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Terror – Alltag im Irak

Seit Jahresbeginn starben fast 3000 Menschen einen gewaltsamen Tod bei Anschlägen

Von Karin Leukefeld *

Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen im Irak am 30. April kommt das Land nicht zur Ruhe. Fast täglich melden die Medien Anschläge und Explosionen, fast 3000 Menschen starben seit Anfang des Jahres einen gewaltsamen Tod im Zweistromland.

Am Wochenende stieg die Zahl der Toten ein weiteres Mal an. Bei einer Serie von Explosionen in Bagdad starben am Samstag mindestens 15 Menschen, hieß es aus Polizeikreisen in der irakischen Hauptstadt. Bei weiteren Explosionen am Sonntag wurden drei Personen getötet. Ebenfalls am Sonntag wurde in der nördlich von Bagdad gelegenen Stadt Samarra eine ganze Familie abgeschlachtet. Ziel des Angriffs waren die Angehörigen eines örtlichen Anführers der Sahwa-Milizen. Berichten zufolge wurde die Frau des Anführers getötet und geköpft, auch zwei seiner Söhne und eine Hausangestellte wurden ermordet. Bei dem Versuch, das Haus in die Luft zu sprengen, wurden zwei weitere Söhne im Alter von vier und fünf Jahren verletzt. Die Sahwa-Milizen rekrutieren sich aus ehemaligen Gegnern der US-Invasion und Stammesangehörigen. 2006 gaben sie ihren Widerstand gegen die US-Armee im Irak auf und stimmten der Bildung der besoldeten Sahwa-Miliz zu. Seitdem sind sie Ziel ihrer ehemaligen Verbündeten, den Kämpfern der Al-Qaida.

Medienberichte vermuten hinter den Explosionen und der Hinrichtung der Familie in Samarra Kämpfer der Gruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL), die in den letzten Jahren vor allem in Syrien kämpfte. Seit Anfang des Jahres hat die Gruppe ihre Angriffe im Irak gezielt gegen Armee und Polizeikräfte sowie staatliche Strukturen verstärkt. Der Terror gegen die Bevölkerung soll offenbar die Unfähigkeit der Regierung zeigen, die Zivilbevölkerung zu schützen.

Nach einem schweren Anschlag in Hilla, bei dem mindestens 45 Menschen an einem Kontrollpunkt vor der Stadt getötet worden waren, hatte Ministerpräsident Nuri Al-Maliki direkt Saudi-Arabien und Katar beschuldigt, hinter den Attentaten zu stehen. Beide Staaten wiesen die Anschuldigungen zurück.

Maliki, der bei den Wahlen 2010 auf Platz zwei hinter der säkular ausgerichteten Al-Irakia-Allianz von Ijad Allawi gelandet war, hatte sich hartnäckig geweigert, mit Allawi eine Koalitionsregierung zu bilden. Ein Jahr später war es Maliki gelungen, mit verschiedenen anderen schiitisch-religiösen Parteien ein Regierungsbündnis zu bilden. Seitdem wird ihm vorgeworfen, säkulare Strukturen im Irak sowie die politische Vertretung der mehrheitlich sunnitischen, westirakischen Stämme zu marginalisieren. Proteste gegen seine Politik werden von Maliki ignoriert, politische Gegner werden verfolgt. In diesem von Repression geprägten Klima konnten religiös mobilisierende Kampfverbände wie ISIL ein Bündnis mit den westirakischen Stämmen gegen die Regierung Maliki bilden.

Der Rückzug des oppositionellen schiitischen Predigers Muqtada Al-Sadr aus dem Wahlkampf hat viele seiner Anhänger ratlos hinterlassen. Mitglieder der Sadr-Bewegung sind im nationalen und in den regionalen Parlamenten vertreten und leisten gute Arbeit, wie Iraker berichten. Die Gouverneure von Bagdad und Amara (Südirak) gehören der Sadr-Bewegung an und sehen ihre Arbeit als »Dienst am Volk«. Abgeordneten wird allgemein vorgeworfen, lediglich an ihren üppigen Gehältern (unterschiedlichen Quellen zufolge zwischen 6800 und 34000 US-Dollar pro Monat) und den vielen Vergünstigungen interessiert zu sein, nicht aber daran, den Lebensstandard der Bevölkerung zu verbessern.

Unzufrieden mit der Politik Malikis sind auch irakische Frauen, die kürzlich in Bagdad gegen ihre zunehmende Entrechtung protestierten. Auf Grundlage der islamischen Scharia wurde von der Regierung ein Gesetzentwurf gebilligt, wonach Mädchen ab dem Alter von neun Jahren verheiratet werden dürfen. Ab dem Alter von zwei Jahren sollen Mädchen automatisch dem Sorgerecht des Vaters unterstehen. Die Abstimmung im Parlament steht noch aus. Die bekannte Frauen- und Menschenrechtlerin Hanna Edwar bezeichnete den Gesetzentwurf bei einer Protestaktion in Bagdad als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Mädchen werde damit »ihr Recht auf eine normale Kindheit entzogen«.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. März 2014


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