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Dichtung und Wahrheit

Beim Thema Iran regieren in Medien und Politik Wahrnehmungsschwierigkeiten, Phantasie und Lügen. Besonders Springers Welt tut sich wieder einmal hervor

Von Knut Mellenthin *

Die einstimmige Empörung deutscher Politiker und Journalisten über die Friedensbotschaft von Günter Grass hat auch etwas damit zu tun, daß sie allesamt ertappte Lügner sind: Ihr ständig wiederholter axiomatischer Ausgangspunkt, Iran arbeite am Bau von Atomwaffen, ist nicht nur gänzlich unbewiesen, sondern widerspricht auch den veröffentlichten Erkenntnissen aller westlichen Geheimdienste, einschließlich des israelischen.

Besonders viel gelogen wird im ewigen rechten Flaggschiff des Axel-Springer-Verlages, der Welt. Mittlerweile kann man konstatieren, daß – was den Iran angeht – selbst in Bild mehr journalistische Sorgfalt und Ausgewogenheit praktiziert wird als in der Welt.

Ein Halbsatz

Am Dienstag (4. April) las man dort online von einem der einschlägigen Hausautoren für alle Israel irgendwie berührenden Themen, Clemens Wergin: »Iranischer Diplomat gesteht A-Waffen-Programm ein«. So die Headline, die später gegen das griffige, aber völlig frei erfundene »Wir stehen kurz vor der Bombe« ausgetauscht wurde. Im Einleitungssatz heißt es dann: »Der Iran hat zum ersten Mal zugegeben, ein Atombombenprogramm zu verfolgen und kurz vor der Bombe zu stehen – und kaum jemand hat es bemerkt.«

Letzteres stimmt zweifellos: Außer der Welt hat es genaugenommen weltweit überhaupt niemand bemerkt. In einem so eindeutigen Fall würde ein geistig einigermaßen gesunder Mensch einen Moment innehalten und sich fragen, ob etwas, das außer ihm niemand wahrgenommen hat, möglicherweise gar nicht existiert. Aber nicht so Clemens Wergin, der anscheinend allen Ernstes glaubte, seine Enthüllung sei »dazu angetan, die Welt zu erschüttern«, wie es am Schluß des Artikel heißt.

Wergins Entdeckung beruht, fernab von allem, was irgendwie mit Tatsachen zu tun hat, ausschließlich auf der böswilligen Fehlinterpretation eines Halbsatzes in einem Kommentar, den Hossein Musavian am vergangenen Sonnabend in der US-amerikanischen Tageszeitung Boston Globe veröffentlicht hatte. Nun ist dieser Autor ohnehin nicht »der Iran« und er ist schon seit sechseinhalb Jahren auch kein iranischer Diplomat mehr. Musavian war von 2003 bis zur Übernahme des Präsidentenamtes durch Mahmud Ahmadinedschad Anfang August 2005 Teherans Chefunterhändler in den Gesprächen über das iranische Atomprogramm. Zwei Jahre später wurde ihm vorgeworfen, er habe geheime Informationen an Ausländer weitergegeben. Kurze Zeit war er deswegen sogar inhaftiert. Seit 2009 lebt Musavian in den USA. Er ist, wie auch sein Artikel im Boston Globe zeigt, alles andere als ein Sprachrohr der iranischen Führung, deren Positionen im Atomstreit er deutlich widerspricht.

Er gäbe also als Kronzeuge der Anklage gegen Iran ohnehin wenig her. Hinzu kommt aber, daß er das ihm Unterstellte eindeutig nicht geschrieben hat. In seinem Artikel behauptet er lediglich – übrigens ohne dies im mindesten zu erläutern oder gar zu belegen –, daß Iran schon im Jahre 2002 die »break-out capability«, wörtlich: Fähigkeit zum Ausbruch, erreicht habe (siehe Dokumentation der Textstelle auf dieser Seite).

Laut Wergin bezeichnet der englische Begriff »in der Expertensprache den Zeitpunkt, an dem ein Land grundsätzlich in der Lage ist, einen zündfähigen Nuklearsprengkopf zu bauen«, und phantasiert darauf aufbauend munter drauf los: »Iran wäre demnach schon vor neun Jahren an einen Punkt gekommen, von dem die amerikanischen Geheimdienste glauben, daß ihn Iran selbst heute noch nicht erlangt habe.«

Wergin nennt für seine ganz persönliche Textexegese, die ihn seiner Selbsteinschätzung nach schlauer macht als alle Geheimdienste dieser Welt, keinen einzigen Experten und würde wahrscheinlich auch keinen finden. Der bekannteste mehr oder weniger private Fachmann der USA für dieses Thema, David Albright, der das ISIS-Institut betreibt, definiert die »break-out capability« über zwei Faktoren: Erstens Besitz einer Menge von schwach angereichertem Uran (LEU), die so groß ist, daß sie in relativ kurzer Zeit zu der für eine Atombombe erforderlichen Menge an waffenfähigem, hochangereichertem Uran (HEU) weiterverarbeitet werden könnte. Zweitens Verfügung über das für diesen Prozeß erforderliche Know-how.

Phantasiebegabt

Zum Zeitpunkt, als er dies schrieb, im Dezember 2008, ging Albright davon aus, daß Iran die »break-out capability« noch nicht habe, aber bald erreichen werde. Im Jahre 2002, als Iran laut Musavian diese »Fähigkeit« bereits besaß, hatte es mit der Anreicherung von Uran noch nicht einmal begonnen. Diese startete erst im Februar 2007. Aus dem Kontext geht hervor, daß Musavian seine Bemerkung im Boston Globe nur auf das technische Know-how bezogen hat. Wergin hingegen sieht darin einen Beweis, daß Iran schon lange vor 2007 heimlich Uran angereichert haben müsse. »Spätestens seit 1998« behauptet er, wobei er sich fälschlich auf die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) beruft, die etwas in diese Richtung Gehendes jedoch zu keinem Zeitpunkt auch nur angedeutet hat.

Wergin hat auch einen »Nuklearexperten« zur Hand, der seine Verdächtigungen bestätigt: »Hans Rühle jedoch glaubt, daß Musavians Einschätzung zum Stand des iranischen Atomprogramms durchaus zutreffen könnte. »Ich bin nicht überrascht, daß sie so weit sind«, sagt Rühle, »sondern darüber, daß Musavian es uns nun so beiläufig mitteilt«.«

Das ist derselbe phantasiebegabte Rühle, der am 23. Oktober 2008 in der Süddeutschen Zeitung unter wahrheitswidriger Berufung auf den damaligen IAEA-Generaldirektor Mohammed ElBaradei behauptete, Iran könne schon zu Weihnachten eine Atombombe haben. Derselbe Rühle, der am 20. November 2009 die Leser der FAZ mit der Schreckensbotschaft alarmierte, es sei »nur noch eine Frage von Tagen«, bis der Iran im Besitz von nuklearen Gefechtsköpfen für seine Mittelstreckenraketen sein könnte.

Und es handelt sich schließlich auch um denselben Rühle, der am 28. März in der Welt im Stil klassischer antisemitischer Volksverhetzer verkündete, den Schiiten sei durch ihre Religion das Lügen und das Ablegen falscher Schwüre ausdrücklich erlaubt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. April 2012

Ahmadinedschad und die Sache mit der Landkarte

Von Knut Mellenthin **

Ein ständig wiederholter Vorwurf gegen Iran lautet, Präsident Mahmud Ahmadinedschad habe mit der »Auslöschung« des jüdischen Staates gedroht. Wörtlich soll er – in einer Rede am 26. Oktober 2005 – gesagt haben, Israel müsse »von der Landkarte gefegt werden«. Seit Jahren ist bewiesen und bekannt, daß diese Behauptung auf einer falschen Übersetzung gründet. Eine Reihe von Medien hat den Fehler öffentlich eingestanden und angekündigt, den falschen Text nicht mehr zu verwenden. Politiker und Journalisten, die sich zu diesem Thema äußern, können und sollten das wissen.

Der entscheidende Abschnitt der Rede von Ahmadinedschad begann mit der Frage: »Werden wir eine Welt ohne Amerika und Zionismus erleben können?« Er zählte dann eine Reihe von starken, scheinbar unbesiegbaren Gegnern auf, deren Ende von Ajatollah Khomeini, dem Führer der »islamischen Revolution« von 1979, vorausgesagt worden sei. Die Aufzählung begann mit dem Schah-Regime. An zweiter Stelle folgte »der östliche Imperialismus«, d. h. die Sowjetunion und ihr Machtbereich. An dritter Stelle stand Saddam Hussein, der Herrscher Iraks. An vierter Stelle folgte das auf Israel bezogene Zitat, dessen wirklicher Wortlaut lautete: »Der Imam (Khomeini) hat gesagt: ›Das Regime, das Quds (arabischer Name Jerusalems – d. A.) besetzt hält, wird von den Seiten der Geschichte verschwinden.‹«

Die innere Logik und der Zusammenhang der vier angeführten Beispiele lassen es nicht zu, an »Auslöschung« und »Vernichtung« im Sinn aggressiver Absichten Irans oder gar eines Genozids zu denken. Im wesentlichen geht es um politische Prozesse und um die Auf- und Ablösung herrschender Strukturen. Daß der iranische Präsident von einer »Welt ohne Amerika« sprach, unterstreicht diese Schlußfolgerung. Gemeint war damit sicher nicht die »Auslöschung« der US-Bevölkerung, sondern die Zerstörung des US-Imperialismus.

Es erregte andererseits beim politischen Mainstream keinen Protest, als der angesehene israelische Historiker Benny Morris, Professor an der israelischen Ben-Gurion-Universität, in der österreichischen Tageszeitung Standard am 12. Mai 2008 erklärte, »die letzte Chance« gegen Iran sei der Einsatz israelischer Atomwaffen. »Es reduziert sich auf die Frage, ob Israel zerstört wird oder der Iran zerstört wird. Und ich hoffe, die Israelis verstehen, daß es besser ist, den Iran zu zerstören, als selbst zerstört zu werden.«

Vielleicht war Morris, der übrigens auch die Vertreibung der arabischen Bevölkerung im Krieg von 1948/49 für gerechtfertigt und notwendig hält, zu dieser Vernichtungsphantasie von Hillary Clinton inspiriert worden. Die heutige US-Außenministerin bewarb sich damals um das Präsidentenamt. Am 22. April 2008 hatte sie verkündet, falls die Iraner »so töricht sein sollten, Israel anzugreifen«, würden die USA sie »total ausradieren« – wörtlich: »totally obliterate them«. Das verurteilte damals sogar ihr Parteifreund und Konkurrent Barack Obama als unangebrachtes »Säbelrasseln«.

** Aus: junge Welt, Samstag, 7. April 2012




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