"Wir brauchen Leute, die auspacken"
Einst steckte der Pentagon-Mitarbeiter Daniel Ellsberg der Presse Geheimdossiers über den Vietnamkrieg zu – nun warnt er vor einem Waffengang in Iran - Interview in DIE ZEIT
DIE ZEIT: Sie appellieren immer wieder an
hochrangige Regierungsbeamte, das zu tun, was
Sie 1971 als whistleblower getan haben: geheime
Regierungsdokumente an die Presse zu geben, um
Kriegspläne und Kriegslügen der Regierung
aufzudecken. Hätte ein whistleblower vor vier
Jahren den Irak-Krieg verhindern können?
DANIEL ELLSBERG: Ja, ich glaube schon. Wir
wissen inzwischen, dass es im Weißen Haus und
in den Ministerien einige Leute gab, die den
geplanten Waffengang im Irak von vornherein für
ein Desaster hielten. Aber niemand ging damit an
die Öffentlichkeit. Nehmen wir zum Beispiel
Richard Clarke (Richard Clarke war bis 2003
Berater von Präsident George W. Bush in Fragen
der Terrorabwehr, Anm. d. Red.). Der war Zeuge,
wie Donald Rumsfeld einen Tag nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001
forderte, den Irak zu bombardieren – obwohl
Saddam Hussein nach allen vorliegenden
Erkenntnissen nichts mit al-Qaida zu tun hatte.
Clarke und andere waren überzeugt davon, dass
ein Angriff auf den Irak den Terrorismus nicht
etwa schwächen, sondern stärken würde. Aber sie
hielten still. Natürlich hatten sie versucht,
innerhalb der Machtzirkel Einfluss zu nehmen –
aber eben ohne Erfolg. Hätte Clarke seine
Erkenntnisse 2002 zusammen mit den ihm
vorliegenden Dokumenten und Memos an die
Medien und den Kongress weitergegeben und
nicht erst 2004 in seinen Memoiren enthüllt, wäre
es womöglich nicht zum Irak-Krieg gekommen.
ZEIT: Die Republikaner haben bei den
Kongresswahlen im November gerade wegen der
Irak-Politik Ihres Präsidenten eine Niederlage
einstecken und die Mehrheit im Kongress an die
Demokraten abgeben müssen. Halten Sie unter
diesen neuen Vorzeichen weiterhin einen
amerikanischen Militärschlag gegen Iran für
denkbar?
ELLSBERG: Absolut. Die Pläne für einen
konventionellen wie auch nuklearen Angriff gibt
es, und sie können jederzeit umgesetzt werden.
Das wissen wir unter anderem durch die Berichte
von Seymour Hersh und Philip Giraldi. (Seymour
Hersh, investigativer Reporter des Magazins The
New Yorker, berichtete zuletzt im April 2006
über die Angriffspläne des Weißen Hauses gegen
Iran; Philip Giraldi, Exmitarbeiter der CIA,
schrieb im August 2005 in The American
Conservative über konventionelle und nukleare
Angriffspläne, die das Pentagon auf Anweisung
von Vizepräsident Dick Cheney angefertigt habe,
Anm. d. Red.)
Die Wahlniederlage der Republikaner hat die
Wahrscheinlichkeit eines Angriffs nicht
vermindert, ebenso wenig der Rücktritt von
Donald Rumsfeld. Und was den Kongress
betrifft: Die meisten Demokraten sind nicht gegen
einen Luftangriff auf Iran.
Dieser überparteiliche Konsens hat natürlich auch
mit Israel zu tun. Israels gesamtes
Atomprogramm war meines Erachtens immer
auch als Druckmittel gegenüber den USA
konzipiert: »Seht her, was wir tun können, wenn
ihr uns im Stich lasst.« Deswegen glaube ich auch
nicht, dass Israels Premierminister Olmert ein
Versehen unterlaufen ist, als er sein Land nun
erstmals öffentlich in die Gruppe der
Atommächte einreihte. Dahinter steckt eine
Nachricht an Washington: »Wenn ihr gegenüber
Iran nicht hart bleibt und dessen Atomanlagen
nicht angreift, dann werden wir es tun – und zwar
mit Nuklearwaffen. Also schickt besser eure
Langstreckenbomber.« Wobei es, wie gesagt,
Pläne sowohl für einen konventionellen wie
nuklearen Angriff gibt. Laut Seymour Hersh ist
die nukleare Option aufgrund des Protestes der
Generäle vom Tisch. Fürs Erste, würde ich sagen.
ZEIT: Sie hoffen auf einen whistleblower?
ELLSBERG: Ja, aber einen oder mehrere, die
rechtzeitig, also vor Kriegsbeginn, an die
Öffentlichkeit gehen – und nicht wie Richard
Clarke oder ich ein paar Jahre danach, als wir
schon nicht mehr dem Regierungsapparat
angehörten. Anders als im Fall von Vietnam und
Irak wissen wir jetzt schon, dass viele
Regierungsbeamte und Militärs die Angriffspläne
gegen Iran für katastrophal halten. Deswegen gibt
es ja so viele anonyme Quellen für die Presse.
Aber das ist nicht genug: Einer oder mehrere
dieser Kritiker müssen die Pentagon Papers des
Mittleren Ostens – die geheimen Dokumente, die
Memos über interne Debatten, die
Opferkalkulationen, die Argumente der
Befürworter und Gegner – öffentlich machen,
auch wenn sie damit das Ende ihrer Karriere und
womöglich eine Gefängnisstrafe riskieren.
ZEIT: Und wenn das nichts nützt?
ELLSBERG: Ich hoffe ja nicht nur auf einen
whistleblower. Ich hoffe auch auf eine
wachsamere Debatte in Europa, auch in
Deutschland. Den USA muss im Vorfeld klar
gemacht werden, dass ein Luftangriff gegen Iran
schwere Konsequenzen für das westliche
Militärbündnis haben würde – zum Beispiel den
Austritt Deutschlands und anderer europäischer
Nationen aus der Nato.
ZEIT: Klingt nicht sehr realistisch…
ELLSBERG: Mag sein. Aber sowohl die
deutsche Regierung als auch die deutsche
Zivilgesellschaft sollten sich schleunigst
Gedanken darüber machen, wie sie sich in einem
Angriffsfall verhalten würden – und wie sie
dieses Verhalten rechtzeitig der US-Regierung
klar machen.
ZEIT: Es bleibt das Problem, dass Iran in
absehbarer Zeit Atomwaffen haben wird und
derzeit einen Präsidenten hat, der Israel von der
Landkarte radieren will…
ELLSBERG: Dass Ahmadineschads Äußerungen
schlimm sind, steht außer Zweifel. Aber letztlich
bestimmt nicht er die Politik Irans, sondern die
Ajatollahs. Jedenfalls sehe ich für die
Behauptung, dass Iran alles daransetze,
Atomwaffen zu entwickeln, derzeit keine
Grundlage. Richtig ist, dass sich Iran die Option
auf die Entwicklung von Atomwaffen schaffen
möchte, falls er aus dem Atomwaffensperrvertrag
austritt. Darauf kann man mit verschärften
Sanktionen und der Drohung eines Angriffs
reagieren, darf sich dann aber nicht wundern,
wenn Iran tatsächlich aus dem
Atomwaffensperrvertrag austritt. Oder man
akzeptiert, dass Iran diese Option auf
Nuklearwaffen behält, errichtet ein hartes
Kontroll- und Inspektionssystem – härter, als die
bisherigen Standards und Protokolle es vorsehen
– und bietet dafür Wiederaufnahme der
diplomatischen Beziehungen, Aufhebung der
bestehenden Sanktionen und eine Abkehr von der
Strategie des Regimewechsels.
ZEIT: Sie befürworten einen Abzug
amerikanischer Truppen aus dem Irak. Wäre das
zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnvoll?
ELLSBERG: Präsident Bush hat uns in eine
Situation hineinmanövriert, in der ein Abzug
tatsächlich unmöglich sein könnte. Man kann
durchaus argumentieren, dass ein Rückzug der
US-Truppen die Lage im Irak weiter
verschlimmern würde. Ich persönlich bin von
diesen Argumenten nicht überzeugt, aber ich halte
sie für gewichtig. Ich selbst befürworte nicht
einfach nur einen Truppenabzug. Die USA
können sich nicht einfach aus dem Irak
zurückziehen, wie sie sich 1975 aus Vietnam
zurückgezogen haben. Natürlich muss man das
tun, was die Baker-Kommission vorgeschlagen
hat. Direkte Verhandlungen mit Iran und Syrien,
ja, mit allen Nachbarn des Iraks, mit dem einen
Ziel: Wie verhindert man nach Ende der
amerikanischen Besatzung einen Bürgerkrieg im
Irak und einen Krieg in der Region? Die Gefahr,
dass nach einem Abzug der USA zum Beispiel
Saudi-Arabien massiv aufseiten der Sunniten
eingreift, ist ja sehr real. Bloß unternimmt
Präsident Bush keinerlei Anstrengungen in diese
Richtung.
Das Gespräch führte Andrea Böhm
Daniel Ellsberg
Für seine Zivilcourage und sein
andauerndes Engagement gegen atomare Rüstung
wurde Daniel Ellsberg, 75, dieses Jahr mit dem
alternativen Nobelpreis, dem Right Livelihood
Award, ausgezeichnet. Daniel Ellsberg war
während des Vietnamkriegs hochrangiger
Mitarbeiter des Pentagon. Als der selbst erklärte
Falke zur Überzeugung kam, dass der Krieg
völkerrechtswidrig war, lancierte er 1971
geheime Dokumente, die Pentagon Papers, an die
Presse und trug damit maßgeblich zu einem
Stimmungswandel in der amerikanischen
Öffentlichkeit bei. Ein Prozess gegen Ellsberg
wegen Spionage wurde 1973 eingestellt. Ellsberg
wirft sich heute vor, um Jahre zu spät gehandelt
zu haben.
* Aus: DIE ZEIT Nr. 52 vom 20. Dezember 2006;
mit freundlicher Genehmigung der ZEIT.
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