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Kriegsdrohung gegen Iran: "Es ist zwei Minuten vor zwölf"

AG Friedensforschung wendet sich neuerlich an das Außenministerium

Auch wenn es um den Iran und dessen Atomprogramm seit geraumer Zeit hier zu Lande etwas ruhiger geworden ist, heißt das nicht, dass alles in Ordnung und die Kriegsgefahr gebannt ist. Meldungen aus den USA - hier werden die Ereignisse sehr viel aufmerksamer verfolgt - zeigen, dass von der aufgebauten Kriegskulisse gegen den Iran kein Stück abgetragen wurde.
Aus diesem Grund wandte sich die AG Friedensforschung, die schon sieben Monate zuvor mit einem dringenden Appell an die Öffentlichkeit getreten war (siehe: Aide mémoire vorgelegt: "5 Minuten vor 12"), neuerlich an das Außenministerium. Wir dokumentieren den Brief im Folgenden im Wortlaut.



Arbeitsgruppe Friedensforschung
an der Universität Kassel
c/o Dr. Peter Strutynski
Nora-Platiel-Str. 5
34125 Kassel

An den
Bundesaußenminister
Herrn Frank-Walter Steinmeier

11013 Berlin

Edermünde, den 24. Oktober 2007

Iranisches Nuklearprogramm
Ihr Schreiben 240-371.10 vom 23. 04. 2007


Sehr geehrter Herr Minister,

nochmals möchten wir uns bedanken für Ihre freundliche und unserer Sorge voll Rechnung tragende Antwort auf unser Aide-Mémoire vom 27. März dieses Jahres. Geradezu erleichtert haben wir zur Kenntnis genommen, dass „Die Bundeskanzlerin … eine militärische Option nicht für vorstellbar hält“ und dass die Bundesregierung sich gemeinsam mit ihren E3/EU Partnern Frankreich und Großbritannien mit hohem Einsatz für eine friedliche Lösung im Streit um das iranische Nuklearprogramm eingesetzt hat.

Jüngste Meldungen aus den USA klingen demgegenüber alarmierend. Insbesondere jene, in denen davon gesprochen wird, dass in höchsten Führungskreisen der USA militärische Schläge gegen Iran immer wieder als reale Option erwogen werden. Diese Denkweise scheint inzwischen in Europa angekommen zu sein, wie die jüngsten - dann allerdings bald relativierten - Äußerungen des französischen Außenministers zeigen. Alles das sehen wir als Anlass zu der Sorge, dass sich die europäische und vielleicht auch die deutsche Position in dieser für den Weltfrieden zentralen Angelegenheit verändern könnte. Dies umso mehr als der israelische Angriff auf Syrien vielerorts in einen Zusammenhang mit einem bevorstehenden unilateralen oder multilateralen Angriff auf den Iran gebracht wird. Meinten wir im März, es sei „fünf Minuten vor zwölf“, so könnte es sein, dass wir mittlerweile auf „zwei Minuten vor zwölf“ vorgerückt sind.

Sehr geehrter Herr Minister, in dieser Situation kann von den Verantwortlichen für die deutsche Außenpolitik und die internationale Sicherheit erwartet werden, dass sie klar Position gegen alle militärischen Optionen in der Auseinandersetzung mit der iranischen Führung ergreifen und dies öffentlich machen. Wir nehmen nicht an, dass die Bundesregierung eine solche Option favorisiert. Sie würde jedoch unverantwortliche Schuld auf sich laden, wenn sie solche bei anderen tolerierte, Bündnispartner eingeschlossen. Die Sorge in der Bevölkerung ist zu groß, als dass man sie unaufgeklärt lassen darf.

Zugleich unterbreiten wir Ihnen erneut unsere Überlegungen zu den Möglichkeiten, im Streit mit der iranischen Führung zu einem politisch-diplomatischen Gesprächsansatz überzugehen, der Alternativen eröffnen könnte.

Wir schrieben damals:

„Ein direkter militärischer Angriff der USA oder/und mit ihren Verbündeten zeichnet sich immer deutlicher ab. Seine Konsequenzen könnten katastrophal sein. Ein Kriegszustand zwischen NATO-Staaten und Iran wäre nicht auszuschließen, was militärische Handlungen zur Sperrung der Straße von Hormus provozieren könnte, eine Krise bei der die internationale Erdölversorgung ebenso bedroht wäre wie eine weitere Eskalation im Nahostkonfikt befürchtet werden müsste. Die Spannungen zwischen dem Westen und Iran wüchsen sich also in einen schweren internationalen Konflikt aus.
Eine solche Katastrophe ist vermeidbar, wenn alle Optionen einer friedlichen Regelung des Konfliktes mit Iran weitsichtig und verantwortungsbewusst ausgeschöpft werden.“


An diesem Gefahren-Szenario hat sich nichts geändert. Deshalb möchten wir Ihnen nochmals dringlich die von uns formulierte und durchaus realistische Handlungsalternative zu bedenken geben und Sie nachdrücklich bitten, diese zum Gegenstand der Erarbeitung zumindest einer gesamteuropäischen Position zu machen:

„Alternativen zur Eskalation

Der folgende Vorschlag geht von der Notwendigkeit und Möglichkeit aus, die Regelung der Schlüsselelemente der gegenwärtigen Krise miteinander zu verkoppeln. Diese sind einerseits das von der iranische Führung wahrgenommene Sicherheitsdefizit und andererseits deren wiederholte Versicherung, nicht nach atomaren Waffen zu streben. Die Verkoppelung jener beiden Schlüsselelemente ließe folgende Regelungskonstruktion zu:
  1. Der Westen nimmt die iranische Führung beim Wort und geht auf deren erklärte Bereitschaft ein, Urananreicherung nicht für die Entwicklung von Atomwaffen zu nutzen.
  2. Als Gegenleistung räumt der Westen die Sicherheitsbefürchtungen der iranischen Führung hinsichtlich einer westlichen Intervention zu ihrem Sturz aus.
Handlungsrahmen

(1) Sämtliche Entscheidungen müssen auf geltenden völkerrechtlicher Vereinbarungen beruhen. Gemäß Artikel IV Atomwaffensperrvertrag ist Iran berechtigt, die Kernenergie zu friedlichen Zwecken voll zu nutzen und Uran anzureichern.

(2) Über die Anreicherung wird zwischen der IAEA und Iran eine Vereinbarung getroffen, die der iranischen Seite die Möglichkeiten einräumt, einerseits Uran anzureichern und andererseits ihre Zusage zu verwirklichen, nicht nach atomaren Waffen zu streben.

(3) Nach Abschluss der Vereinbarung zwischen der IAEA und Iran folgt eine Reduzierung der militärischen Präsenz der USA und NATO in der Region des Persischen Golfes. Umfang und Modalitäten einer solchen Reduzierung werden parallel zu den Verhandlungen zwischen der IAEA und Iran vereinbart.

(4) Grundsatzvereinbarung über eine dauerhafte Konsolidierung des Verhältnisses zur Islamischen Republik Iran. Die Regelung des Konflikts in der Atomfrage sollte durch eine Grundsatzvereinbarung über die Konsolidierung des Verhältnisses zur Islamischen Republik Iran flankiert und erleichtert werden. Eine solche Vereinbarung dient der dauerhaften Vertrauensbildung. Sie soll die Beziehungen auf gegenseitig annehmbare Prinzipien und berechenbare Grundlage begründen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, eine solche Vereinbarung zu initiieren. Diese sollte folgende grundsätzliche Problemkreise erfassen:
  • Grundlagen des gegenseitigen Verhältnisses, zu deren Einhaltung sich die Seiten verpflichten: Achtung ihrer souveränen Gleichheit; Enthaltung von der Androhung und Anwendung von Gewalt; Unverletzbarkeit ihrer Grenzen; Achtung der territorialen Integrität ihrer Staaten; friedliche Regelung von Streitfällen; Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit; Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker; Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.
  • Gegenseitige Sicherheit. Ausarbeiten eines Verhaltenskodexes zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit und Vertrauensbildung. Dabei sollte von dem Leitgedanken ausgegangen werden, dass die Sicherheit der Seiten unteilbar und untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden ist sowie Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten gefestigt werden kann. Die sicherheitspolitischen Vereinbarungen sollten u. a. das Verhalten auf den Gebieten der Gewährleistung der Sicherheit von Schifffahrts-, Land- und Luftverkehrswegen, der Zusammenarbeit bei Abrüstung und Rüstungskontrolle, Nichtweiterverbreitung von MVW, Terrorismusbekämpfung und der regionalen Sicherheit regeln.
  • Wirtschaftsbeziehungen. Wirtschaftsbeziehungen mit Iran hatten stets einen hohen Stellenwert. Sie könnten auch bei der Vertrauensbildung und dauerhaften Stabilisierung des Verhältnisses mit dem Iran eine zentrale Rolle spielen. In diesem Kontext könnten u. a. auch Fragen der Gewährleistung zukünftiger Energiesicherheit auf der Grundlage des gegenseitigen Vorteils geregelt werden.
  • Schaffung eines Systems der Sicherheit und Zusammenarbeit in der Region des Persischen Golfes. Iran besitzt das Recht auf Selbstverteidigung. Allerdings sollte dem nicht durch die Entwicklung eigener Atomwaffen, sondern durch die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems in der Golfregion entsprochen werden. Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert, sich gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Nationen für die Schaffung eines Systems der Sicherheit und Zusammenarbeit in der Region des Persischen Golfes einzusetzen.
    Angesichts latenter Spannungen zwischen verschiedenen Staaten der Region, empfundener oder tatsächlicher Sicherheitsdefizite, die aus Erfahrungen früherer Kriege herrühren, der Existenz von Atomwaffen, militärischen Ungleichgewichten, nahezu permanenter äußerer militärischer Präsenz erscheint es dringend geboten, sich in dieser Region für eine Ordnung friedlicher Koexistenz einzusetzen. Es gilt zu verhindern, dass Streitfragen und Auseinandersetzungen einen militärischen Verlauf einschlagen könnten.
    Unverzichtbare Eckpunkte einer solchen Ordnung müssten sein: gegenseitiger Gewaltverzicht, Nichtangriffsgarantien, vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen im militärischen Bereich, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung.
    Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung einer von Kern- und Massenvernichtungswaffen freien Zone. Sowohl alle Anrainerstaaten, als auch der Region nicht angehörende Nuklearmächte sollten sich vertraglich verpflichten, den Status der Region als kern- und massenvernichtungswaffenfreie Zone anzuerkennen und auf den Einsatz von Kern- und Massenvernichtungswaffen in der oder gegen diese Zone zu verzichten. Israel sollte aufgefordert werden, bei den Verhandlungen über die Schaffung einer solchen Zone mitzuwirken.
    Für ihr gegenseitiges Verhältnis sollten sich die Staaten der EU und der Golfregion auf Prinzipien eines „Verhaltenskodex“ verständigen, der auch die friedliche Regelung der Versorgung mit Erdöl und Erdgas einschließt.
  • Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen. Die Forderung nach der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen erhält erst dann eine realistische Grundlage, wenn alle bestehenden Atomwaffenarsenale abgebaut werden. Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, die Problematik der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung unverzüglich und nachdrücklich auf die internationale Tagesordnung zu setzen und dem Deutschen Bundestag einen dementsprechenden Plan zu unterbreite.
Dieser Handlungsrahmen, sehr geehrter Herr Steinmeier, ist nicht nur umfassend, er ist – im Gegensatz zu jeder Angriffshandlung – konform mit dem Völkerrecht, das nicht nur den Krieg als Mittel der Politik verbietet, sondern zugleich eine der wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften in der Folge des Zweiten Weltkriegs darstellt.

Mit freundlichen Grüßen

PD Dr. Michael Berndt
Dr. Ingrid el Masry
Dr. Arne Seifert, Botschafter a. D
Dr. Peter Strutynski
Dr. Heinz-Dieter Winter, Botschafter a. D.
i. A.
Prof. Dr. Werner Ruf


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