Reform durch Revolution
Beginn eines neuen Abschnitts in der Geschichte Irans
Von Mohssen Massarrat *
„Wenn die da unten nicht mehr wollen und die da oben nicht mehr können, dann
entsteht eine revolutionäre Situation.“ Diese auf Lenin zurückgehende Beschreibung
der revolutionären Situation ist jetzt (Montag, 15. Juni, 22 Uhr) in der Islamischen
Republik Iran eingetreten. Der in Gang gekommene, bisher glücklicherweise
gewaltfreie Aufruhr ist nicht mehr zu stoppen. Die Gegner der Diktatur haben keine
Angst vor den Schlägertrupps der Basidji-Milizen, der paramilitärischen Verteidiger
des Systems. Diese werden vielmehr in die Flucht geschlagen. Die um ihre Stimme
Betrogenen und Gedemütigten befreien sich von ihrer Lethargie. Sie fühlen sich zu
Hunderttausenden auf den Straßen von Teheran als eine geballte Kraft, die stark
genug ist, um sich gegen die Beleidigungen eines populistischen Machthabers zu
wehren, der sich seiner mit Geldgeschenken gekauften Macht und der Legitimation
eines uneinsichtigen geistlichen Staatsoberhaupts sicher wähnte. Der kalte Putsch
durch die offensichtliche Fälschung der Wahlergebnisse scheint gescheitert zu sein,
vor einem heißen Putsch dürfte sich Ayatollah Khamenei fürchten. Die Allianz
zwischen dem geistlichen Staatsoberhaupt und dem missionarisch
machtbesessenen Präsidenten Ahmadinedschad hat einen tiefen Riss bekommen.
Heute steht Iran in derselben Situation wie vor 30 Jahren im Februar 1979. Damals
ging es darum, die Monarchie zu beenden und das System zu stürzen, heute geht es
vielmehr darum, das System des Gottesstaates durch eine friedliche Revolution zu
reformieren und die Barrieren für eine echte Demokratisierung freizulegen.
Mir Hussein Mussawi wagte als erster in der Geschichte der Islamischen Republik,
dem Votum des geistlichen Staatsoberhaupts zu widersprechen. Er ignorierte
schlicht dessen Votum, das Wahlergebnis zu akzeptieren und sich hinter den
gewählten Präsidenten zu stellen. Die sonst übliche Masche „Dem Feind sollte durch
innere Einheit eine Absage erteilt werden“, hat diesmal nicht gezogen. Offensichtlich
hatte Ayatollah Khamenei mit dem Mut und der Risikobereitschaft von Mussawi nicht
gerechnet. Durch seine Entschlossenheit, den Wahlbetrug nicht zu akzeptieren und
für die Durchsetzung des Volkswillens zu kämpfen, ermutigte Mussawi seine Wähler
zu einem Aufbruch. Auch die Wähler widersetzten sich fest entschlossen und ohne
Angst vor der Staatsgewalt dem Demonstrationsverbot und ermutigten so ihrerseits
Mussawi nicht nachzugeben. Diese sich wechselseitig verstärkende soziale Energie
mündete binnen zwei Tagen in eine Art revolutionäre Situation.
Ahmadinedschad mag nun versuchen, das Staatsoberhaupt für den nächsten und
vielleicht allerletzten Schritt, nämlich den heißen Putsch, hinter sich zu bringen. Doch
würde Ayatollah Khamenei aller Wahrscheinlichkeit nach diesen Schritt nicht mehr
riskieren. Ahmadinedschad ging es bisher um seine eigene Macht und die Macht
seiner Klienten, die er mit den dem Volk gestohlenen Ölmilliarden hinter sich brachte. Mit dem Rücken zur Wand würde er daher jetzt alles auf eine Karte setzen.
Khamenei geht es dagegen um den Systemerhalt und steht daher vor der
Alternative, Ahmadinedschad zu folgen und damit seine eigene Macht und die
Legitimation des gesamten Systems aufs Spiel zu setzen oder aber
Ahmadinedschad im Interesse des Systemerhalts zu opfern. Denn im Unterschied zu
dem verblendeten Präsidenten muss das geistliche Staatsoberhaupt damit rechnen,
dass ein Teil der Streitkräfte den heißen Putsch gegen die Bevölkerung nicht mitträgt
und dass die Rechnung Ahmadinedschads abermals nicht aufgeht. Ein erneutes
Scheitern nach dem Wahlbetrug, nun auch nach einer Zustimmung zum
Gewalteinsatz würde das Ende der Islamischen Republik einläuten.
Deshalb werden wir mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen im Iran –
hoffentlich – in den nächsten Stunden und Tagen Zeugen einer revolutionären
Reform werden, die im Endeffekt dem System des Gottesstaates durch eine
friedliche Revolution die diktatorischen Zähne zieht und den Weg für einen neuen
und besseren Abschnitt in der Geschichte Irans freilegt. Ayatollah Khamenei bleibt
einzig und allein die Wahl, dem Wächterrat nahezulegen, nicht erst in zehn Tagen,
sondern sofort Neuwahlen zu beschließen. Es dürfte den Herren im Wächterrat auch
nicht schwer fallen, sich theologische und politische Rechtfertigungen einfallen zu
lassen, um Khameneis Gesicht zu wahren. So oder so, die Islamische Republik Iran
wird nie wieder so sein, wie sie bis vor dem Wahlbetrug war. Das Ende des
Gottesstaates würde allerdings noch lange nicht ein Ende der Islamischen Republik
implizieren. Denn die Reformbewegung in ihren nicht zu vernachlässigenden
Bestandteilen (Mussawi selbst, Khatami, Karrubi und zahlreiche andere
Führungspersönlichkeiten mit sozialer Basis) identifiziert sich weiterhin mit einer
Republik Iran, die ein islamisches Gesicht hat.
Die Islamische Republik spaltete von Anfang an die Gesellschaft in zwei Teile, in den
systemtragenden und den systemkritischen Teil. Dank des aktiven Einmischens des
systemkritischen Teils gewann 1997 und 2001 der Reformer Mohammad Khatami mit
überwältigender Mehrheit die Wahl zum Staatspräsidenten. Durch Khatamis
mangelnden Mut und fehlende Risikobereitschaft, die moralische Kraft des
Volkswillen für echte politische und soziale Reformen zu nutzen, zog sich der
systemkritische Teil der Gesellschaft resigniert zurück. Dadurch konnte 2005 der
Populist Ahmadinedschad die Wahlen überhaupt erst gewinnen. Im Juni 2009
entdeckte der systemkritische Teil der Gesellschaft ziemlich am Ende des
Wahlkampfes erneut seine Chance und beschloss, den Fehler von 2005 nicht zu
wiederholen. Alle Oppositionsgruppen, die mit dem Argument, „das System des
Gottesstaates nicht legitimieren zu wollen“ zum Wahlboykott aufriefen, wurden durch den spontan artikulierten Volkswillen eines Besseren belehrt. Die Wahlboykotteure übersahen den zweiteiligen Charakter der iranischen Gesellschaft und damit die Möglichkeit, dass der Gottesstaat gerade durch Wahlen auch delegitimiert werden
kann. Die Grundlagen einer durch revolutionäre Reformen in Gang gebrachten
Abschaffung des Gottesstaates sind in der Verfassung eben dieses Staates selbst
angelegt, die Gesellschaft de facto in einen systemtragenden und einen durch das
System ausgegrenzten Teil zu spalten – ähnlich wie damals der südafrikanische
Apartheid-Staat, der ein jähes Ende gefunden hat.
15. Juni 2009
* gebürtiger Iraner. Professor (i. R.) für Politik und Wirtschaft an der Universität Osnabrück
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