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In kleinen Schritten

Obama läßt die Militärintervention im Irak ausweiten. Weitere Maßnahmen angekündigt

Von Knut Mellenthin *

Die US-Regierung hat eine geplante Kommandoaktion im Nordirak, an der Angehörige der Marines und verschiedener Spezialeinheiten teilnehmen sollten, offenbar abgeblasen. Gleichzeitig teilte Barack Obamas stellvertretender Sicherheitsberater Benjamin Rhodes am Mittwoch mit, daß der Präsident in den allernächsten Tagen mehrere Optionen für eine Ausweitung der US-Militärintervention prüfen werde.

Am Dienstag hatte das Pentagon gemeldet, daß im Nordirak 130 zusätzliche »Militärberater«, darunter 80 Marines, eingetroffen seien. Ihre Aufgabe sei es, Möglichkeiten für eine militärisch abgesicherte Evakuierung der am Berg Sindschar eingeschlossenen jesidischen Flüchtlinge zu erkunden, deren Zahl zeitweise auf 40000 bis 50000 geschätzt wurde. Am Mittwoch abend wurde bekannt, daß sich ein kleines Kontingent dieser neuen »Militärberater«, angeblich weniger als 20 Mann, rund 24 Stunden am Berg Sindschar aufgehalten hatte, um sich ein Bild der Lage zu machen. Etwas später teilte das Pentagon mit, daß nach den Beobachtungen dieses Aufklärungstrupps eine militärische Rettungsaktion vermutlich unnötig sei: Die Zahl der noch dort befindlichen Flüchtlinge sei »weit niedriger« als bisher geschätzt, und ihre Lebensbedingungen seien besser als befürchtet.

Den Kommentaren von Rhodes und anderen Sprechern der US-Regierung zufolge wäre die zeitweise geplante Kommandoaktion keine Abweichung von Obamas ständig wiederholten Beteuerungen gewesen, keine Kampftruppen in den Irak zu schicken. Mittlerweile spricht man lieber von »Truppen in einer Kampfrolle« und reduziert diesen Begriff auf Offensivoperationen. Ein militärischer Rettungseinsatz wäre darin nicht eingeschlossen. In der Realität wird aus Obamas Versprechen, keine Kampftruppen zu entsenden, eine peinliche Haarspalterei. Die kommende Sprachregelung könnte die von Verteidigungsminister Chuck Hagel am Dienstag verwendete werden: »Wir werden in den Irak nicht in derselben Kampfmissionsdimension zurückgehen, in der wir früher dort waren.« Demnach wäre es nur noch eine Frage der Quantität. Die USA hatten unter Präsident George W. Bush zeitweise bis zu 168000 Soldaten im Einsatz.

Damit verglichen nimmt sich die Zahl der gegenwärtig im Irak stationierten US-Militärangehörigen sehr gering aus. Sie liegt nach Angaben des Pentagon vom Mittwoch bei 964. In dieser Zahl enthalten sind rund 100 Marines und andere Soldaten, die schon vor dem Vormarsch der Mörderbanden des »Islamischen Staats« (IS) und ihrer sunnitischen Verbündeten zum Schutz der Botschaft in Bagdad eingesetzt waren. 864 »Militärberater« sind neu hinzugekommen, seit Obama am 19. Juni die grundsätzliche Absicht seiner Regierung bekanntgab, im Irak gegen die IS aktiv zu werden. 200 dieser Soldaten, überwiegend Angehörige der Marines oder der Spezialeinheiten, sind, dem Pentagon zufolge, in der Hauptstadt der Kurdenregion, Erbil, stationiert, die übrigen hauptsächlich in Bagdad. In beiden Städten hat das US-Militär sogenannte »Joint Operation Centers« eingerichtet, deren Aufgabe der Informationsaustausch und die Koordination mit den irakischen und kurdischen Streitkräften sein soll. Diese Stäbe befinden sich in Bagdad in der Botschaft, in Erbil im Konsulat.

Die USA haben im Irak außerdem nach Aussagen von Pentagon-Sprecher Steve Warren vier Flugkörper vom Typ V-22 Osprey und eine nicht genannte Zahl von Hubschraubern stationiert, und zwar ausschließlich auf einem »geschützten« Luftstützpunkt in oder bei Erbil. Die Ospreys können auf kleinem Raum starten und landen wie ein Hubschrauber, fliegen aber mit der Geschwindigkeit und der Reichweite eines Propellerflugzeugs.

Zu den nächsten Eskalationsschritten Obamas wird wahrscheinlich eine Vervielfachung der Zahl der »Militärberater« auf mehrere tausend und der Einsatz von Aufklärern am Boden zur Koordination der Luftangriffe gehören. Seit Obama diese am vorigen Donnerstag autorisierte, wurden 17 Ziele, alle im Nordirak, angegriffen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 15. August 2014


UNO ruft für Irak die höchste Notstandsstufe aus

Noch rund 1000 Menschen im Sindschar-Gebirge eingeschlossen / Türkei baut Camp für Jesiden **

Während die UNO versucht, Hilfsgüter und Geld zu beschaffen, sind die in Irak Verfolgten auf der Flucht, um das nackte Leben zu retten.

Die Vereinten Nationen haben für Irak die höchste Notstandsstufe ausgerufen. Angesicht des Umfangs der Katastrophenlage gelte für das Land der Notstand der Stufe 3, teilte der UN-Sonderbeauftragte für Irak am Mittwochabend mit. Die dritte Stufe ermöglicht es den Vereinten Nationen, zusätzliche Hilfsgüter und Geldmittel zu mobilisieren. Vor allem Nahrung und Wasser sollen für die Zehntausenden Menschen, die vor der Offensive der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) auf der Flucht sind, bereitgestellt werden.

Irak ist das vierte Land, in dem die UNO aktuell einen Notstand der Stufe 3 erklärt hat. Die anderen drei sind Syrien, Südsudan und die Zentralafrikanische Republik.

Unterdessen hat der chaldäisch-katholische Patriarch Louis Raphaël I. Sako Berichten über Gräueltaten an Christen in Nordirak widersprochen. Bisher sei lediglich ein Mann an einem Checkpoint umgebracht worden, sagte er nach Angaben der französischen katholischen Tageszeitung »La Croix«. Die sunnitische Terrorgruppe IS habe Christen weder gefoltert noch enthauptet. In Mossul hätten die Terroristen Geld gestohlen, aber die Christen nicht körperlich angegriffen. Allerdings seien die Gläubigen massenhaft vertrieben worden. Sako nannte die Zahl von 200 000 Flüchtlingen, etwa die Hälfte von ihnen seien Christen.

Laut »La Croix« hatte der christliche Geschäftsmann Mark Arabe im US-Sender CNN von einem »Völkermord« an Christen in der Region sowie der systematischen Enthauptung von Kindern berichtet. Nichts davon habe es gegeben, widersprach Sako. Das Gespräch, auf das sich die Zeitung bezieht, führte der Patriarch mit der christlichen italienischen Nachrichtenagentur Aleteia. Sako selbst hatte vor wenigen Tagen vor einem Massenmord in Nordirak gewarnt.

In dem bereits am Montag veröffentlichten Gespräch mit Aleteia berichtete der Patriarch über die Verfolgung der kurdischen Jesiden durch die Dschihadisten. Viele Kinder seien getötet und mehr als 1000 Frauen entführt worden. Die Flüchtlinge hätten weder Nahrung noch Wasser und fühlten sich von der Welt abgeschnitten, schilderte Sako. »Sie wissen nicht, was sie tun oder wo sie hin sollen.« Der Geistliche rief die internationale Gemeinschaft auf, gemeinsam mit Kurden und der irakischen Regierung militärisch gegen die Terroristen vorzugehen.

Nach der Massenflucht der Jesiden aus dem irakischen Sindschar-Gebirge sind laut UNO nur noch rund 1000 Menschen in dem Höhenzug eingeschlossen. Das sagte eine Sprecherin der UN-Mission in Irak am Donnerstag. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR konnten sich in den vergangenen Tagen etwa 80 000 Menschen aus dem Gebirge retten. Eine UNHCR-Sprecherin erklärte, die Sindschar-Flüchtlinge seien »extrem erschöpft«.

Die Jesiden hatte ihre Heimatorte verlassen, nachdem die IS-Terroristen vor fast zwei Wochen weitere Gebiete in Nordirak eingenommen hatte. Laut UNO fanden seitdem rund 200 000 Menschen Zuflucht in der kurdischen Autonomieregion in Nordirak. Rund 50 000 seien ins benachbarte Syrien geflohen.

Das Pentagon hatte am Mittwoch mitgeteilt, ein zunächst erwogener US-Militäreinsatz zur Rettung von Flüchtlingen in Nordirak sei unwahrscheinlicher geworden. Spezialeinheiten seien nach Erkundungen im Sindschar-Gebirge zu dem Schluss gekommen, dass sich dort wesentlich weniger Flüchtlinge aufhielten als zunächst angenommen. Nach US-Luftangriffen sei es vielen gelungen, mit Hilfe kurdischer Kämpfer der Belagerung durch IS zu entkommen.

Die Türkei hat nach Angaben von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bislang etwa 2000 jesidische Flüchtlinge aus Irak aufgenommen. Hinter der Grenze hielten sich etwa weitere 20 000 Jesiden auf, die vor der Terrormiliz IS geflohen seien, sagte Erdogan am Donnerstag. Er stellte auch diesen Flüchtlingen Unterstützung in Aussicht. Die türkische Katastrophenschutzbehörde will im nordirakischen Grenzort Sacho ein Flüchtlingscamp für rund 16 000 Jesiden errichten.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 15. August 2014


UN declares Iraq ‘Level 3 Emergency’ to trigger more resources, speed up aid delivery ***

14 August 2014 – The United Nations has designated its highest level emergency for the humanitarian crisis in Iraq, citing the scale and complexity of the situation, which is impacting tens of thousands of people that have been forcibly displaced by the armed group, Islamic State (IS).

The “Level 3 Emergency” designation will “facilitate mobilization of additional resources in goods, funds and assets to ensure a more effective response to the humanitarian needs of populations affected by forced displacements,” said the Special Representative of the UN Secretary-General for Iraq, Nickolay Mladenov.

UN officials are particularly concerned about the situation on Sinjar Mountain, where families remain trapped and the health conditions are quickly deteriorating.

Among them, Marzio Babille, the UN Children’s Fund (UNICEF) Representative in Iraq, who also confirmed that the agency and other humanitarian actors are stepping up efforts to meet the growing needs of those who are being extracted from the Mountain, while helping a further 12,000 displaced Christians sheltering in the Kurdish capital, Erbil.

The town of Zakho near the Turkish border is hosting some 100,000 displaced Iraqis, mainly from Sinjar and Zumar, who fled in the previous week. The UN Refugee Agency (UNHCR) said that the Dohuk Governorate, in which Zakho is located, is now hosting close to 400,000 displaced Iraqis, including Yazidis, Christians, Shabak, Kakai, Armenian and Turkman minorities – some of whom have endured repeated displacement.

UN World Food Programme (WFP) Country Director Jane Pearce and UNHCR Representative Shoko Shimozawa pledged to support the Dahuk Governorate in its considerable efforts to meet the needs of those displaced.

In addition, the UN Population Fund (UNFPA) is working the local authorities and partners to distribute hygiene supplies and clothing to more than 1,300 pregnant women, and medical supplies to support 150,000 people.

There are only three other countries in the world that share a Level 3 emergency status: Central African Republic, South Sudan, and Syria.

Speaking by telephone from Iraq on behalf of the UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), Kieran Dwyer said the priority status will allow aid workers to “do everything to save lives right now.”

“Humanitarian organizations, in a time that there are so many crises, have to be able to prioritize,” said Mr. Dwyer. “It means that when we make decisions about rapidly mobilizing staffing and resources… Iraq is right up there in the top priority for immediate emergency action now.”

The decision to raise the level was made by a coordinating body comprised of UN representatives and non-governmental organizations. Based on Mr. Dwyer’s briefing, the decision was made in the context of the 1.2 million people displaced in Iraq since January, coupled with the rapidly deteriorating security situation that continues to cause people to be displaced.

Earlier today, the UN official visited Dohuk Governorate and spoke with people displaced, as well as aid workers and local officials, about the situation on Sinjar Mountain.

“They do not feel safe to go home,” he told the journalists. “Nobody went up that mountain because they really wanted to. They fled for their lives. And they have not been able to return to their homes, and they know they cannot return to their homes.”

There are at least several thousand people still on the mountain, Mr. Dwyer said. He confirmed, however, that based on accounts from local authorities, “large numbers” of people were able to come off the mountain in the last few days.

The support of the international community and the commitment of the regional authorities are “extraordinary,” he said, but more needs to be done to provide the displaced people with the protection and the shelter they urgently need.

Meanwhile in New York, a UN spokesperson reported that Deputy Secretary-General Jan Eliasson met with Bishop Sarhad Jammo and Bishop Francis of Iraq's Chaldean American Community, leading a delegation of Iraqi Christian representatives and community leaders from throughout the United States.

According to the spokesperson, Mr. Eliasson recognized the serious plight of religious minorities in Iraq at the hands of so-called Islamic State forces. He expressed his deep compassion for the victims and affected communities.

He assured the delegation that the United Nations is now taking urgent humanitarian action. He also underlined the need for global solidarity and support to address the needs of these afflicted communities.

*** UN News Centre, 14 August 2014; http://www.un.org


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