und verwerflich. Zu den Verbündeten der MEK gehört der frühere CIA-Chef James Woolsey, Propagandist eines »Weltkriegs« gegen den Islam. Auch in beiden Häusern des US-Kongresses haben die offiziell als Terroristen Geächteten zahlreiche Helfer. Prominenteste Unterstützerin ist die Abgeordnete Ileana Ros-Lehtinen, die sich nicht nur als Hardlinerin gegen Kuba – von wo sie selbst stammt – betätigt, sondern die als Exponentin der Pro-Israel-Lobby auch an der Kriegstreiberei gegen Iran und Syrien maßgeblich beteiligt ist. Im Jahr 2003 hatte die Parlamentarierin nach eigenen Angaben mehr als 150 Unterschriften anderer Kongreßmitglieder für eine Legalisierung der MEK gesammelt. Sie weigerte sich allerdings »aus Sicherheitsgründen« die Namen der Unterzeichner bekanntzugeben, was Zweifel an ihrer Behauptung aufkommen ließ. Inzwischen haben sich eine Reihe von Abgeordneten und Senatoren von den MEK distanziert.

Wieder BND-Falschmeldungen?

An den propagandistischen Vorbereitungen des Irak-Kriegs war auch der deutsche Bundesnachrichtendienst beteiligt. Der BND gab damals plumpe Fehlinformationen eines nicht vertrauenswürdigen V-Manns über angebliche irakische Massenvernichtungswaffen an die Amerikaner weiter. Der Informant war Mitglied von Ahmad Chalabis Iraqi National Congress (INC), der damals bei der Erfindung und Verbreitung von Falschmeldungen eine ähnlich herausragende Rolle spielte wie jetzt die MEK gegen Iran.

Es scheint, daß der BND an seine damalige Rolle anknüpfen will. Am 15. Dezember vergangenen Jahres berichtete die Bild-Zeitung über einen der Chefredaktion angeblich zugespielten »BND-Geheimbericht«: »Dem BND liegen Erkenntnisse vor, daß sich iranische Experten bereits intensiv mit der Anbringung nuklearer Wirkladungen an Raketengefechtsköpfen beschäftigen.« »Nach Erkenntnissen des BND hat der Iran von Nordkorea 18 Raketenbausätze des mobilen Typs BM-25 (Reichweite 2500 Kilometer) gekauft. Diese läßt Ahmadinedschad auf Basis der russischen U-Boot-Rakete SS-N-6 auf 3500 Kilometer Reichweite aufrüsten. Das entspricht exakt der Entfernung Teheran–Berlin. Bei Täbriz habe der BND eine Testanlage für solche Raketen entdeckt. China habe nach BND-Erkenntnissen vor kurzem Bauteile an Iran geliefert, die zur Herstellung einer Rakete mit 10000 Kilometern Reichweite geeignet seien. Iran strebe, so der BND laut Bild, »die Fähigkeit zum Ersteinsatz« von Atomwaffen an.

Feststeht, daß es sich bei diesen angeblichen BND-Erkenntnissen nicht um allgemein im Umlauf befindliche Informationen oder Gerüchte handelte. Das wirft die Frage auf, ob es den von der Bild-Zeitung erwähnten BND-Geheimbericht tatsächlich gibt, was alles darin steht und was genau die Quellen der vermeintlichen Erkenntnisse sind. Der Verdacht liegt zumindest nahe, daß der BND sich erneut, wie schon im Fall des Irak, als Waschanlage und Multiplikator für skandalöse Desinformationen betätigt und damit kriegstreibend wirkt. Es ist zu wünschen, daß die Opposition im Bundestag, insbesondere die Linksfraktion, dieses Thema bei der Diskussion der Rolle des BND im Irakkrieg einbezieht.

Einer gründlichen Prüfung wert wäre auch die Berichterstattung von Spiegel Online am 19. Januar über ein Referat von BND-Chef Ernst Uhrlau im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages. Zwar dementierte Uhrlau postwendend die ihm in der ersten Version des Spiegel zugeschriebene Behauptung, »daß Iran schon in wenigen Monaten eine Atombombe bauen könnte«. Mit Sicherheit falsch ist aber auch die angeblich ebenfalls von Uhrlau stammende Aussage, die Internationale Atomenergiebehörde IAEA fürchte, »daß der Iran innerhalb von Monaten zum Bau einer Bombe in der Lage sei«. Alle Berichte des IAEA-Generalsekretärs betonen im Gegenteil, daß keinerlei Anzeichen für iranische Arbeiten an Atomwaffen bekannt seien. Auch hier stellt sich wieder dringend die Frage: Wie groß ist der Anteil des BND an der Falschmeldung des Spiegel?

Möglicherweise geht auch ein Artikel des Spiegel, der Ende November erschien, gleichfalls auf den BND zurück. Es hieß damals zur Quelle nur nichtssagend: »wie der Spiegel jetzt aus westlichen Geheimdienstkreisen erfuhr«. Die iranische Regierung habe Nordkorea »ein umfassendes wirtschaftliches Hilfsprogramm angeboten – wenn Pjöngjang im Gegenzug weiter aktiv bei der Entwicklung von nuklear bestückten Teheraner Raketen mitarbeitet«. Iran habe sein Angebot durch einen »hochrangigen Emissär« vorgetragen, der in der zweiten Oktoberwoche nach Nordkorea gereist sei und dort »massive unentgeltliche Erdöl- und Erdgaslieferungen in Aussicht« gestellt habe. Der Iran versuche, eine Einigung zwischen Pjöngjang und Washington im Streit um das nordkoreanische Atomprogramm zu hintertreiben, behauptete der Spiegel ohne eine Spur sachlicher Belege.

Der Artikel des Spiegel war so »exklusiv«, der angebliche Sachverhalt so absolut unbewiesen und bis dahin unbekannt, daß selbst die südkoreanische Presse darüber nur unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das deutsche Nachrichtenmagazin berichtete. Unter dem Aspekt journalistischer Standards lag der Spiegel-Artikel weit unter den in der New York Times veröffentlichten Texten von Judith Miller über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Der Vorgang demonstriert leider allzu deutlich, auf welches Niveau sich die Redaktionen vergleichsweise seriöser Medien zu begeben bereit sind, wenn ihnen interessierte Kreise »weltexklusiv« irgendeine völlig unnachprüfbare Geschichte als Geschenk präsentieren. Beim Wort »exklusiv« setzen offenbar Verstand und journalistisches Ethos vollständig aus.

* Aus: junge Welt, 21. Januar 2006


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