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Streitfrage: Bringt die iranische "Reformbewegung" die politische Wende?

Es debattieren: Prof. Dr. Werner Ruf und Dr. Behrouz Khosrozadeh

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Beiträge zur Lage im Iran, die in der Freitagsausgabe des "Neuen Deutschland" unter der Rubrik "Debatte" veröffentlicht wurden.



Kein Kurswechsel im Rentenstaat Iran

Von Werner Ruf *

Sinnvollerweise wurde bei der Vorgabe dieses Themas der Begriff »Reformbewegung« in Anführungszeichen gesetzt. Das ist gut so! Denn: Wer weiß, ob Mir Hussein Mussawi ein Reformer ist oder sein darf? Was heißt überhaupt »Reform« in der Islamischen Republik? Wofür gehen Hunderttausende auf die Straße? In Iran gibt es weder politische Parteien noch die Möglichkeit freier Kandidaturen: Sämtliche Bewerber werden vom Wächterrat, einem Teil des Machtapparats geprüft, vielen wurde schon im Vorfeld die Kandidatur versagt. Also darf nur ein sehr enges Spektrum von als systemkonform geltenden Kandidaten überhaupt antreten. Die beiden Amtsperioden des ebenfalls als »Reformer« gefeierten Präsidenten Mohammad Khatami haben gezeigt, dass - selbst wenn ein »Reformwille« bestand - die Handlungsspielräume des Präsidenten äußerst eng sind. Wer also auch immer die Symbolfigur im Präsidentenamt sein mag: Entscheidende Kurswechsel sind weder in der Innen- noch in der Außenpolitik zu erwarten.

Jedoch haben die massiven Proteste der vergangenen Tage gezeigt, dass das System der Mullahs in seiner bisherigen Form die Legitimität verloren hat - vielleicht nicht auf dem Lande, aber mit Sicherheit in den großen Städten, bei den Intellektuellen, der Mittelschicht, den Jugendlichen, die mehr Freiheiten, vor allem aber auch berufliche Perspektiven fordern. Dies erklärt auch die Teilnahme so vieler junger Frauen an den Demonstrationen: Immerhin sind 60 Prozent der Studierenden in Iran weiblich! Dennoch wäre es falsch, wie dies der Tenor der westlichen Medien ist, die Proteste als eine Bewegung für einen radikalen Systemwechsel zu deuten: Dafür steht weder der zum Freiheitshelden hochstilisierte Mussawi, noch dürfte die übergroße Mehrheit der Protestierenden für einen konsequent säkularen Staat demonstrieren.

Der verengte Blick auf die Proteste gegen eine neue Amtszeit von Mahmoud Ahmadinedschad, ganz gleich ob er nun eine Mehrheit der Stimmen erhalten hat oder nicht, übersieht die materiellen Gründe für die Krise des Systems: Iran ist ein Rentenstaat. Die Einkünfte aus dem Öl- und Gasexport versickern in den Taschen des kleinen Klüngels der Herrschenden, die sich damit ein Vermögen aus Geldbesitz und Beteiligungen geschaffen haben. Der Westen spricht hier von grassierender Korruption. Die patrimonialen Systeme des Orients funktionieren jedoch auf klientelistischer Basis. Das heißt: Das System basiert auf der Loyalität der großen Familien, ja ganzer Regionen. Es wird durch Protektionismus und Netze von großen und kleinen Privilegien wie z. B. der Vergabe von Posten zusammen gehalten.

Der jüngste Einbruch des Ölpreises hat die Verteilungsmasse reduziert und die Rivalitäten zwischen den Clans verschärft, die Unzufriedenheit der Massen ist gestiegen, gerade weil Ahmadinedschad versprochen hatte, dass die Renteneinkünfte »auf dem Tisch der Armen ankommen« würden. Diese Situation erklärt einerseits den Zusammenhalt der führenden Figuren und ihrer Familien, anderseits resultiert daraus die wachsende Rivalität zwischen den Clans um den Anteil an der sinkenden Verteilungsmasse. Die Loyalität und Parteilichkeit der Angehörigen des Wächterrats oder der Schlägertrupps der Basidschi erklärt sich aus diesen Strukturen, die labil werden können, wenn ihre Alimentierung nicht mehr gewährleistet ist.

Hier dürfte der zentrale Grund für die Krise zu suchen sein: Der Islam, auf den das Regime sich zu seiner Legitimation beruft, ist eine zutiefst soziale Religion. Die horrende Bereicherung einiger Weniger, die ökonomische Stagnation, der Verfall der Förderanlagen und Pipelines, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die Arbeitslosigkeit sind die wahren Triebkräfte des Protests. Sie erklären, warum die niederen Teile des Klerus begonnen haben, mit dem Protest zu sympathisieren. Von daher würde ein Sturz Ahmadinedschads keineswegs das Ende der Islamischen Republik bedeuten, sondern bestenfalls die teilweise Zerstörung ihrer parallelen autoritären Strukturen, was durchaus einhergehen kann mit einer (vorläufig?) sozialeren und ein wenig demokratischeren Organisation der Macht - bis denn dann neue klientelistische Strukturen sich gefestigt haben.

Gefragt werden muss, warum diese Wahl in den westlichen Medien solche Aufmerksamkeit findet. Ohnehin war Ahmadinedschad wegen seiner rhetorischen Ausfälle schon vor diesen Ereignissen nach Obama im Westen wohl das zweitbestbekannte Staatsoberhaupt, wurde er doch in unseren Medien dämonisiert wie kaum eine andere Figur - und dies trotz seiner auch unseren Regierungen bekannten, beschränkten Entscheidungskompetenz. Da verwundert es auf den ersten Blick, weshalb die wichtigsten EU-Regierungschefs, allen voran Frau Merkel, sich in ihrer Kritik am Verhalten des Regimes in Iran so weit aus dem Fenster lehnen: Sie müssten wissen, dass in diesem Land die Einmischungen von außen noch immer Teil des kollektiven Gedächtnisses sind, wie insbesondere der von den USA initiierte Putsch gegen den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadeq und die folgende Re-Inthronisation des Schah, des wichtigsten Statthalters des Westens im Mittleren Osten.

In fataler Weise korreliert die Haltung der Europäer mit der von Henry Kissinger vor wenigen Tagen in einem Interview geäußerten Meinung, dass die jetzige Situation die Möglichkeit eines »regimechange« eröffnen könnte. Nichts dürfte Ahmadinedschad und den hinter ihm stehenden Clans nützlicher sein als solche Einmischung. Sie stabilisiert ein Regime, das die Iraner wenn nicht beseitigen, so doch demokratisieren wollen. So aber wird Iran in der Rolle des internationalen Bösewichts festgenagelt, für dessen Beseitigung alle Mittel recht sind, einschließlich des Einsatzes militärischer Gewalt, wie dies schon immer von den Neo-Cons der USA und den rechten Hardlinern in Israels Regierung gefordert wird. Wahrlich, ein großartiger Beitrag zur Untergrabung der Legitimität des Protests der iranischen Bevölkerung und zur Steigerung der Kriegsgefahr im Mittleren Osten!

* Prof. Dr. Werner Ruf, Jahrgang 1937, war von 1974 bis 1982 Professor für Soziologie an der Universität Gesamthochschule Essen und anschließend bis 2003 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Nordafrika und der Nahe Osten, die Friedens- und Konfliktforschung, das System der Vereinten Nationen sowie der Politische Islam.


Tiefe Legitimationskrise der Islamischen Republik

Von Behrouz Khosrozadeh **

Die Islamische Republik hat nach der totalen Machtübernahme des schiitischen Klerus (1981) bisher etliche schwere innere und äußere Krisen überstanden, so den achtjährigen Krieg gegen den Irak. Die heutige Krise ist jedoch völlig anderer Natur.

Diesmal hat der Religionsführer Ayatollah Ali Khamenei nicht ein paar Studentenführer vor sich. Das Wahlergebnis wird vom ehemaligen präsumtiven Khomeini-Nachfolger, zwei Ex-Präsidenten, einem Ex-Premier, zwei Ex-Parlamentpräsidenten, zwei ehemaligen Generalstaatsanwälten und einem Ex-Kommandeur der Revolutionswächter angefochten. Viele Indizien deuten darauf hin, dass Mir Hussein Mousawi die Wahl deutlich gewonnen hat. Die miserable Bilanz der Regierung Ahmadinedschads, die nun nach dem offiziellem Wahlergebnis sogar knapp acht Millionen mehr Stimmen bekommen haben soll als 2005 in der Stichwahl, und die Wahlprogramme der beiden Reformkandidaten sind verantwortlich für die Popularität der Reformbewegung.

Von etwa 73 Millionen Einwohnern Irans sind 70 Prozent unter 30 Jahre alt, von den 46,2 Millionen Wahlberechtigten 46 Prozent. Niemand im Iran kann bei einer halbwegs freien Wahl ohne die Unterstützung der Jugend Präsident werden. Ein Blick auf die Programme der beiden Reformkandidaten zeigt, warum sie zu Recht von vielen Iranern für jene Politiker gehalten werden, die die politische Wende tatsächlich herbeiführen könnten.

Die Inhalte sind für die Geschichte der Islamischen Republik sensationell. Mousavi und Mehdi Karubi haben sich ganz konkreten Fragen zugewandt. Die Sittenpolizei soll aus dem Verkehr gezogen werden. Mit der Forderung nach freiem Informationsfluss durch Lockerung der Pressezensur und Genehmigung privater Funk- und Fernsehkanäle stecken sie ihren Finger in eine Wunde. Denn der beste Freund der grassierenden Korruption ist die mangelnde Informationsfreiheit. Durch Verfassungsänderung soll die Macht der nicht gewählten Instanzen beschnitten werden. Damit nehmen beide als strategisches Ziel die uneingeschränkte Macht des Wächterrates, der Parlamentsbeschlüsse beliebig annullieren und Kandidaten bei Wahlen nach eigenem Ermessen ausschließen kann, ins Visier. Karubi thematisierte sogar die Bürgerrechte der Anhänger der Bahai-Religion, bisher ein absolutes Tabu.

Nur vor diesem Hintergrund kann der Wahlbetrug begriffen werden. Zugleich ist dies ein Beweis für die Unhaltbarkeit der Meinungen hiesiger Experten, die behaupten, Mousawi und Karubi seien Männer des Systems und keine wahren Reformer. Das System der Velayat-e Faqih (Herrschaft des Rechtsgelehrten) hat mit der Popularität und politischen Genialität Mousawis nicht gerechnet. Daher konnte er den Wächterrat passieren. Was kann ein Ex-Premier, ein Ingenieur, der 20 Jahre lang in politische Abstinenz versunken war, ausrichten?

Der Ingenieur, der für Iraner, die nach der Revolution auf die Welt gekommen sind, ein Unbekannter war, ist heute der beliebteste und mutigste Politiker des Landes. Karubi und Mousawi haben zu einer Generationenversöhnung beigetragen. Die auf die alte Revolutionsgeneration zornige junge Generation hat nun dieser die Gesamtführung der Proteste anvertraut. Mousawi ist in eine Rolle geschlüpft, die er weder vorausahnte noch wollte. Er wächst in der engen Beziehung zur Schar seiner Anhänger aus sich heraus.

Schafft die Protestbewegung die Wende? Einiges spricht eher für ein iranisches Tiananmen. Wenn die gefürchteten Sepah-e Pasdaran (Revolutionswächter) hart eingreifen, wird es für die Reformbewegung sehr schwer. Mousawi und Karibi drohen lange Haftstrafen oder schlimmeres. Sie werden vielleicht deshalb nicht nachgeben. Religionsführer Khamenei hat sehr viel Kredit auch bei der bisher schweigenden hohen Geistlichkeit verloren. Er kann sich nur noch auf nackte Gewalt und eine im In- und Ausland total diskreditierte Regierung stützen. Sichtlich auffällig hält sich der gewiefte Akbar Haschemi Rafsandschani zurück. Laut kursierten Meldungen beraten die beiden Ex-Präsidenten Rafsandschani und Khatami mit den führenden Geistlichen, auch aus dem Expertenrat, um die Weichen für die Abwahl von Khamenei zu stellen. Die Hoffnung auf eine Abwahl Khameneis durch den Expertenrat darf nicht überschätzt werden. Das Organ, bestehend aus greisen Geistlichen, kennt nicht die geringste Tradition der Kritik am Religionsführer, von Abwahldebatte ganz zu schweigen. Er hat sich bisher als Papiertiger erwiesen. Hinzu kommt, dass sich Sepah und die mächtige zivile Bande um Khamenei nicht von ein paar greisen Geistlichen überrumpeln lassen werden. Zuviel steht für sie auf dem Spiel und zuviel haben diese Banden, die seit Ahmadinedschads Amtsantritt zuvor unvorstellbare politische und ökonomische Privilegien erlangt haben, zu verlieren.

Welches Szenario auch immer eintritt, die Islamische Republik wird nie mehr das sein, was sie vor dem 12. Juni war. Die Legitimation des Regimes hat ihren Tiefpunkt erreicht. Die Bewegung vom 12. Juni hat einige faszinierende Spezifika. Schweigen statt Gewalt, grüne Bänder und Siegeszeichen sind ihre Gestik. Gegen ein Regime, das den Willen und das Potential zu einem Gemetzel hat, schafft Gewaltanwendung nur einen Vorwand zum Blutvergießen. Die »grüne, schweigende Erhebung« braucht dringend eine geschlossene, unnachgiebige Führung mit der Weisheit, ihre Forderungen im Rahmen der gegebenen Verhältnisse zu verwirklichen.

Die Annullierung der Wahl ist die beste Forderung. Die Oppositionsführung kann nicht des Staatsstreiches bezichtigt werden. Eine Verhaftung Mousavis und Karubis würde die Erfolgschancen der grünen Bewegung immens reduzieren. Kommt es zur Neuwahl, ist Mousavis Sieg sicher. Khamenei wird dann mit einem starken Präsidenten konfrontiert sein. Zumindest wird Mousawi mehr Spielraum für Durchsetzung seiner Wahlversprechungen als seinerzeit Khatami haben. Der Eintritt dieses Szenarios grenzt aber an Wunschdenken.

** Dr. Behrouz Khosrozadeh, 1959 in Buschehr (Iran) geboren, arbeitet als Politologe und Publizist. 2003 promovierte er an der Georg-August-Universität Göttingen, wo er vom 2004 bis 2006 als Lehrbeauftragter tätig war. 2003 veröffentlichte Khosrozadeh seine Dissertation »Demokratie und Zivilgesellschaft in Okzident und Orient«, 2007 erschien sein Buch »Die Ayatollahs und der Große Satan. Iran - USA«.

Beide Beiträge auf dieser Seite aus: Neues Deutschland, 26. Juni 2009


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