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"Wir sind der Auffassung, dass die Zeit jetzt gekommen ist, den Sicherheitsrat einzuschalten"

Die E3/EU-Erklärung zur iranischen Nuklearfrage vom 12. Januar im Wortlaut

Deutschland, Frankreich und Großbritannien sind federführend an den Verhandlungen zwischen der EU und Iran wegen dessen Atomprogramm beteiligt. Am 12. Januar 2006 hat diese EU-Troika eine neue Stufe der Eskalation beschritten, indem sie unmissverständlich erklärte, den UN-Sicherheitsrat einschalten zu wollen. Das Drehbuch, das hier vor den Augen der Weltöffentlichkeit ablkäuft, erinnert in fataler Weise an die Vorgeschichte zum Irakkrieg 2002/03. Es sind dieselben Vokabeln (z.B. "Verschleierungs- und Täuschungspolitik Irans") und dieselben Drohungen (Einschalten des Sicherheitsrats), die damals von den USA und Großbritannien - gegen den Willen der Mehrheit der EU-Staaten - und heute von den USA und der gesamten EU ausgesprochen werden. Möglich, dass schon bei der nächsten Sitzung der IAEO in Wien beschlossen wird, den Fall dem UN-Sicherheitsrat zu übergeben und damit - so ist zu befürchten - die Weichen endgültig auf Krieg zu stellen.
Eine Woche nach der Erklärung der EU-Troika stellte der französische Präsident Jacques Chirac am 19. Januar in einer viel beachteten Rede auf dem U-Boot-Stützpunkt L'Ile Longue bei Brest fest, dass er bereit sei, gegen Terrorstaaten notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Wörtlich sagte er:
"Die atomare Abschreckung ist nicht dazu bestimmt, fanatische Terroristen abzuschrecken. Doch die Führer von Staaten, die gegen uns auf terroristische Mittel zurückgreifen, sowie alle, die in der einen oder anderen Weise den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen, müssen verstehen, dass sie sich einer festen und angepassten Antwort unserer Seite aussetzen würden. Diese Antwort kann konventionell sein; sie kann auch anderer Natur sein." (dpa, 19.01.2006)
Auch wenn Chirac den Iran nicht beim Namen nennt, so ist die Drohung doch auch direkt gegen diesen "Schurkenstaat" gerichtet. Frankreichs Haltung unterscheidet sich in der Frage der Einsatzoptionen von Atomwaffen nicht von der Washingtons.
Im Folgenden dokumentieren wir die Erklärung der EU-Troika vom 12. Januar.



E3/EU-Erklärung zur iranischen Nuklearfrage

Berlin, 12. Januar 2006

Die E3/EU-Minister sind heute zusammengekommen, um über die Lage nach der Wiederaufnahme anreicherungsbezogerener Aktivitäten durch Iran am 9. Januar zu beraten.

Irans Nuklearaktivitäten sind für die internationale Gemeinschaft seit 2003 Anlass zu großer Sorge, als Iran gezwungen war, gegenüber der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zuzugeben, dass eine geheime Urananreicherungsanlage in Iran im Bau war, die zur Herstellung von Material für Kernwaffen genutzt werden könnte. Der Generaldirektor der IAEO stellte damals fest, dass Irans Verschleierungspolitik zu zahlreichen Verstößen gegen die Verpflichtungen aus seinem Sicherungsabkommen geführt habe. Nach IAEO-Bestimmungen hätte dies damals dem Sicherheitsrat gemeldet werden müssen.

Wir haben unsere diplomatische Initiative eingeleitet, weil wir Iran eine Gelegenheit geben wollten, internationalen Besorgnissen Rechnung zu tragen. Unser Ziel war es, Iran ein Mittel an die Hand zu geben, um Vertrauen im Hinblick darauf zu schaffen, dass sein Nuklearprogramm ausschließlich friedlichen Zwecken dient, sowie tragfähige Beziehungen zwischen Europa und Iran herzustellen.

Angesichts der nachweislichen Verschleierungs- und Täuschungspolitik Irans ist es unverändert von zentraler Bedeutung, dass Iran Vertrauen schafft. Es war Irans Zustimmung zur Aussetzung aller anreicherungsrelevanten und Wiederaufbereitungsaktivitäten für die Zeit der laufenden Verhandlungen, die uns die Zuversicht vermittelte, die Frage im IAEO-Rahmen lösen zu können, anstatt sie an den Sicherheitsrat zu verweisen. Wir wurden darin mit Nachdruck vom IAEO-Gouverneursrat unterstützt, der Iran wiederholt dringend aufforderte, diese Aktivitäten auszusetzen, und betonte, dass es von wesentlicher Bedeutung sei, diese Aussetzung in vollem Umfang aufrechtzuerhalten.

Im August letzten Jahres nahm Iran die Konversion von Uran in Isfahan unter Verstoß gegen die Resolutionen des IAEO-Gouverneursrats und die uns im Pariser Abkommen vom November 2004 gegebenen Zusicherungen wieder auf. Der IAEO-Gouverneursrat reagierte, indem er im September eine Resolution verabschiedete, in der förmlich festgestellt wurde, dass Iran gegen sein Sicherungsabkommen verstoße, und in der ferner erklärt wurde, dass die fortgesetzte Verschleierung von Irans Programm sowie die Art seiner Tätigkeiten Fragen aufwerfe, die in die Zuständigkeit des Sicherheitsrats fielen. Die IAEO hat seither noch weitere beunruhigende Fragen betreffend Irans Beziehungen zu dem AQ Khan-Netzwerk angesprochen, das Libyen und Nordkorea dabei geholfen hat, heimliche militärische Nuklearprogramme aufzubauen.

Dennoch hatten wir uns auf Bitten zahlreicher internationaler Partner und ungeachtet der durch das einseitige Handeln Irans verursachten erheblichen Rückschritte bereit erklärt, noch nicht an den Sicherheitsrat zu berichten und von uns aus einen weiteren Schritt zu tun, um eine Verhandlungslösung zu erreichen. Wir hatten am 21. Dezember 2005 in Wien eine Runde von Sondierungsgesprächen geführt, um festzustellen, ob wir uns auf eine Basis für die Wiederaufnahme von Verhandlungen einigen könnten. Wir hatten unmissverständlich klar gemacht, dass eine Wiederaufnahme von Verhandlungen nur möglich wäre, wenn Iran die Suspendierung seiner Nuklearaktivitäten nicht weiter untergraben würde.

Irans Entscheidung, die Anreicherung wieder aufzunehmen, ist eine klare Ablehnung des Prozesses, den die E3/EU und Iran seit über zwei Jahren mit Unterstützung der Völkergemeinschaft verfolgen. Darüber hinaus fordert diese Entscheidung ein weiteres Mal die Autorität der IAEO und der internationalen Gemeinschaft heraus. Wir haben daher beschlossen, den IAEO-Gouverneursrat davon in Kenntnis zu setzen, dass unsere Gespräche mit Iran in eine Sackgasse geraten sind.

Die Europäer haben in gutem Glauben verhandelt. Im August letzten Jahres hatten wir das weitreichendste Angebot zur Zusammenarbeit mit Europa auf politischem, sicherheitspolitischem und wirtschaftlichem Gebiet unterbreitet, das Iran seit der Revolution gemacht wurde. Dieses Angebot bekräftigte Irans Rechte aus dem NVV und beinhaltete eine Unterstützung Europas für ein ausschließlich zivil ausgerichtetes Nuklearprogramm in Iran sowie Vorschläge, die Iran eine international garantierte Versorgung mit Brennstoffen für sein Nuklearprogramm ermöglicht hätten.

Iran war jedoch in diesem Zusammenhang aufgefordert, auf besonders sensitive Aktivitäten so lange zu verzichten, bis das internationale Vertrauen wiederherstellt wäre. Ein solcher Schritt würde Irans Fähigkeit nicht beeinträchtigen, eine zivil ausgerichtete Nuklearindustrie aufzubauen,. Wir schlugen vor, diese Vereinbarung alle zehn Jahre zu überprüfen. Die iranische Regierung wies unseren Vorschlag in Bausch und Bogen zurück und damit auch alle Vorteile, die daraus erwachsen wären; auch hat sie keine Vorschläge von anderer Seite angenommen. Die iranische Regierung scheint jetzt entschlossen zu sein, einer Verbesserung der Beziehungen mit der Völkergemeinschaft eine Absage zu erteilen und so die Aussicht auf eine Erweiterung der wirtschaftlichen, technologischen und politischen Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft auszuschlagen, die Irans junger, talentierter und wachsender Bevölkerung so großen Nutzen bringen könnte.

Dies ist keine Auseinandersetzung zwischen Iran und Europa, sondern zwischen Iran und der gesamten Völkergemeinschaft. Es ist auch kein Streit über Irans Rechte aus dem NVV. Hier geht es um Irans Versäumnis, das erforderliche Vertrauen in die ausschließlich friedliche Natur seines Nuklearprogramms zu schaffen. Iran fordert unverändert die Autorität des IAEO-Gouverneursrats heraus, indem es dessen wiederholte Aufforderungen ignoriert und nur teilweise mit der IAEO zusammenarbeitet. Für die Glaubwürdigkeit des NVV und des internationalen Nichtverbreitungsregimes im Allgemeinen sowie für die Stabilität der Region ist es wichtig, dass die Völkergemeinschaft auf diese Herausforderung mit Festigkeit reagiert.

Wir bekennen uns auch weiterhin dazu, diese Frage diplomatisch zu lösen. Wir werden uns in den kommenden Tagen und Wochen mit unseren internationalen Partnern eng abstimmen. Wir sind der Auffassung, dass die Zeit jetzt gekommen ist, den Sicherheitsrat einzuschalten, um die Autorität der IAEO-Resolutionen zu stärken. Wir werden daher eine außerordentliche Tagung des IAEO-Gouverneursrats beantragen, damit dieser die hierzu erforderlichen Schritte ergreift.

Quelle: Website des Auswärtigen Amts; www.auswaertiges-amt.de (pdf-Datei)


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