Weder Krieg noch Nuklearmacht Iran
Replik auf Fischers Beitrag in der Financial Times Deutschland vom 30. November 2011
Von Mohssen Massarrat und Bahman Nirumand
In seinem Gastbeitrag „Die iranische Zeitbombe“ für die Financial Times vom 30.
November 2011 [Zitate daraus unten im Kasten] weist Joschka Fischer völlig zu Recht auf die Folgen eines
möglichen Krieges gegen den Iran hin. Nicht nur die Demokratiebewegung im
Iran selbst, sondern auch der „arabische Frühling“ wäre am Ende, schreibt Fischer. Überdies würde die gesamte Region in Gewalt und Terror zurückgestoßen und in eine Lage versetzt werden, die von niemanden mehr zu kontrollieren wäre. Fischer bezweifelt außerdem, ob das iranische Nuklearprogramm durch einen Krieg
überhaupt verhindert werden könnte. Vor diesem Hintergrund der
unvorhersehbaren Folgen eines solchen Krieges plädiert er für diplomatische
Lösungen, die trotz „äußerster Anstrengung gerade von Europa und Deutschland“
versucht werden sollten.
Fischers Sorgen und Warnungen sollten von jedem verantwortlichen Politiker
ernst genommen werden und ihn dazu verpflichten, nach Auswegen zu suchen,
die die herannahende Katastrophe verhindern könnten. Enttäuschend ist nur, dass
er selbst in seinem Artikel solche Überlegungen vermissen lässt. Im Gegenteil, in
seiner Bedrohungsanalyse konstruiert Fischer eine Sackgasse, die in letzter
Konsequenz einen Krieg gegen Iran als die einzig mögliche Alternative zu einer
Nuklearmacht Iran erscheinen lässt. Sein Appell, den Atomkonflikt auf
diplomatischem Weg zu lösen, verliert schon deshalb an Glaubwürdigkeit, weil er
in seinem Beitrag vorweg schickt, dass bisherige Verhandlungen allesamt in die
Sackgasse geführt hätten. Fischers Bedrohungsanalyse kann auf jeden Fall als
vorauseilende Rechtfertigung eines möglichen westlich-israelischen Krieges
gegen Iran verstanden oder aber missverstanden werden. Die von ihm
konstruierte Alternative „Krieg oder Nuklearmacht Iran“, die wie ein roter Faden
in seinem Text durchschimmert, lässt keinen anderen Schluss zu als dass er einen
Krieg gegen Iran für unvermeidlich hält.
Fischers folgenschwere Entscheidung zwischen Pest und Cholera, die er in den
Raum stellt, beruht darauf, dass er den umfassenden Sicherheitskonflikt im
Mittleren und Nahen Osten selektiv auf Irans Atomprogramm reduziert. Ohne
Zweifel würde das iranische Atomprogramm, sollte es tatsächlich zur nuklearen
Bewaffnung führen, große Gefahren für den Frieden in der Region bringen und
die bestehenden Konflikte erheblich verschärfen. Doch eine objektiv
konfliktanalytische Betrachtung würde sicherlich zu dem Ergebnis gelangen, dass
das iranische Atomprogramm nicht der einzige Grund, sondern ein Teil des
nuklearen Konflikts im Mittleren und Nahen Osten ist. Fischer klammert jedoch
willkürlich das israelische Atomarsenal und dessen Trägersysteme, einschließlich
der atomar umgerüsteten deutschen Delphin-U-Boote, für deren Lieferung er
übrigens selbst als ehemaliger Außenminister mitverantwortlich ist, völlig aus.
Als wären die über 200 israelischen Atombomben das Natürlichste von der Welt.
Offenbar hält Fischer Israels Monopol an Atombomben für so selbstverständlich,
dass er sie in seiner Analyse nicht einmal für erwähnenswert hält. Anscheinend
gehören Israels Atomwaffen für ihn zu jenem strategischen Status quo des
Westens , der zur Kontrolle der Energiereserven und Transportrouten am
Persischen Golf dazugehört. Denn seine Sorge ob eines nuklear bewaffneten Irans
gilt, wie er es besonders hervorhebt, vor allem der „massiven Veränderung der
strategischen Gleichgewichte im Mittleren und Nahen Osten“, die dadurch
entstehen könnte. Fischer scheint offensichtlich entgangen zu sein, dass die
Möglichkeiten der USA und des Westens, ihre strategischen Interessen im
Mittleren und Nahen Osten mit Gewalt durchzusetzen, schon längst ihre
materielle Basis verloren haben. Die neuen mächtigen Energiekonsumenten
China, Indien, Brasilien und andere Schwellenstaaten haben das alte hegemoniale
Ölpreisregime offensiv und heftig durcheinander gewirbelt. Die Ölpreise sind
inzwischen Knappheitspreise und werden es auch bleiben.
Vielleicht ist Fischer auch der Meinung, das Atomarsenal sei als Garant der
Existenz Israels notwendig. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum, dem offenbar auch
die israelische Staatsführung unterliegt. Israels Elite instrumentalisiert die
tatsächlichen Sicherheitsbedürfnisse der eigenen Bevölkerung, um
Besatzungspolitik und Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung und die
Nachbarstaaten fortzusetzen. Doch eine Strategie, die sich auf Atombomben,
Besatzung und Konfrontation stützt, dient in keinster Weise der Existenz Israels,
sondern sie gefährdet diese in höchstem Maße. Nur ihre Feinde können Israels
Bevölkerung eine Sicherheit, die auf Atombomben und Kriegspolitik beruht,
wünschen, jedoch nicht ihre Freunde. Die Sicherheit Israels wäre nur dann
dauerhaft gewährleistet, wenn Israel sich nicht als Fremdkörper oder Brückenkopf
des Westens, sondern als gleichberechtigter Staat in der Region einbetten, die
Rechte der Palästinenser gemäß den UN-Beschlüssen anerkennen und mit seinen
Nachbarn in Frieden leben würde.
Anstatt auf machtpolitischen Strategien und anachronistischen Vorstellungen zu
beharren und dem Gespenst „Krieg oder Nuklearmacht“ das Wort zu reden, sollte
Fischer Lösungen unterstützen, die den Frieden in der Region und die Rechte aller
Völker, einschließlich Israels und Palästinas, dauerhaft garantieren.
Ein Lösungsvorschlag, der diese Perspektive eröffnet, liegt bereits auf dem Tisch:
Die Bildung einer massenvernichtungswaffenfreie Zone für den Mittleren und
Nahen Osten. Es wäre ein unverzeihlicher Irrtum, diesen Vorschlag als
unrealistisch beiseite zu schieben. Immerhin hat die UN-Vertragskonferenz zur
Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen (NPT) in 2010 beschlossen,
ab 2012 mit einer Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im
Mittleren und Nahen Osten zu beginnen. Es ist höchst denkwürdig, dass Fischers
Partei Bündnis 90/Die Grünen sowie alle übrigen Parteien und Medien in
Deutschland sich über diese UN-Konferenz in Schweigen hüllen. Immerhin
würde diese Konferenz die Sackgasse der einseitig und selektiv an Iran
gerichteten und bisher gescheiterten Diplomatie überwinden und der Islamischen
Republik eine Plattform verschaffen, um offen über ein Ende des atomaren
Wettrüstens in der Region verhandeln zu können.
Die Befürchtung, ein Mittlerer und Naher Osten, der von Atomwaffen frei wäre,
würde die „strategischen Gewichte“ in der Region (sprich die Vorherrschaft des
Westens) ebenso verschieben wie eine Nuklearmacht Iran, ist wohl zutreffend.
Tatsächlich widersprechen auch beide Alternativen den tatsächlichen oder
vermeintlichen Interessen der transatlantischen Allianz. Im Unterschied zu der
Alternative „Nuklearmacht Iran“, die zum atomaren Wettrüsten und
möglicherweise zu Kriegen mit verheerendem Ausgang führen und dabei auch
Israels Existenz ernsthaft gefährden würde, ermöglicht die Lösung eines von
Massenvernichtungsmitteln freien Mittleren und Nahen Ostens einen dauerhaften
Frieden, Abrüstung und die Perspektive der gemeinsamen Sicherheit und
ökonomischen Kooperation.
Der Einwand, der Vorschlag Massenvernichtungswaffen freie Zone sei illusorisch,
weil er von Israel grundsätzlich abgelehnt werde, ist abwegig. Die israelische
Staatsführung lehnt den Vorschlag ab, weil sie sonst eine Politik verfolgen
müsste, die der gegenwärtigen völlig entgegengesetzt wäre. Auch im Iran gibt es
Kräfte, die ihr Dasein durch Chaos und Konflikte zu legitimieren versuchen.
Beide Regime, sowohl das in Israel als auch das im Iran, handeln zum eigenen
Machterhalt und gegen die Interessen ihrer Völker. Die Weltgemeinschaft darf
sich jedoch nicht von diesen Kräften abhalten lassen und sollte alles daran setzen,
um den UN-Vorschlag durchzusetzen. Um Israels Zustimmung zur Änderung
seiner Vorbehalte gegen das Konzept einer Atomwaffen freien Zone zu
erleichtern, könnte beispielsweise die Nato Israel die Mitgliedschaft und damit
ihren Schutz anbieten, der ganz sicher wirkungsvoller sein dürfte als die eigenen
Atomwaffen es je könnten.
Die israelische Staatsführung und die fundamentalistischen Kräfte, die sie
unterstützen, müssten endlich registrieren, dass die Ära der Besatzungspolitik und
ihres Monopols an Atomwaffen in der Region zu Ende geht und dass die
Fortsetzung der Besatzung fremder Territorien die große Gefahr des Untergangs
Israels in sich birgt. Und die radikalen und fundamentalistischen Kräfte im Iran
sollten ebenfalls zur Kenntnis nehmen, dass sie mit Verbalattacken und
Feindbildern letztendlich das eigene Land isolieren und in den Ruin treiben.
Die Perspektive für einen von atomaren, chemischen und bakteriologischen
Waffen freien Mittleren und Nahen Osten würde nicht nur die Lösung des
Atomkonflikts mit dem Iran ermöglichen, sondern auch die Lösung des Nahost-
Konflikts und vieler anderer ethnischer und religiöser Konflikte in der Region.
Sie würde den Fundamentalisten den Boden entziehen und der begonnen
Demokratisierung im Iran und dem arabischen Frühling erst richtig zur
Entfaltung verhelfen. Das Ziel einer Neugestaltung des Mittleren und Nahen
Ostens mit einer Politik der gemeinsamen Sicherheit und der ökonomischen
Kooperation ist genau der Weg, den Europa nach zwei Weltkriegen und ca. 30
Mio. Kriegsopfern und einer schrecklichen Zerstörung beschritten hat – es ist
keine Utopie, sondern ganz real. Es kommt nur darauf an, die Schritte dorthin,
hier und heute, auf die weltpolitische Agenda zu setzen.
15. Dezember 2011
Dokumentiert:
Zitate aus dem Artikel von J. Fischer: **
Der Iran verfolgt seit Jahren ein Atomprogramm plus den Bau von weitreichenden Trägersystemen, das nur einen Schluss zulässt: Das Land möchte militärische Nuklearmacht werden.
Ein Iran mit Nuklearwaffen oder auch nur eine politische Entscheidung davon entfernt würde die strategischen Gewichte im Nahen und Mittleren Osten massiv verschieben. Hinzu kommt, dass der Iran seit 1979 eine revolutionäre, gegen den Status quo in der Region zielende Außenpolitik betreibt, von der sich zahlreiche Nachbarn bedroht fühlen.
Die Verbindung dieser revolutionären Außenpolitik mit Nuklearwaffen und Raketen macht den Albtraum nicht nur Israels aus, das jedoch über Zweitschlagskapazitäten verfügt, sondern vor allem der nicht nuklearen arabischen Nachbarn am Persischen Golf und auch der Türkei.
Es ist also nur eine Frage der nicht mehr sehr langen Zeit, bis sich die Alternative stellt: Akzeptieren die Welt und die Region eine Nuklearmacht Iran, oder wird diese Gefahr vorher zum Krieg führen?
Das Jahr 2012 verspricht in der Causa Iran daher sehr kritisch zu werden. Die israelische Regierung sprach jüngst von neun Monaten, die noch verblieben, bis der Iran die nukleare Schwelle erreicht, und zudem finden Ende 2012 in den USA Wahlen statt. Der Iran könnte ein zentrales Thema werden. Darüber hinaus ist es nur sehr schwer vorstellbar, dass der israelische Ministerpräsident und seine Regierung tatenlos zuschauen, wie der Iran zur Nuklearmacht wird oder in die Nähe dessen kommt.
Man mag sich den Nahen Osten nach einer solchen Konfrontation besser nicht vorstellen. Der arabische Frühling wäre wohl zu Ende und würde durch eine massiv antiwestliche Solidaritätswelle mit dem Iran abgelöst werden. Die Region würde in Gewalt und Terror zurückgestoßen, statt sich weiter von unten her zu transformieren.
Krieg oder Nuklearmacht Iran? Oder eine durchaus realistische andere Variante: Krieg und dann Nuklearmacht Iran? Auf diese schlechten Alternativen scheint sich die Lage im Nahen Osten im kommenden Jahr zuzuspitzen ...
* Alle Zitate aus: Die iranische Zeitbombe. Gastkommentar von Joschka Fischer in: Financial Times Deutschland, 30.11.2011.
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