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Fluch des Öls

Ein Sammelband beleuchtet Probleme und Perspektiven des Irak

Von Karin Leukefeld *

Die aktuelle Lage im Irak und ein Ausblick auf die mögliche Zukunft des Landes sind Gegenstand eines neuen Buchs, das soeben im österreichischen Promedia-Verlag erschienen ist. Auch wenn dessen Titel konstatiert, was weder historisch noch politisch entschieden ist – den Zerfall des Staates – bietet die von der österreichischen Journalistin Tyma Kraitt herausgegebene Textsammlung interessante Einblicke in die Gründe dafür, dass die Situation dort so verworren ist.

Auf gut 200 Seiten beleuchten zehn Autorinnen und Autoren verschiedene Aspekte des Konflikts. Man erfährt einiges über »Ethnien, Kulturen und Religionen«, über Erdöl und Wasser, über »Fremdherrschaft und Diktatur« und die Lage der Frauen einiges, das im medialen Diskurs über den Irak meist unberichtet bleibt. Weitere Themen sind die Sanktionspolitik und die Rolle der Vereinten Nationen sowie die Besatzungspraxis der USA. Auch die Rolle der Kurden, die seit 100 Jahren von verschiedenen Staaten als politisches Instrument in der Region benutzt worden sind, wird erörtert. Ein Text über »Die Achse Ankara-Erbil-Bagdad« beschäftigt sich ebenso wie das Kapitel »Wie Öl, Gas und Geostrategie die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens verändern« mit der wichtigen Frage, inwieweit Nachbarstaaten des Irak – und diese wiederum als Bündnispartner internationaler Akteure – in das Geschehen im Zweistromland involviert sind bzw. hineingezogen werden.

Sehr spannend liest sich der Text über die »Entstehung und Zerstörung des Irak im Namen des Erdöls« von Karin Kneissl, in dem die wichtige historische Dimension der aktuellen Konflikte herausgearbeitet wird. Seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs waren die Siegermächte Großbritannien und Frankreich vor allem am Zugang zu den Quellen des »Schwarzen Goldes« interessiert, dem Erdöl, das im Irak vor allem in Mossul und Basra zu finden ist. Dabei ist ein wichtiger Aspekt heute fast vergessen, nämlich dass das Öl der wichtigste Treibstoff ist, um Krieg überhaupt führen zu können. »30 Millionen Pferde wurden zwischen 1914 und 1918 neben all den menschlichen Opfern getötet«, dennoch sei der Erste Weltkrieg auch »der erste Krieg im Zeichen von Erdöl« gewesen, schreibt Kneissl, die als Diplomatin und Korrespondentin über viel Erfahrung im Nahen und Mittleren Osten verfügt.

Der Text über die »Sanktionspolitik des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und die humanitäre Ausnahmeregelung« des früheren UN-Beauftragten für das UN-Programm »Öl für Nahrungsmittel« im Irak und stellvertretenden UN-Generalsekretärs Hans von Sponeck wirft noch einmal einen notwendigen Blick zurück auf die Zeit, in der das »wohl umfassendste Wirtschaftsembargo, das die Vereinten Nationen jemals eingesetzt hatten«, die irakische Gesellschaft zerstörte. Die 13 Jahre dauernden Sanktionen waren nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der irakischen Armee nach Kuwait (August 1990) verhängt worden und wurden erst nach dem – ebenfalls völkerrechtswidrigen – Einmarsch der von den USA geführten Golfkriegsallianz (Mai 2003) wieder aufgehoben. Der Sicherheitsrat habe »fundamentale Prinzipien der Menschenrechte, wie sie sich auch in der UN-Charta wiederfinden, aufgehoben«, schreibt von Sponeck. Während des Krieges, mit dem die irakischen Truppen 1991 aus Kuwait vertrieben wurden, seien zudem von den US-geführten Koalitionstruppen vor allem im Südirak Elektrizitäts- und Wasserwerke, sanitäre Einrichtungen, Brücken und Straßen gezielt zerstört worden – was das Völkerrecht verbietet. Das alles führte zu einer raschen Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Als Resümee zitiert von Sponeck den UN-Botschafter Malaysias, Dato Agam Hasmy, mit den Worten: »Wie ironisch, dass die gleiche Politik, die den Irak von seinen Massenvernichtungswaffen hätte entwaffnen sollen, selber zu einer Massenvernichtungswaffe geworden ist.«

Einen Gewaltritt durch 100 Jahre Geschichte absolviert die Herausgeberin Tyma Kraitt in dem Kapitel »Zum Scheitern verurteilt: Irak zwischen Fremdherrschaft und Diktatur«. Dabei gehen Zwischentöne notgedrungen unter, die doch wichtig wären. So fehlt beispielsweise ein Hinweis auf die Politisierung der marginalisierten schiitischen Iraker durch den Geistlichen Mohammed Bakir Al-Sadr in den 1950er Jahren, der mit seinen politisch-sozialen und ökonomischen Theorien den Grundstein für die Gründung der Islamischen Dawa-Partei (1957) als Gegenentwurf zur Baath-Partei legte. Konflikte innerhalb letzterer bleiben ebenso unerwähnt, wie die Unterstützung der Golfstaaten und des Westens für Saddam Husseins Entschluss, gegen den Iran in den Krieg (1980–1988) zu ziehen.

Der Herausgeberin ist es gelungen, großartige Kenner des Irak zu gewinnen, die den Bogen auch über das Land hinaus ziehen. Leider orientieren sich manche Texte zu sehr am aktuellen Diskurs von religiösen und ethnischen Konflikten, die letztlich doch nur ein Abbild davon sind, wie Differenzen in Gesellschaften geschürt werden, um eigene Interessen zu verbergen. Man sollte nicht vergessen, dass der Irak als säkularer Staat, in dem Religion und Politik getrennt waren, jahrzehntelang Bestand hatte. Es waren nicht die Iraker, die das aufheben wollten. Die Teilung der Macht nach Konfessionen und Ethnien war Werk der US-Militärverwaltung 2003 unter Paul Bremer. In dem Kapitel »Neoliberaler Kolonialismus: Irak unter US-Besatzung«, beschreibt das jW-Autor Joachim Guilliard.

Der Fluch des Irak ist sein Reichtum an Öl, stellt Karin Kneissl in ihrem Beitrag fest. Doch »angesichts all der Kriege und Invasionen von Mongolen bis zu den westlichen Armeen, die das Land bislang überlebt hat, darf man ein wenig Zuversicht in die Zukunft des Irak hegen«, schreibt sie: »Denn die Menschen richten ihren Staat allen Widrigkeiten zum Trotz immer wieder auf.«

Tyma Kraitt (Hg.), Irak. Ein Staat zerfällt. Hintergründe, Analysen, Berichte, Pro Media Verlag: Wien 2015, 17,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 30. März 2015


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