(Un-)Sicherheitsfaktor Atombombe
Eine Analyse der Krise um das iranische Nuklearprogramm
Von ANDREAS BOCK *
Zusammenfassende Thesen:-
Iran ist ein rationaler Akteur der internationalen Politik, der seine sicherheitspolitischen
Entscheidungen auf Grundlage der wahrgenommenen Bedrohungssituation
trifft.
- Iran befindet sich, dem Staate Israel durchaus vergleichbar, in einer prekären Sicherheitslage;
aus der Perspektive Teherans ist es daher durchaus rational, am Atomprogramm
als Mittel der Abschreckung und damit der Selbstverteidigung festzuhalten.
- Die Lösung der Iran-Krise hängt wesentlich davon ab, ob und inwieweit es gelingen
wird, die Bedrohungswahrnehmung auf Seiten Irans zu verändern; den USA kommt
hier eine Schlüsselfunktion zu.
- Ein Militärschlag gegen die iranischen Nuklearanlagen wäre kontraproduktiv; er
würde das Atomprogramm lediglich verlangsamen, aber nicht dauerhaft verhindern.
Tatsächlich würde ein Angriff in Teheran die Überzeugung stärken, dass eine iranische
Atombombe als Mittel der Abschreckung und Selbstverteidigung notwendig
ist.
- Für die Betrachtung der Iran-Krise ist die Wahrnehmung von Sicherheit und Unsicherheit
zentral. In der folgenden Analyse wird die Kuba-Krise als Blaupause verwendet,
denn auch hier waren Fehlwahrnehmungen für die Eskalation verantwortlich. Bei
näherer Betrachtung lassen sich wesentliche Parallelen zwischen der Krise um das
iranische Atomprogramm und der Kuba-Krise feststellen.
Hoping for the best, but expecting the worst
Are you gonna drop the bomb or not?
Alphaville
1. Krieg am Persischen Golf?
»Ich behalte mir alle Mittel vor. [...] Ich betreibe keine
Eindämmungspolitik. Ich betreibe eine Politik der Prävention.
Und ich meine es auch so.« (Klüver / Münch 2012) –
US-Präsident Barack Obama hat bei einem Treffen mit
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Anfang
März die bislang schärfste Warnung an das Regime in
Teheran ausgesprochen: Wenn Iran an seiner Entscheidung
festhalte, ein eigenes Atomwaffenprogramm zu
entwickeln, werden die USA handeln. Nur wenige Tage
vor dem Treffen mit Netanjahu hatte Obama in einem
Interview mit dem Atlantic seine Entschlossenheit betont,
auch eine militärische Option zu wählen: »As President
of the United States, I don’t bluff.« (Goldberg 2012)
Beunruhigend an dieser Entwicklung ist, dass sich Obama
im beginnenden US-Präsidentschaftswahlkampf de facto
die Rhetorik Netanjahus zu Eigen gemacht hat, der offen
einen Militärschlag gegen die iranischen Atomanlagen
favorisiert (Spiegel Online 2012). Der Streit um das iranische
Atomwaffenprogramm hat damit eine neue – und
vielleicht die letzte – Stufe der Eskalation erreicht. Ein Militärschlag
gegen Iran muss jetzt als durchaus wahrscheinlich
eingeschätzt werden.
Die Krise um das iranische Atomprogramm ist symptomatisch
für eine widersprüchliche Sicherheitspolitik – die
eigentlich mehr Sicherheit schaffen will, aber das genaue
Gegenteil erreicht. Aber warum? Das Problem ist, dass
Maßnahmen, die ein Staat ergreift um seine Sicherheit zu
erhöhen, von einem anderen Staat als Bedrohung der eigenen
Sicherheit wahrgenommen werden und entsprechende
Gegenmaßnahmen auslösen, die nur wieder die
Unsicherheit des anderen Staates erhöhen. In der Politikwissenschaft
spricht man von einem Sicherheitsdilemma.
Die Iran-Krise ist ein solches Sicherheitsdilemma. Iran
fühlt sich seit längerem bedroht, vielleicht sogar in seiner
Existenz gefährdet. Das Streben Teherans nach einem
funktionierenden Atomwaffenprogramm ist darum lediglich
eine Reaktion auf dieses Gefühl der Bedrohung.
Die Lösung der Krise hängt folglich davon ab, inwieweit
es gelingen wird, die Bedrohungswahrnehmung auf Seiten
Irans zu verändern. Da die (Fehl-)Wahrnehmung von
Sicherheit und Unsicherheit der Schlüssel zum Verständnis
der Iran-Krise ist, bildet die Kuba-Krise die geeignete
Blaupause zur Analyse der Iran-Krise.
Der Fokus auf diese Wahrnehmung bedeutet, dass es im
Folgenden nicht um die Frage der Legitimität oder Illegitimität
politischer Handlungen geht, sondern ausschließlich
um die Frage, wie diese Handlungen vom Iran und
von dessen Umwelt (den USA oder Israel) wahrgenommen
werden – und welche sicherheitspolitischen Folgen
diese Wahrnehmungen haben.
2. Teherans Sehnsucht nach der Atombombe
Warum will Iran überhaupt die Fähigkeit erwerben, nukleare
Massenvernichtungswaffen herstellen zu können?
Eine berechtigte Frage, denn an der Paradoxie von Nuklearwaffen
hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges nichts
geändert: Man besitzt sie, um sie nicht einsetzen zu müssen.
Das Konzept der Mutual Assured Destruction (MAD),
durch das sich beide Supermächte während des Kalten
Krieges die gesicherte Zweitschlagskapazität zubilligten,
ist höchster Ausdruck der nuklearen Abschreckungs- und
Nicht-Einsatz-Doktrin: Selbst ein erfolgreicher nuklearer
Erstschlag könnte einen nuklearen Gegenschlag nicht
verhindern. Mit wechselseitig verheerenden Folgen.
Der nukleare Ersteinsatz wäre für Iran heute ebenso
selbstzerstörerisch, wie er es während des Kalten Krieges
für die UdSSR oder die USA war. Teheran müsste mit einem
massiven nuklearen wie konventionellen Gegenschlag
sowohl Israels wie auch der USA rechnen. Der
nukleare Erstschlag wäre aus Sicht Irans höchst irrational
und ist folglich als höchst unwahrscheinlich einzuschätzen
(Pedatzur 2007: 535).
Dennoch geht man gerade in Israel davon aus, dass die
nukleare Bewaffnung Irans eine existenzielle Bedrohung
darstellt. Tel Aviv nimmt die potenziellen iranischen
Atomwaffen bereits heute als Offensivwaffen wahr und
unterstellt Iran eine ebensolche offensive Absicht: »Ein
Iran mit Atombomben ist eine Gefahr für den Nahen
Osten und die ganze Welt. Und stellt natürlich auch für
uns eine schwere, direkte Bedrohung dar«, warnte Israels
Premier Benjamin Netanjahu zuletzt Anfang November in der Knesset. Israels Verteidigungsdoktrin hat Netanjahu
dort unmissverständlich zusammengefasst: »Wenn jemand
dich umbringen will, töte ihn zuerst« (Yaron 2011).
Aus der Sicht eines rationalen Akteurs macht das Festhalten
am Atomwaffenprogramm daher wenig Sinn.
Nun könnte man unterstellen, dass Iran ein irrationaler
Akteur ist. Und damit würde das iranische Streben nach
der Atombombe, so unsinnig es erscheint, wieder Sinn
ergeben. Tatsächlich aber verhält sich Iran als nüchtern
kalkulierender, rationaler Akteur: »Iran behaves as a
logical actor – even in Iranian terms – that considers the
risks and costs incurred by its actions and is not guided
by ideological-religious considerations alone […]« (Kam
2007: 9). Damit ähnelt diese Situation der Entscheidung
Chruschtschows, Atomraketen insgeheim auf Kuba zu
stationieren. Aus heutiger Sicht erscheint dieser Schritt
irrational und höchst riskant: Wie nur konnte
Chruschtschow glauben, die USA würden Atomraketen,
die problemlos Washington erreichen könnten, im eigenen
Hinterhof dulden?
Um zu verstehen, warum Chruschtschow an der Stationierung
der Raketen auf Kuba festhielt, obwohl dies
doch offensichtlich irrational war, muss man zu verstehen
versuchen, mit welchem Ziel er überhaupt Raketen dort
stationieren wollte. Analoges gilt für das Festhalten Irans
am Atomprogramm trotz des massiven, seit Jahren anhaltenden
internationalen Drucks. Auch hier muss man
zu verstehen versuchen, warum sich Teheran offensichtlich
für die Wiederaufnahme des Nuklearprogramms und
seiner militärischen Fortentwicklung entschieden hat.
2.1 Die Bombe aus der Perspektive Moskaus
Für Chruschtschows Entscheidung, Atomraketen auf
Kuba zu stationieren, lassen sich drei Hauptgründe identifizieren:
Erstens das Bedürfnis, Kuba vor erneuter USamerikanischer
Aggression zu schützen; zweitens das
Gefühl der strategischen Verwundbarkeit; und drittens
das Bedürfnis, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Seit der erfolgreichen Revolution und Vertreibung des
Diktators Fulgencio Batista im Januar 1959 sah sich das
Regime von Fidel Castro mit einer ganzen Reihe von USamerikanischen
Versuchen konfrontiert, einen Systemwechsel,
oder genauer: eine Konterrevolution auf Kuba
herbeizuführen. Den Anfang machte der Versuch von
Exil-Kubanern, am 17. April 1961 Castro mit Hilfe der
USA zu stürzen; die Invasion scheiterte, Kennedy war gedemütigt.
Zwischen November 1961 und Februar 1963
versuchte die CIA dann im Rahmen der Operation
Mongoose durch zahlreiche verdeckte Operationen, das
Regime in Havanna erneut zu destabilisieren und Castro
zu töten. Was, wie wir wissen, misslang. Zeitgleich hielten
die USA eine Reihe von großangelegten Manövern
ab, die – notdürftig verschleiert – Vorbereitungen auf
eine mögliche Invasion Kubas darstellten. Wenn man sich
jetzt noch vor Augen führt, dass Kuba für Chruschtschow
sowohl eine große strategische wie auch emotionale Bedeutung
hatte – ersteres aufgrund der unmittelbaren
Nähe zu Nordamerika, letzteres, weil Kuba den Weg zum
Sozialismus ohne Einmischung der Roten Armee beschritten
hatte – war seine Reaktion auf die wahrgenommene
unmittelbare Bedrohung durch die USA nur rational.
Andrei Gromyko, der von 1957 bis 1985 sowjetischer
Außenminister war, erinnert sich, dass für Chruschtschow
ein direkter Zusammenhang zwischen der Bedrohung
Kubas und seiner Entscheidung bestand, dort Atomraketen
zu stationieren: »[I]t is essential to deploy a certain
number of our nuclear missiles there. This alone can save
the country [Cuba]. Last year’s failed assault isn’t going
to stop Washington.« (Lebow / Stein 1998: 30)
Chruschtschow sah sich allerdings nicht nur in Kuba
herausgefordert. Zwar gab er sich nach der erfolgreichen
Sputnik-Mission vom 4. Oktober 1957 redlich Mühe, in
den USA das Gefühl der strategischen Überlegenheit der
UdSSR zu erzeugen. Tatsächlich aber waren die USA der
Sowjetunion überlegen; sowohl hinsichtlich der Zahl als
auch hinsichtlich der technischen Reife der nuklearen Interkontinentalraketen (was Chruschtschow nicht unbekannt
war). Als Reaktion auf die – aus der Perspektive der
USA – zunehmend bellizistische Rhetorik Chruschtschows,
die im Oktober 1961 zu einer Fast-Katastrophe am
Checkpoint Charlie im geteilten Berlin geführte hätte,
ließ Kennedy am 21. Oktober 1961 durch den stellvertretenden
Verteidigungsminister Roswell L. Gilpatric die
militärische Überlegenheit der USA öffentlich erklären.
Was von Kennedy als Mittel der Moderation, der Besänftigung
gedacht war, wurde von Chruschtschow als offene
Drohung aufgefasst. Gilpatrics Erklärung führte der
Sowjetunion unmissverständlich vor Augen, dass ihr nukleares
Arsenal kein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial
mehr für die USA besitzt. Für Chruschtschow
musste die Möglichkeit eines US-amerikanischen Erstschlags
damit fast zwangsläufig als realistische Option erscheinen – und Raketen auf Kuba als notwendiges Mittel
der Selbstverteidigung.
Sowjetische Atomraketen auf Kuba, die ohne Probleme
Washington hätten erreichen und zerstören können, waren
aus der Perspektive der USA eine beispiellose Provokation.
Vermutlich waren die Raketen eine Provokation,
ganz sicher aber waren sie nicht beispiellos. Denn
die USA haben 1959 begonnen, in mehreren NATO-Partnerstaaten
Atomraketen zu installieren. Zunächst wurden
Mittelstreckenraketen vom Typ Thor mit einer Reichweite
von maximal 5 500 Kilometern in Großbritannien
und Mittelstreckenraketen vom Typ Jupiter mit einer
Reichweite von mehr als 2 000 Kilometern in Italien stationiert.
Im April 1961 wurden zusätzlich Jupiter-Raketen
in der Türkei stationiert. Diese Entscheidung der Regierung
Eisenhower war eine direkte Reaktion auf die durch
den Sputnik ausgelöste Angst der USA vor der strategischen
Überlegenheit der Sowjetunion. Für die USA waren
diese Raketen daher lediglich ein defensives Mittel der
Abschreckung. Für Chruschtschows hingegen waren
sie – vor allem die in der Türkei stationierten Jupiter-
Raketen – eine Bedrohung. Einerseits hätten sie ohne
Probleme die sowjetische Hauptstadt erreichen und vernichten
können. Andererseits, und vermutlich für die
Frage der Bewertung dieser Waffen wichtiger, waren die
Jupiter-Raketen extrem verwundbar – einen sowjetischen
Angriff, auch mit konventionellen Waffen, hätten sie
nicht überstanden. Folglich wurden sie von der Sowjetunion
als Offensivwaffen eingeschätzt, obwohl sie einem
rein defensiven Nutzen dienen sollten, nämlich einen
möglichen sowjetischen Angriff auf Europa und die USA
zu verhindern.
2.2 Die Bombe aus der Perspektive Teherans
Die Ängste vor einer iranischen Atombombe haben meist
einen gemeinsamen Nenner: die dem Iran unterstellte
feindselige Intention. Natürlich kann man die iranischen
Atomwaffenpläne aus israelischer, US-amerikanischer
oder europäischer Perspektive so wahrnehmen. Aus iranischer
Perspektive erscheint das Atomprogramm freilich
als rationales Mittel der Selbstverteidigung, der Selbsterhaltung
(des Regimes) und der ausgleichenden Gerechtigkeit.
2.2.1 Verwundbarkeit
Dass der Iran heute so verbissen nach dem Besitz von
nuklearen Waffen strebt, ist wesentliches Ergebnis westlicher,
oder genauer: US-amerikanischer Einmischungspolitik.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die
USA zunächst als Unterstützer und Stabilisator des
Schah-Regimes, später als Unterstützer Saddam Husseins
und Gegner Irans klar positioniert. Allerdings hat auch
Iran wenig getan, um nach der islamischen Revolution
die Beziehungen zu den USA auf eine konstruktive
Grundlage zu stellen. Die 444 Tage dauernde Geiselnahme
von 52 US-Diplomaten und Botschaftsmitarbeitern
in Teheran vom 4. November 1979 bis zum 20. Januar
1981 war nur ein erster Höhepunkt.
Dass die USA bereits 1953 aktiv am Sturz eines in der
Bevölkerung beliebten Ministerpräsidenten und der Wiedereinsetzung
des Schahs beteiligt waren (Pertes 2008:
68), spielt vor allem in der kollektiven Erinnerung des Iran
eine Rolle. Für die sicherheitspolitische Weichenstellung
Irans aber sollte der Erste Golfkrieg entscheidendes Gewicht
haben und die Bewertung von Massenvernichtungswaffen
tiefgreifend und nachhaltig verändern.
Der Sturz des Schah im Januar 1979 und die Errichtung
der Islamischen Republik Iran zwangen die USA, sich einen
neuen Verbündeten in der Golf-Region zu suchen.
Um die eigene Vormacht zu gewährleisten, hatten die
USA bislang auf zwei Partner gesetzt: Saudi-Arabien und
das Regime des Schah von Persien. Die Wahl Washingtons
fiel auf den Nachbarn Irans: Saddam Husseins Irak.
Von diesem erhoffte man sich, dass er das Regime in
Teheran nicht nur eindämmen, sondern es vielleicht sogar
wieder beseitigen könnte. Denn die Vorstellung, Iran
könnte aus dem Ersten Golfkrieg, den Saddam Hussein
am 22. September 1980 begonnen hatte, als Sieger hervorgehen,
war für Präsident Ronald Reagan ein Horrorszenario.
Um Irak offiziell im Krieg gegen Iran unterstützen
zu können, strichen die USA im Februar 1982 das
Regime in Bagdad von der Schwarzen Liste der den Terrorismus
unterstützenden Staaten. Zwischen 1983 und
1987 erhielt Irak dann nicht nur Handelskredite in Höhe
von jährlich mehreren Hundert Millionen US-Dollar; die
USA versorgten Irak auch mit wichtigen Geheimdienstinformationen.
Zudem ermutigte Washington die europäischen
Partner zur Zusammenarbeit mit Bagdad. Neben
Waffen erhielt Bagdad auch indirekte Unterstützung
für den Bau von biologischen und chemischen Waffenfabriken (Pollack 2002: 19). Durch den Einsatz irakischer
Chemiewaffen, die, wie die UN festgestellt haben, das
Regime in Bagdad ohne ausländische Hilfen nie hätte
produzieren können (UNMOVIC 2006: 8), wurden während
des Ersten Golfkrieges etwa 50 000 iranische Soldaten
verwundet, weitere 5 000 von ihnen starben
(Thränert 2003: 11). Dieser massive Einsatz chemischer
Waffen durch den Irak, der sich auch gegen die eigene
Bevölkerung richtete und eine schwerwiegende Verletzung
des Genfer Protokolls von 1925 darstellte, löste
allerdings keine Reaktion der internationalen Gemeinschaft
aus (Gieling 2006).
Im Iran vollzog sich daraufhin eine Kehrtwende in der
Bewertung von Massenvernichtungswaffen (WMD). Ursprünglich
hatte Ayatollah Khomeini den Einsatz und
Besitz von WMD als unvereinbar mit dem Islam eingeschätzt;
Iran suspendierte das unter dem Schah mit westlicher
Hilfe initiierte Atomprogramm (Perthes 2008: 89).
Iran ist heute Vertragspartei der Chemie- und Biowaffenkonvention
sowie des Atomwaffensperrvertrags (NPT).
Der Erste Golfkrieg aber lehrte Iran, dass solche Abkommen
keinen Schutz garantieren und Teheran selbst
für seine Verteidigung sorgen muss. Nach 1984 war
Khomeini überzeugt, dass Atomwaffen als Mittel der
Abschreckung und Selbstverteidigung notwendig seien
(Akbari 2004: 27; Thränert 2003: 7).
Die iranische Selbstwahrnehmung als verwundbarer
Staat war für einen fundamentalen sicherheitspolitischen
Richtungswechsel verantwortlich. Khomeinis Ablehnung
von Massenvernichtungswaffen war nicht machtpolitisch
begründet. Erst die Erfahrung sicherheitspolitischer Ohnmacht
ließen die iranische Atombombe für Khomeini
Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal zu einem rationalen
und machtpolitischen Mittel der Abschreckung und
Selbstverteidigung werden. An diesem Gefühl der Bedrohung
und Verwundbarkeit hat sich bis heute nichts
geändert.
2.2.2 Der Schutz des Regimes
Iran fürchtet bis heute, die USA könnten versuchen, einen
Systemwechsel herbeizuführen. Die Wahrnehmung
von Intentionen muss dabei mit den tatsächlichen Intentionen
nichts gemein haben – das hat die Kuba-Krise
bewiesen.
Ob die USA also wirklich auf einen Systemwechsel in
Teheran hingearbeitet haben (oder es vielleicht sogar
noch immer tun), ist darum nicht wichtig. Wichtig ist lediglich,
dass die Politik der USA gegenüber Iran diesen
Eindruck erweckt hat (und es noch immer tut).
Seit Ronald Reagan hat es kein US-Präsident an aggressiver
Rhetorik gegenüber Teheran fehlen lassen. Bill Clinton
nannte Iran 1994 einen »Schurkenstaat«. 1995 verhängte
er strenge Öl- und Handelssanktionen gegen
Teheran und unterband praktisch jeden Handel zwischen
den USA und Iran (Minnerop 2002). George W. Bush
machte Iran in seiner »Rede zur Lage der Nation« vom
29. Januar 2002 zu einem Teil der »Achse des Bösen« –
zusammen mit Irak und Nordkorea (Bush 2002).
In der Wahrnehmung Irans hat die Rede Bushs eine besondere
Bedeutung. Sie beendete nicht nur die kurze
Phase der strategischen Zusammenarbeit zwischen
Washington und Teheran nach dem Sturz der Taliban in
Afghanistan (Perthes 2008: 26, 74). Vor allem bestärkte
sie Iran in der Überzeugung, dass Atomwaffen ein notwendiges
Mittel der Selbstverteidigung sind: Während die
USA im Irak einen Systemwechsel herbeigeführt haben,
hat Washington dem Regime in Nordkorea, kaum dass
Pjöngjang am 10. Februar 2005 den Besitz der Atombombe
erklärt hatte, eine Sicherheitsgarantie gegeben
(US 2005). Eine solche Sicherheitsgarantie gibt es für Iran
bis heute nicht.
Bemerkenswert ist, dass Iran grundsätzliches Interesse an
einer Deeskalation gezeigt hat. 2003, unmittelbar nach
dem Beginn der Operation »Iraqi Freedom«, ließ Präsident
Khatami die Bedingungen einer nachhaltigen Aussöhnung
mit den USA ausloten. Über den Schweizer Botschafter
in Teheran ließ Khatami eine konkrete road map
für die Beilegung der Feindseligkeiten beider Länder an
Bush übermitteln. Darin bot Khatami an, die Unterstützung
militanter Palästinenser-Gruppen einzustellen, auf
die Transformation der Hisbollah in eine rein politische
Organisation hinzuwirken, eine Zweistaatenlösung zwischen
Israel und Palästina zu unterstützen und das eigene
Atomprogramm offenzulegen. Im Gegenzug forderte
Iran die Aufhebung der US-Sanktionen, freien Zugang zu
ziviler Nukleartechnologie sowie Sicherheitsgarantien.
Außerdem sollte Bush seine Aussage zurücknehmen, Iran
gehöre zur »Achse des Bösen« (Perthes: 2008: 75). Die
Regierung Bush lehnte diese Initiative ab (Kessler 2007,
Kristof 2007).
2.2.3 Gerechtigkeit
Was in der Diskussion um das iranische Atomwaffenprogramm
gerne vergessen wird, ist, dass es neben den fünf
offiziellen Atommächten USA, Russland, Frankreich,
Großbritannien und China vier Nichtkernwaffenstaaten
mit Atomwaffen gibt: Indien, Israel, Pakistan und Nordkorea.
Keiner dieser Staaten wäre nach dem Atomwaffensperrvertrag
befugt, Kernwaffen zu besitzen. Denn
nach Kapitel IX NPT haben nur die Staaten ein Recht auf
Atomwaffen, die »vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe
oder einen sonstigen Kernsprengkörper hergestellt
und gezündet« haben.
Auf Grundlage des Atomwaffensperrvertrags dürfte Iran
folglich nicht anders als Nordkorea, Indien, Pakistan oder
Israel behandelt werden. Dennoch werden diese Atommächte
toleriert. Die Frage, ob es sich um eine Demokratie,
Diktatur oder Theokratie handelt, ist für die Rechtmäßigkeit
des Atomwaffenbesitzes dabei völlig unerheblich.
Man könnte einwenden, dass Indien, Israel, Pakistan
und Nordkorea dem Atomwaffensperrvertrag nicht
(mehr) angehören und darum dessen Bestimmungen für
sie auch nicht (mehr) gelten. Nach dieser Logik müsste
Iran nur dem Beispiel Nordkoreas folgen und aus dem
Atomwaffensperrvertrag austreten, und dem Nichtverbreitungsregime
des NPT wäre kein Schaden zugefügt. Ein wenig überzeugendes Argument, das die Weltöffentlichkeit im Fall Nordkoreas nicht zu akzeptieren bereit war. Dem Atomwaffensperrvertrag gehören heute 189
Staaten an; er erhebt einen allgemeinen Geltungsanspruch,
der gegenüber Iran – anders als gegenüber
Nordkorea oder Israel – auch durchgesetzt werden soll.
Aus der Perspektive Irans ist das Festhalten am Atomwaffenprogramm
durchaus rational, dient es doch der
Sicherheit: Atomwaffen reduzieren (als Mittel der Verteidigung)
die Angreifbarkeit des Landes und sichern das
Regime vor externen Versuchen, einen Systemwechsel
herbeizuführen. Zudem gleicht es eine offensichtliche
Form der Ungleichbehandlung durch das Nichtverbreitungsregime
des Atomwaffensperrvertrags aus. Zugleich
aber ist das iranische Atomprogramm auch höchst unvernünftig,
führt es Iran doch an den Rand eines Krieges.
Und damit verletzt das Atomwaffenprogramm genau
die Sicherheitsinteressen, die es in der Wahrnehmung
Teherans überhaupt erst notwendig gemacht haben.
3. Ist eine Lösung des Konflikts möglich?
Eine Lösung des Konflikts um das iranische Atomprogramm
ist noch möglich, aber sie wird weder einfach
noch schnell zu erreichen sein. Dafür dauert der Konflikt
mit dem Iran, der nicht nur das Atomprogramm zum Gegenstand
hat, schon zu lange. Das grundsätzliche Problem
besteht aktuell darin, das Vertrauen wieder herzustellen,
das auf beiden Seiten in den zurückliegenden
Jahrzehnten zerstört worden ist. Dass Teheran im Januar
2006 die Siegel der IAEO in der Anreicherungsanlage von
Natans entfernen ließ, war in diesem Sinne nicht nur ein
symbolischer Schritt in Richtung Wiederaufnahme des
Atomwaffenprogramms; es war vor allem ein schwerer
Schlag für das internationale Vertrauen in das Regime.
Um den Konflikt zu entschärfen, muss eine Seite den ersten
Schritt in Richtung Deeskalation tun – und Zugeständnisse
machen. Dies können nur die USA sein. Die USA
können auf Teheran zugehen, ohne dass sich die Bedrohungssituation
für sie verändert, denn selbst ein nuklear
bewaffneter Iran stellt für die USA keine nennenswerte
Bedrohung dar. Umgekehrt sind die USA die größte Bedrohung
für das Regime in Teheran. Jedes Zugeständnis
an Washington würde folglich nur als Zeichen der Schwäche
Teherans gedeutet und das Gefühl der Unsicherheit
erhöhen. Dieser Schritt ist daher kaum zu erwarten.
Will man den Konflikt mit Iran nachhaltig entschärfen,
gibt es keine Alternative zur Deeskalation. Ein militärisches
Vorgehen gegen die iranischen Nuklearanlagen
wäre dagegen kontraproduktiv, da er das Atomprogramm
lediglich verlangsamen, aber nicht dauerhaft verhindern
würde. Im Gegenteil. Ein Angriff würde in
Teheran die Überzeugung stärken, dass eine iranische
Atombombe als Mittel der Abschreckung und Selbstverteidigung
notwendig ist.
3.1 Eine andere Rhetorik
Der erste Schritt in Richtung Verständigung muss eine gemäßigte
Rhetorik gegenüber dem Iran sein. Eine veränderte
Rhetorik, die Iran nicht mit Militärschlägen und
damit, in der Wahrnehmung Teherans, mit dem Systemwechsel
droht, könnte das Gefühl der Bedrohung auf
Seiten Irans reduzieren und damit zu einer Entspannung
beitragen.
3.2 Realitäten akzeptieren
Die USA und Europa müssen sich mit der Realität der
iranischen Theokratie abfinden und Khamenei als Gesprächspartner
akzeptieren. Schließlich ist es Khamenei,
der im Zweifelsfall über die Neuausrichtung der iranischen
Sicherheitspolitik entscheidet. Damit sind Kontakte zum
religiösen Führer Irans eine Vorbedingung, um das Gefühl
der Sicherheit auch auf Seiten der USA und ihrer
Verbündeten zu erhöhen. Daher ist es kontraproduktiv,
Khamenei »als ›nicht gewählten Entscheidungsträger‹ zu
delegitimieren« (Perthes 2008: 129).
3.3 Sanktionen
Das Sanktionssystem gegen Iran ist seit Jahren fester
Bestandteil der robusten Diplomatie im Streit um das
Atomprogramm. Allerdings sollte das Sanktionssystem
so modifiziert werden, dass es nicht nur zu einer weiteren
Eskalation des Konflikts beiträgt.
Zunächst sollten die USA (als Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat)
glaubhaft machen, dass sie das Angebot der
»doppelten Suspendierung« weiterhin aufrechterhalten.
Der Grundgedanke dabei ist, dass die Sanktionen dann
ausgesetzt werden, wenn Iran das Urananreicherungsprogramm
aussetzt. In einem ergänzenden Schritt muss
Teheran überzeugt werden, dass das Sanktionssystem
einen streng begrenzten Fokus hat: die Einhaltung der
Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags zu garantieren.
Iran hat, gerade auch mit Blick auf Pakistan, wiederholt
erklärt, dass es an einem verlässlichen Nichtverbreitungsregime
ein vitales Interesse hat. Die diplomatische
Aufgabe besteht also darin, die tiefliegenden Ängste
auf Seiten Teherans zu zerstreuen und zu versichern, dass
die Sanktionen weder auf einen Systemwechsel noch auf
die Zerstörung der iranischen Wirtschaft noch auf eine
Bestrafung Irans abzielen (Perthes 2008: 123).
3.4 Sicherheit
Das iranische Atomprogramm ist eine rationale Reaktion
auf die von Teheran wahrgenommenen Bedrohungen
der Sicherheit des Landes und des Regimes (Jones 1998:
39). Eine nachhaltige Lösung des Atomstreits muss daher
auf die nachhaltige Veränderung dieser Wahrnehmung
durch den Iran abzielen.
Hier stehen, einmal mehr, die USA im Fokus. Wie gegenüber
Nordkorea (US 2005) und vermutlich auch gegenüber
Muammar Al-Gaddafis Libyen muss Washington
Teheran ein glaubhaftes Angebot auf Regimesicherheit
unterbreiten. Tripolis hat 2003 sein Massenvernichtungsprogramm
aufgegeben (Litwak 2008: 169 ff.); Pjöngjang
hatte sich 2005 vertraglich zumindest verpflichtet, seinen
Plutoniumreaktor abzubauen (was den Atomtest 2006
aber nicht verhindern konnte).
Als Grundlage für dieses Angebot an Teheran könnte die
2003 unter Khatami erarbeitete road map dienen, thematisiert
diese doch wesentliche Elemente der Sorgen
beider Seiten: Iran würde die Zwei-Staaten-Lösung im
Israel-Palästina-Konflikt anerkennen, seine Unterstützung
militanter palästinensischer Gruppen einstellen und
sein Nuklearprogramm offenlegen. Im Gegenzug würde
Teheran explizite Sicherheitsgarantien durch die USA erhalten
und die Zusicherung, dass die souveränen Rechte
Irans auf zivile Nutzung der Kernenergie unangetastet
bleiben.
Wenn Teheran die Sicherheitsgarantie der USA als glaubwürdig
einschätzt, verkehrt sich in der Wahrnehmung
Irans die Bedeutung des Atomwaffenprogramms in sein
Gegenteil: Das Festhalten an einem militärischen Nuklearprogramm
wäre ab dann irrational. Da die Sicherheitsgarantie
der USA durch das iranische Atomprogramm
unmöglich gemacht würde, wäre es das Atomprogramm
selbst, das in der Wahrnehmung Teherans eine Bedrohung
der Sicherheit des Staates und des Regimes darstellt;
damit aber wäre das Streben nach der Atombombe
nicht länger ein rationales Mittel der Selbstverteidigung.
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* Dr. Andreas Bock ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg.
Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung: INTERNATIONALE POLITIKANALYSE, April 2012; mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.
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