Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

(Un-)Sicherheitsfaktor Atombombe

Eine Analyse der Krise um das iranische Nuklearprogramm

Von ANDREAS BOCK *


Zusammenfassende Thesen:
  • Iran ist ein rationaler Akteur der internationalen Politik, der seine sicherheitspolitischen Entscheidungen auf Grundlage der wahrgenommenen Bedrohungssituation trifft.
  • Iran befindet sich, dem Staate Israel durchaus vergleichbar, in einer prekären Sicherheitslage; aus der Perspektive Teherans ist es daher durchaus rational, am Atomprogramm als Mittel der Abschreckung und damit der Selbstverteidigung festzuhalten.
  • Die Lösung der Iran-Krise hängt wesentlich davon ab, ob und inwieweit es gelingen wird, die Bedrohungswahrnehmung auf Seiten Irans zu verändern; den USA kommt hier eine Schlüsselfunktion zu.
  • Ein Militärschlag gegen die iranischen Nuklearanlagen wäre kontraproduktiv; er würde das Atomprogramm lediglich verlangsamen, aber nicht dauerhaft verhindern. Tatsächlich würde ein Angriff in Teheran die Überzeugung stärken, dass eine iranische Atombombe als Mittel der Abschreckung und Selbstverteidigung notwendig ist.
  • Für die Betrachtung der Iran-Krise ist die Wahrnehmung von Sicherheit und Unsicherheit zentral. In der folgenden Analyse wird die Kuba-Krise als Blaupause verwendet, denn auch hier waren Fehlwahrnehmungen für die Eskalation verantwortlich. Bei näherer Betrachtung lassen sich wesentliche Parallelen zwischen der Krise um das iranische Atomprogramm und der Kuba-Krise feststellen.


Hoping for the best, but expecting the worst
Are you gonna drop the bomb or not?

Alphaville

1. Krieg am Persischen Golf?

»Ich behalte mir alle Mittel vor. [...] Ich betreibe keine Eindämmungspolitik. Ich betreibe eine Politik der Prävention. Und ich meine es auch so.« (Klüver / Münch 2012) – US-Präsident Barack Obama hat bei einem Treffen mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Anfang März die bislang schärfste Warnung an das Regime in Teheran ausgesprochen: Wenn Iran an seiner Entscheidung festhalte, ein eigenes Atomwaffenprogramm zu entwickeln, werden die USA handeln. Nur wenige Tage vor dem Treffen mit Netanjahu hatte Obama in einem Interview mit dem Atlantic seine Entschlossenheit betont, auch eine militärische Option zu wählen: »As President of the United States, I don’t bluff.« (Goldberg 2012) Beunruhigend an dieser Entwicklung ist, dass sich Obama im beginnenden US-Präsidentschaftswahlkampf de facto die Rhetorik Netanjahus zu Eigen gemacht hat, der offen einen Militärschlag gegen die iranischen Atomanlagen favorisiert (Spiegel Online 2012). Der Streit um das iranische Atomwaffenprogramm hat damit eine neue – und vielleicht die letzte – Stufe der Eskalation erreicht. Ein Militärschlag gegen Iran muss jetzt als durchaus wahrscheinlich eingeschätzt werden.

Die Krise um das iranische Atomprogramm ist symptomatisch für eine widersprüchliche Sicherheitspolitik – die eigentlich mehr Sicherheit schaffen will, aber das genaue Gegenteil erreicht. Aber warum? Das Problem ist, dass Maßnahmen, die ein Staat ergreift um seine Sicherheit zu erhöhen, von einem anderen Staat als Bedrohung der eigenen Sicherheit wahrgenommen werden und entsprechende Gegenmaßnahmen auslösen, die nur wieder die Unsicherheit des anderen Staates erhöhen. In der Politikwissenschaft spricht man von einem Sicherheitsdilemma.

Die Iran-Krise ist ein solches Sicherheitsdilemma. Iran fühlt sich seit längerem bedroht, vielleicht sogar in seiner Existenz gefährdet. Das Streben Teherans nach einem funktionierenden Atomwaffenprogramm ist darum lediglich eine Reaktion auf dieses Gefühl der Bedrohung. Die Lösung der Krise hängt folglich davon ab, inwieweit es gelingen wird, die Bedrohungswahrnehmung auf Seiten Irans zu verändern. Da die (Fehl-)Wahrnehmung von Sicherheit und Unsicherheit der Schlüssel zum Verständnis der Iran-Krise ist, bildet die Kuba-Krise die geeignete Blaupause zur Analyse der Iran-Krise.

Der Fokus auf diese Wahrnehmung bedeutet, dass es im Folgenden nicht um die Frage der Legitimität oder Illegitimität politischer Handlungen geht, sondern ausschließlich um die Frage, wie diese Handlungen vom Iran und von dessen Umwelt (den USA oder Israel) wahrgenommen werden – und welche sicherheitspolitischen Folgen diese Wahrnehmungen haben.

2. Teherans Sehnsucht nach der Atombombe

Warum will Iran überhaupt die Fähigkeit erwerben, nukleare Massenvernichtungswaffen herstellen zu können? Eine berechtigte Frage, denn an der Paradoxie von Nuklearwaffen hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges nichts geändert: Man besitzt sie, um sie nicht einsetzen zu müssen. Das Konzept der Mutual Assured Destruction (MAD), durch das sich beide Supermächte während des Kalten Krieges die gesicherte Zweitschlagskapazität zubilligten, ist höchster Ausdruck der nuklearen Abschreckungs- und Nicht-Einsatz-Doktrin: Selbst ein erfolgreicher nuklearer Erstschlag könnte einen nuklearen Gegenschlag nicht verhindern. Mit wechselseitig verheerenden Folgen. Der nukleare Ersteinsatz wäre für Iran heute ebenso selbstzerstörerisch, wie er es während des Kalten Krieges für die UdSSR oder die USA war. Teheran müsste mit einem massiven nuklearen wie konventionellen Gegenschlag sowohl Israels wie auch der USA rechnen. Der nukleare Erstschlag wäre aus Sicht Irans höchst irrational und ist folglich als höchst unwahrscheinlich einzuschätzen (Pedatzur 2007: 535).

Dennoch geht man gerade in Israel davon aus, dass die nukleare Bewaffnung Irans eine existenzielle Bedrohung darstellt. Tel Aviv nimmt die potenziellen iranischen Atomwaffen bereits heute als Offensivwaffen wahr und unterstellt Iran eine ebensolche offensive Absicht: »Ein Iran mit Atombomben ist eine Gefahr für den Nahen Osten und die ganze Welt. Und stellt natürlich auch für uns eine schwere, direkte Bedrohung dar«, warnte Israels Premier Benjamin Netanjahu zuletzt Anfang November in der Knesset. Israels Verteidigungsdoktrin hat Netanjahu dort unmissverständlich zusammengefasst: »Wenn jemand dich umbringen will, töte ihn zuerst« (Yaron 2011). Aus der Sicht eines rationalen Akteurs macht das Festhalten am Atomwaffenprogramm daher wenig Sinn.

Nun könnte man unterstellen, dass Iran ein irrationaler Akteur ist. Und damit würde das iranische Streben nach der Atombombe, so unsinnig es erscheint, wieder Sinn ergeben. Tatsächlich aber verhält sich Iran als nüchtern kalkulierender, rationaler Akteur: »Iran behaves as a logical actor – even in Iranian terms – that considers the risks and costs incurred by its actions and is not guided by ideological-religious considerations alone […]« (Kam 2007: 9). Damit ähnelt diese Situation der Entscheidung Chruschtschows, Atomraketen insgeheim auf Kuba zu stationieren. Aus heutiger Sicht erscheint dieser Schritt irrational und höchst riskant: Wie nur konnte Chruschtschow glauben, die USA würden Atomraketen, die problemlos Washington erreichen könnten, im eigenen Hinterhof dulden?

Um zu verstehen, warum Chruschtschow an der Stationierung der Raketen auf Kuba festhielt, obwohl dies doch offensichtlich irrational war, muss man zu verstehen versuchen, mit welchem Ziel er überhaupt Raketen dort stationieren wollte. Analoges gilt für das Festhalten Irans am Atomprogramm trotz des massiven, seit Jahren anhaltenden internationalen Drucks. Auch hier muss man zu verstehen versuchen, warum sich Teheran offensichtlich für die Wiederaufnahme des Nuklearprogramms und seiner militärischen Fortentwicklung entschieden hat.

2.1 Die Bombe aus der Perspektive Moskaus

Für Chruschtschows Entscheidung, Atomraketen auf Kuba zu stationieren, lassen sich drei Hauptgründe identifizieren: Erstens das Bedürfnis, Kuba vor erneuter USamerikanischer Aggression zu schützen; zweitens das Gefühl der strategischen Verwundbarkeit; und drittens das Bedürfnis, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Seit der erfolgreichen Revolution und Vertreibung des Diktators Fulgencio Batista im Januar 1959 sah sich das Regime von Fidel Castro mit einer ganzen Reihe von USamerikanischen Versuchen konfrontiert, einen Systemwechsel, oder genauer: eine Konterrevolution auf Kuba herbeizuführen. Den Anfang machte der Versuch von Exil-Kubanern, am 17. April 1961 Castro mit Hilfe der USA zu stürzen; die Invasion scheiterte, Kennedy war gedemütigt. Zwischen November 1961 und Februar 1963 versuchte die CIA dann im Rahmen der Operation Mongoose durch zahlreiche verdeckte Operationen, das Regime in Havanna erneut zu destabilisieren und Castro zu töten. Was, wie wir wissen, misslang. Zeitgleich hielten die USA eine Reihe von großangelegten Manövern ab, die – notdürftig verschleiert – Vorbereitungen auf eine mögliche Invasion Kubas darstellten. Wenn man sich jetzt noch vor Augen führt, dass Kuba für Chruschtschow sowohl eine große strategische wie auch emotionale Bedeutung hatte – ersteres aufgrund der unmittelbaren Nähe zu Nordamerika, letzteres, weil Kuba den Weg zum Sozialismus ohne Einmischung der Roten Armee beschritten hatte – war seine Reaktion auf die wahrgenommene unmittelbare Bedrohung durch die USA nur rational. Andrei Gromyko, der von 1957 bis 1985 sowjetischer Außenminister war, erinnert sich, dass für Chruschtschow ein direkter Zusammenhang zwischen der Bedrohung Kubas und seiner Entscheidung bestand, dort Atomraketen zu stationieren: »[I]t is essential to deploy a certain number of our nuclear missiles there. This alone can save the country [Cuba]. Last year’s failed assault isn’t going to stop Washington.« (Lebow / Stein 1998: 30)

Chruschtschow sah sich allerdings nicht nur in Kuba herausgefordert. Zwar gab er sich nach der erfolgreichen Sputnik-Mission vom 4. Oktober 1957 redlich Mühe, in den USA das Gefühl der strategischen Überlegenheit der UdSSR zu erzeugen. Tatsächlich aber waren die USA der Sowjetunion überlegen; sowohl hinsichtlich der Zahl als auch hinsichtlich der technischen Reife der nuklearen Interkontinentalraketen (was Chruschtschow nicht unbekannt war). Als Reaktion auf die – aus der Perspektive der USA – zunehmend bellizistische Rhetorik Chruschtschows, die im Oktober 1961 zu einer Fast-Katastrophe am Checkpoint Charlie im geteilten Berlin geführte hätte, ließ Kennedy am 21. Oktober 1961 durch den stellvertretenden Verteidigungsminister Roswell L. Gilpatric die militärische Überlegenheit der USA öffentlich erklären. Was von Kennedy als Mittel der Moderation, der Besänftigung gedacht war, wurde von Chruschtschow als offene Drohung aufgefasst. Gilpatrics Erklärung führte der Sowjetunion unmissverständlich vor Augen, dass ihr nukleares Arsenal kein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial mehr für die USA besitzt. Für Chruschtschow musste die Möglichkeit eines US-amerikanischen Erstschlags damit fast zwangsläufig als realistische Option erscheinen – und Raketen auf Kuba als notwendiges Mittel der Selbstverteidigung.

Sowjetische Atomraketen auf Kuba, die ohne Probleme Washington hätten erreichen und zerstören können, waren aus der Perspektive der USA eine beispiellose Provokation. Vermutlich waren die Raketen eine Provokation, ganz sicher aber waren sie nicht beispiellos. Denn die USA haben 1959 begonnen, in mehreren NATO-Partnerstaaten Atomraketen zu installieren. Zunächst wurden Mittelstreckenraketen vom Typ Thor mit einer Reichweite von maximal 5 500 Kilometern in Großbritannien und Mittelstreckenraketen vom Typ Jupiter mit einer Reichweite von mehr als 2 000 Kilometern in Italien stationiert. Im April 1961 wurden zusätzlich Jupiter-Raketen in der Türkei stationiert. Diese Entscheidung der Regierung Eisenhower war eine direkte Reaktion auf die durch den Sputnik ausgelöste Angst der USA vor der strategischen Überlegenheit der Sowjetunion. Für die USA waren diese Raketen daher lediglich ein defensives Mittel der Abschreckung. Für Chruschtschows hingegen waren sie – vor allem die in der Türkei stationierten Jupiter- Raketen – eine Bedrohung. Einerseits hätten sie ohne Probleme die sowjetische Hauptstadt erreichen und vernichten können. Andererseits, und vermutlich für die Frage der Bewertung dieser Waffen wichtiger, waren die Jupiter-Raketen extrem verwundbar – einen sowjetischen Angriff, auch mit konventionellen Waffen, hätten sie nicht überstanden. Folglich wurden sie von der Sowjetunion als Offensivwaffen eingeschätzt, obwohl sie einem rein defensiven Nutzen dienen sollten, nämlich einen möglichen sowjetischen Angriff auf Europa und die USA zu verhindern.

2.2 Die Bombe aus der Perspektive Teherans

Die Ängste vor einer iranischen Atombombe haben meist einen gemeinsamen Nenner: die dem Iran unterstellte feindselige Intention. Natürlich kann man die iranischen Atomwaffenpläne aus israelischer, US-amerikanischer oder europäischer Perspektive so wahrnehmen. Aus iranischer Perspektive erscheint das Atomprogramm freilich als rationales Mittel der Selbstverteidigung, der Selbsterhaltung (des Regimes) und der ausgleichenden Gerechtigkeit.

2.2.1 Verwundbarkeit

Dass der Iran heute so verbissen nach dem Besitz von nuklearen Waffen strebt, ist wesentliches Ergebnis westlicher, oder genauer: US-amerikanischer Einmischungspolitik. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die USA zunächst als Unterstützer und Stabilisator des Schah-Regimes, später als Unterstützer Saddam Husseins und Gegner Irans klar positioniert. Allerdings hat auch Iran wenig getan, um nach der islamischen Revolution die Beziehungen zu den USA auf eine konstruktive Grundlage zu stellen. Die 444 Tage dauernde Geiselnahme von 52 US-Diplomaten und Botschaftsmitarbeitern in Teheran vom 4. November 1979 bis zum 20. Januar 1981 war nur ein erster Höhepunkt.

Dass die USA bereits 1953 aktiv am Sturz eines in der Bevölkerung beliebten Ministerpräsidenten und der Wiedereinsetzung des Schahs beteiligt waren (Pertes 2008: 68), spielt vor allem in der kollektiven Erinnerung des Iran eine Rolle. Für die sicherheitspolitische Weichenstellung Irans aber sollte der Erste Golfkrieg entscheidendes Gewicht haben und die Bewertung von Massenvernichtungswaffen tiefgreifend und nachhaltig verändern.

Der Sturz des Schah im Januar 1979 und die Errichtung der Islamischen Republik Iran zwangen die USA, sich einen neuen Verbündeten in der Golf-Region zu suchen. Um die eigene Vormacht zu gewährleisten, hatten die USA bislang auf zwei Partner gesetzt: Saudi-Arabien und das Regime des Schah von Persien. Die Wahl Washingtons fiel auf den Nachbarn Irans: Saddam Husseins Irak. Von diesem erhoffte man sich, dass er das Regime in Teheran nicht nur eindämmen, sondern es vielleicht sogar wieder beseitigen könnte. Denn die Vorstellung, Iran könnte aus dem Ersten Golfkrieg, den Saddam Hussein am 22. September 1980 begonnen hatte, als Sieger hervorgehen, war für Präsident Ronald Reagan ein Horrorszenario. Um Irak offiziell im Krieg gegen Iran unterstützen zu können, strichen die USA im Februar 1982 das Regime in Bagdad von der Schwarzen Liste der den Terrorismus unterstützenden Staaten. Zwischen 1983 und 1987 erhielt Irak dann nicht nur Handelskredite in Höhe von jährlich mehreren Hundert Millionen US-Dollar; die USA versorgten Irak auch mit wichtigen Geheimdienstinformationen. Zudem ermutigte Washington die europäischen Partner zur Zusammenarbeit mit Bagdad. Neben Waffen erhielt Bagdad auch indirekte Unterstützung für den Bau von biologischen und chemischen Waffenfabriken (Pollack 2002: 19). Durch den Einsatz irakischer Chemiewaffen, die, wie die UN festgestellt haben, das Regime in Bagdad ohne ausländische Hilfen nie hätte produzieren können (UNMOVIC 2006: 8), wurden während des Ersten Golfkrieges etwa 50 000 iranische Soldaten verwundet, weitere 5 000 von ihnen starben (Thränert 2003: 11). Dieser massive Einsatz chemischer Waffen durch den Irak, der sich auch gegen die eigene Bevölkerung richtete und eine schwerwiegende Verletzung des Genfer Protokolls von 1925 darstellte, löste allerdings keine Reaktion der internationalen Gemeinschaft aus (Gieling 2006).

Im Iran vollzog sich daraufhin eine Kehrtwende in der Bewertung von Massenvernichtungswaffen (WMD). Ursprünglich hatte Ayatollah Khomeini den Einsatz und Besitz von WMD als unvereinbar mit dem Islam eingeschätzt; Iran suspendierte das unter dem Schah mit westlicher Hilfe initiierte Atomprogramm (Perthes 2008: 89). Iran ist heute Vertragspartei der Chemie- und Biowaffenkonvention sowie des Atomwaffensperrvertrags (NPT). Der Erste Golfkrieg aber lehrte Iran, dass solche Abkommen keinen Schutz garantieren und Teheran selbst für seine Verteidigung sorgen muss. Nach 1984 war Khomeini überzeugt, dass Atomwaffen als Mittel der Abschreckung und Selbstverteidigung notwendig seien (Akbari 2004: 27; Thränert 2003: 7).

Die iranische Selbstwahrnehmung als verwundbarer Staat war für einen fundamentalen sicherheitspolitischen Richtungswechsel verantwortlich. Khomeinis Ablehnung von Massenvernichtungswaffen war nicht machtpolitisch begründet. Erst die Erfahrung sicherheitspolitischer Ohnmacht ließen die iranische Atombombe für Khomeini Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal zu einem rationalen und machtpolitischen Mittel der Abschreckung und Selbstverteidigung werden. An diesem Gefühl der Bedrohung und Verwundbarkeit hat sich bis heute nichts geändert.

2.2.2 Der Schutz des Regimes

Iran fürchtet bis heute, die USA könnten versuchen, einen Systemwechsel herbeizuführen. Die Wahrnehmung von Intentionen muss dabei mit den tatsächlichen Intentionen nichts gemein haben – das hat die Kuba-Krise bewiesen.

Ob die USA also wirklich auf einen Systemwechsel in Teheran hingearbeitet haben (oder es vielleicht sogar noch immer tun), ist darum nicht wichtig. Wichtig ist lediglich, dass die Politik der USA gegenüber Iran diesen Eindruck erweckt hat (und es noch immer tut).

Seit Ronald Reagan hat es kein US-Präsident an aggressiver Rhetorik gegenüber Teheran fehlen lassen. Bill Clinton nannte Iran 1994 einen »Schurkenstaat«. 1995 verhängte er strenge Öl- und Handelssanktionen gegen Teheran und unterband praktisch jeden Handel zwischen den USA und Iran (Minnerop 2002). George W. Bush machte Iran in seiner »Rede zur Lage der Nation« vom 29. Januar 2002 zu einem Teil der »Achse des Bösen« – zusammen mit Irak und Nordkorea (Bush 2002).

In der Wahrnehmung Irans hat die Rede Bushs eine besondere Bedeutung. Sie beendete nicht nur die kurze Phase der strategischen Zusammenarbeit zwischen Washington und Teheran nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan (Perthes 2008: 26, 74). Vor allem bestärkte sie Iran in der Überzeugung, dass Atomwaffen ein notwendiges Mittel der Selbstverteidigung sind: Während die USA im Irak einen Systemwechsel herbeigeführt haben, hat Washington dem Regime in Nordkorea, kaum dass Pjöngjang am 10. Februar 2005 den Besitz der Atombombe erklärt hatte, eine Sicherheitsgarantie gegeben (US 2005). Eine solche Sicherheitsgarantie gibt es für Iran bis heute nicht.

Bemerkenswert ist, dass Iran grundsätzliches Interesse an einer Deeskalation gezeigt hat. 2003, unmittelbar nach dem Beginn der Operation »Iraqi Freedom«, ließ Präsident Khatami die Bedingungen einer nachhaltigen Aussöhnung mit den USA ausloten. Über den Schweizer Botschafter in Teheran ließ Khatami eine konkrete road map für die Beilegung der Feindseligkeiten beider Länder an Bush übermitteln. Darin bot Khatami an, die Unterstützung militanter Palästinenser-Gruppen einzustellen, auf die Transformation der Hisbollah in eine rein politische Organisation hinzuwirken, eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina zu unterstützen und das eigene Atomprogramm offenzulegen. Im Gegenzug forderte Iran die Aufhebung der US-Sanktionen, freien Zugang zu ziviler Nukleartechnologie sowie Sicherheitsgarantien. Außerdem sollte Bush seine Aussage zurücknehmen, Iran gehöre zur »Achse des Bösen« (Perthes: 2008: 75). Die Regierung Bush lehnte diese Initiative ab (Kessler 2007, Kristof 2007).

2.2.3 Gerechtigkeit

Was in der Diskussion um das iranische Atomwaffenprogramm gerne vergessen wird, ist, dass es neben den fünf offiziellen Atommächten USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China vier Nichtkernwaffenstaaten mit Atomwaffen gibt: Indien, Israel, Pakistan und Nordkorea. Keiner dieser Staaten wäre nach dem Atomwaffensperrvertrag befugt, Kernwaffen zu besitzen. Denn nach Kapitel IX NPT haben nur die Staaten ein Recht auf Atomwaffen, die »vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe oder einen sonstigen Kernsprengkörper hergestellt und gezündet« haben.

Auf Grundlage des Atomwaffensperrvertrags dürfte Iran folglich nicht anders als Nordkorea, Indien, Pakistan oder Israel behandelt werden. Dennoch werden diese Atommächte toleriert. Die Frage, ob es sich um eine Demokratie, Diktatur oder Theokratie handelt, ist für die Rechtmäßigkeit des Atomwaffenbesitzes dabei völlig unerheblich. Man könnte einwenden, dass Indien, Israel, Pakistan und Nordkorea dem Atomwaffensperrvertrag nicht (mehr) angehören und darum dessen Bestimmungen für sie auch nicht (mehr) gelten. Nach dieser Logik müsste Iran nur dem Beispiel Nordkoreas folgen und aus dem Atomwaffensperrvertrag austreten, und dem Nichtverbreitungsregime des NPT wäre kein Schaden zugefügt. Ein wenig überzeugendes Argument, das die Weltöffentlichkeit im Fall Nordkoreas nicht zu akzeptieren bereit war. Dem Atomwaffensperrvertrag gehören heute 189 Staaten an; er erhebt einen allgemeinen Geltungsanspruch, der gegenüber Iran – anders als gegenüber Nordkorea oder Israel – auch durchgesetzt werden soll.

Aus der Perspektive Irans ist das Festhalten am Atomwaffenprogramm durchaus rational, dient es doch der Sicherheit: Atomwaffen reduzieren (als Mittel der Verteidigung) die Angreifbarkeit des Landes und sichern das Regime vor externen Versuchen, einen Systemwechsel herbeizuführen. Zudem gleicht es eine offensichtliche Form der Ungleichbehandlung durch das Nichtverbreitungsregime des Atomwaffensperrvertrags aus. Zugleich aber ist das iranische Atomprogramm auch höchst unvernünftig, führt es Iran doch an den Rand eines Krieges. Und damit verletzt das Atomwaffenprogramm genau die Sicherheitsinteressen, die es in der Wahrnehmung Teherans überhaupt erst notwendig gemacht haben.

3. Ist eine Lösung des Konflikts möglich?

Eine Lösung des Konflikts um das iranische Atomprogramm ist noch möglich, aber sie wird weder einfach noch schnell zu erreichen sein. Dafür dauert der Konflikt mit dem Iran, der nicht nur das Atomprogramm zum Gegenstand hat, schon zu lange. Das grundsätzliche Problem besteht aktuell darin, das Vertrauen wieder herzustellen, das auf beiden Seiten in den zurückliegenden Jahrzehnten zerstört worden ist. Dass Teheran im Januar 2006 die Siegel der IAEO in der Anreicherungsanlage von Natans entfernen ließ, war in diesem Sinne nicht nur ein symbolischer Schritt in Richtung Wiederaufnahme des Atomwaffenprogramms; es war vor allem ein schwerer Schlag für das internationale Vertrauen in das Regime.

Um den Konflikt zu entschärfen, muss eine Seite den ersten Schritt in Richtung Deeskalation tun – und Zugeständnisse machen. Dies können nur die USA sein. Die USA können auf Teheran zugehen, ohne dass sich die Bedrohungssituation für sie verändert, denn selbst ein nuklear bewaffneter Iran stellt für die USA keine nennenswerte Bedrohung dar. Umgekehrt sind die USA die größte Bedrohung für das Regime in Teheran. Jedes Zugeständnis an Washington würde folglich nur als Zeichen der Schwäche Teherans gedeutet und das Gefühl der Unsicherheit erhöhen. Dieser Schritt ist daher kaum zu erwarten.

Will man den Konflikt mit Iran nachhaltig entschärfen, gibt es keine Alternative zur Deeskalation. Ein militärisches Vorgehen gegen die iranischen Nuklearanlagen wäre dagegen kontraproduktiv, da er das Atomprogramm lediglich verlangsamen, aber nicht dauerhaft verhindern würde. Im Gegenteil. Ein Angriff würde in Teheran die Überzeugung stärken, dass eine iranische Atombombe als Mittel der Abschreckung und Selbstverteidigung notwendig ist.

3.1 Eine andere Rhetorik

Der erste Schritt in Richtung Verständigung muss eine gemäßigte Rhetorik gegenüber dem Iran sein. Eine veränderte Rhetorik, die Iran nicht mit Militärschlägen und damit, in der Wahrnehmung Teherans, mit dem Systemwechsel droht, könnte das Gefühl der Bedrohung auf Seiten Irans reduzieren und damit zu einer Entspannung beitragen.

3.2 Realitäten akzeptieren

Die USA und Europa müssen sich mit der Realität der iranischen Theokratie abfinden und Khamenei als Gesprächspartner akzeptieren. Schließlich ist es Khamenei, der im Zweifelsfall über die Neuausrichtung der iranischen Sicherheitspolitik entscheidet. Damit sind Kontakte zum religiösen Führer Irans eine Vorbedingung, um das Gefühl der Sicherheit auch auf Seiten der USA und ihrer Verbündeten zu erhöhen. Daher ist es kontraproduktiv, Khamenei »als ›nicht gewählten Entscheidungsträger‹ zu delegitimieren« (Perthes 2008: 129).

3.3 Sanktionen

Das Sanktionssystem gegen Iran ist seit Jahren fester Bestandteil der robusten Diplomatie im Streit um das Atomprogramm. Allerdings sollte das Sanktionssystem so modifiziert werden, dass es nicht nur zu einer weiteren Eskalation des Konflikts beiträgt.

Zunächst sollten die USA (als Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat) glaubhaft machen, dass sie das Angebot der »doppelten Suspendierung« weiterhin aufrechterhalten. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Sanktionen dann ausgesetzt werden, wenn Iran das Urananreicherungsprogramm aussetzt. In einem ergänzenden Schritt muss Teheran überzeugt werden, dass das Sanktionssystem einen streng begrenzten Fokus hat: die Einhaltung der Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags zu garantieren. Iran hat, gerade auch mit Blick auf Pakistan, wiederholt erklärt, dass es an einem verlässlichen Nichtverbreitungsregime ein vitales Interesse hat. Die diplomatische Aufgabe besteht also darin, die tiefliegenden Ängste auf Seiten Teherans zu zerstreuen und zu versichern, dass die Sanktionen weder auf einen Systemwechsel noch auf die Zerstörung der iranischen Wirtschaft noch auf eine Bestrafung Irans abzielen (Perthes 2008: 123).

3.4 Sicherheit

Das iranische Atomprogramm ist eine rationale Reaktion auf die von Teheran wahrgenommenen Bedrohungen der Sicherheit des Landes und des Regimes (Jones 1998: 39). Eine nachhaltige Lösung des Atomstreits muss daher auf die nachhaltige Veränderung dieser Wahrnehmung durch den Iran abzielen.

Hier stehen, einmal mehr, die USA im Fokus. Wie gegenüber Nordkorea (US 2005) und vermutlich auch gegenüber Muammar Al-Gaddafis Libyen muss Washington Teheran ein glaubhaftes Angebot auf Regimesicherheit unterbreiten. Tripolis hat 2003 sein Massenvernichtungsprogramm aufgegeben (Litwak 2008: 169 ff.); Pjöngjang hatte sich 2005 vertraglich zumindest verpflichtet, seinen Plutoniumreaktor abzubauen (was den Atomtest 2006 aber nicht verhindern konnte).

Als Grundlage für dieses Angebot an Teheran könnte die 2003 unter Khatami erarbeitete road map dienen, thematisiert diese doch wesentliche Elemente der Sorgen beider Seiten: Iran würde die Zwei-Staaten-Lösung im Israel-Palästina-Konflikt anerkennen, seine Unterstützung militanter palästinensischer Gruppen einstellen und sein Nuklearprogramm offenlegen. Im Gegenzug würde Teheran explizite Sicherheitsgarantien durch die USA erhalten und die Zusicherung, dass die souveränen Rechte Irans auf zivile Nutzung der Kernenergie unangetastet bleiben.

Wenn Teheran die Sicherheitsgarantie der USA als glaubwürdig einschätzt, verkehrt sich in der Wahrnehmung Irans die Bedeutung des Atomwaffenprogramms in sein Gegenteil: Das Festhalten an einem militärischen Nuklearprogramm wäre ab dann irrational. Da die Sicherheitsgarantie der USA durch das iranische Atomprogramm unmöglich gemacht würde, wäre es das Atomprogramm selbst, das in der Wahrnehmung Teherans eine Bedrohung der Sicherheit des Staates und des Regimes darstellt; damit aber wäre das Streben nach der Atombombe nicht länger ein rationales Mittel der Selbstverteidigung.

Literatur
  • Akbari, Semiramis (2004): Iran zwischen amerikanischem und innenpolitischem Druck. Rückfall ins Mittelalter oder pragmatischer Aufbruch?, HSFK-Report 1: http://hsfk.de/fileadmin/downloads/report0104.pdf (15. November 2011).
  • Bumiller, Elisabeth et al. (2012): U.S. Sends Top Iranian Leader a Warning on Strait Threat, New York Times vom 12. Januar 2012: http://www.nytimes.com/2012/01/13/world/middleeast/us-warns-top-iran-leader-not-to-shut-strait-ofhormuz. html?pagewanted=all (31. Januar 2012).
  • Gieling, Saskia M. (2006) Iran-Iraq War, in: Enycolpaedia Iranica, 15. Dezember 2006: http://www.iranicaonline.org/ articles/iraq-vii-iran-iraq-war (14. November 2011).
  • Goldberg, Jeffrey (2012): Obama to Iran and Israel: ›As President of the United States, I Don’t Bluff‹, in: The Atlantic vom 2. März 2012): http://www.theatlantic.com/international/archive/2012/03/obama-to-iran-and-israel-as-presidentof- the-united-states-i-dont-bluff/253875/(6. März 2012).
  • Jones, Peter (1998): Iran’s Threat Perceptions and Arms Control Policies, in: The Nonproliferation Review, Vol. 6, Nr. 1: http://cns.miis.edu/npr/pdfs/jone61.pdf (14. November 2011).
  • Kam, Ephraim (2007): A Nuclear Iran: What Does it Mean, and What Can Be Done?, Institute for National Strategic Studies, Tel Aviv.
  • Kessler, Glenn (2007): 2003 Memo Says Iranian Leaders Backed Talks, in: Washington Post vom 14. Februar 2007: http:// www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2007/02/13/AR2007021301363.html (14. November 2011).
  • Kristof, Nicholas D. (2007): Diplomacy at Its Worst, in: The New York Times, 29. April 2007: http://www.nytimes.com/ 2007/04/29/opinion/29kristof.html?n=Top%2FOpinion%2FEditorials%20and%20Op-Ed%2FOp-Ed%2FColumnists%2 FNicholas%20D%20Kristof (14. November 2011).
  • Lebow, Richard Ned und Gross Stein, Janice (1994): We all lost to Cold War, Princeton.
  • Litwak, Robert S. (2007): Regime Change: U.S. Strategy through the Prism of 9/11, Baltimore.
  • Minnerop, Petra (2002): Rogue States – State Sponsors of Terrorism?, in: German Law Journal, 1. September 2002: http://www.germanlawjournal.com/article.php?id=188 (14. November 2011).
  • Perthes, Volker (2008): Iran – Eine politische Herausforderung, Frankfurt/Main.
  • Pedatzur, Reuven (2007): The Iranian Nuclear Threat and the Israeli Options, in: Contemporary Security Policy, 28:3, 513–541.
  • Pollack, Kenneth (2002): The Threating Storm. The Case for Invading Iraq, New York.
  • Spiegel Online (2012): Netanjahu-Auftritt in den USA. ›Ich spiele nicht mit der Sicherheit Israels‹, in Spiegel Online am 6. März 2012: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,819538,00.html (6. März).
  • Spiegel Online (2011): Israel testet Atomrakete mit Reichweite bis Iran, in Spiegel Online am 2. November 2011: http:// www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,795556,00.html (14. November 2011).
  • Thränert, Oliver (2003): Der Iran und die Verbreitung von ABC-Waffen, SWP-Studien, August: http://www.swp-berlin. org/fileadmin/contents/products/studien/S2003_30_trt.pdf (15. November 2011).
  • UNMOVIC (2006): Twenty-fifth quarterly report on the activities of the United Nations Monitoring, Verification and Inspection Commission in accordance with paragraph 12 of Security Council resolution 1284 (1999), 30. Mai: http://www. globalsecurity.org/wmd/library/news/iraq/un/s-2006-342_30may2006.pdf (15. November 2011).
  • U.S. Department of State (US) (2005): Joint Statement of the Fourth Round of the Six-Party Talks, 19. September 2005: http://www.state.gov/p/eap/regional/c15455.htm (15. November 2011).
  • Yaron, Gil (2011): Drohgebärden für Diplomaten, in: Spiegel Online, 9. November: http://www.spiegel.de/politik/ ausland/0,1518,796634,00.html (14. November 2011).
* Dr. Andreas Bock ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg.

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung: INTERNATIONALE POLITIKANALYSE, April 2012; mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.



Zurück zur Iran-Seite

Zur Atomwaffen-Seite

Zurück zur Homepage