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Barsanis zweiter Verrat

Kurdische Regierung lässt Angehörige der jesidischen Minderheit verhaften

Von Nick Brauns *

Für Angehörige der verfolgten religiösen Minderheit der Jesiden war es ein Schlag ins Gesicht: In der Nacht zum Montag verhafteten kurdische Sicherheitskräfte den Oberkommandierenden der jesidischen »Verteidigungskraft Şengal« (HPŞ), Heydar Shesho, in seinem Haus in der Provinz Dohuk. Shesho, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, soll wegen Gründung einer »illegitimen Miliz« vor Gericht gebracht werden, erklärte ein Sprecher der kurdischen Regierung am Montag.

Shesho ist der Neffe des als »Löwe von Şengal« bekannter Qasim Shesho, der im vergangenen August die HPŞ gegründet hatte. Zuvor hatten sich Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) des kurdischen Präsidenten Massud Barsani aus der außerhalb des kurdischen Autonomieregion gelegenen jesidischen Siedlungsgebiet Şengal (Sindschar) zurückziehen müssen. Sie hatten trotz zahlenmäßiger Überlegenheit den Befehl erhalten, die Ortschaften angesichts der vorrückenden Gotteskrieger des »Islamischen Staates« (IS) zu verlassen.

Dieser Rückzug, für den die Barsani-Regierung bislang eine Erklärung schuldig geblieben ist, hatte erst die anschließenden Massaker und das Verschleppen Tausender Jesiden ermöglicht, von den Dschihadisten als »Ungläubige« bis auf den Tod verfolgt werden. Die Verbrechen der IS-Kämpfer an der Religionsgemeinschaft haben nach Ansicht von UN-Experten das Ausmaß eines Völkermordes erreicht.

Da sich die kurdische Regierung weigerte, die auch aus ehemaligen jesidischen Peschmerga gebildete HPŞ zu unterstützen, bezog Shesho von der irakischen Zentralregierung Gehälter, Waffen und Ausrüstung für seine 3.000 Mann starke Truppe. Offiziell wurde die HPŞ dafür im Rahmen der aus schiitischen Milizen zum Kampf gegen den IS ausgerufenen Generalmobilmachung »Hashd Al-Schabi« registriert.

»Die Verhaftung des Oberkommandierenden unserer Einheit hat politische Hintergründe«, erklärte die HPŞ in einer Pressemitteilung am Montag. »Man versucht, unseren Willen zu untergraben, indem man durch Druck den Willen eines der prominentesten Anführer bricht.«

In den vergangenen Wochen haben kurdische Sicherheitskräfte bereits zwei Dutzend Jesiden in Flüchtlingscamps von Zaxo und Dohuk verhaftet, weil sie auf Demonstrationen für das Recht auf Selbstverwaltung für Şengal eingetreten waren. Drei jesidische Aktivisten – der Dichter Hecî Qeyranî, der Sänger Dakhil Osman und der zuvor für die KDP-nahe Nachrichtenseite Rûdaw tätige Journalist Berekat Îsa – mussten aufgrund von Todesdrohungen aus dem Umfeld der KDP ins Ausland fliehen, meldete der Informationsdienst Êzîdîpress am Montag.

Die Repressionswelle trifft sowohl Sympathisanten der Arbeiterpartei Kurdistans PKK als auch frühere KDP-Anhänger. Der Hintergrund der Spannungen ist, dass viele Jesiden kein Vertrauen mehr in die kurdische Regierung haben. Statt für einen von Barsani geforderten Anschluss Şengals an das Autonomiegebiet treten sie für eine Selbstverwaltung der Region ein. So beschloss im Januar eine Nationalkonferenz aus 200 jesidischen Delegierten, nach dem Vorbild der selbstverwalteten kurdischen Kantone in Rojava im Norden Syriens auch die Gründung eines Kantons Şengal vorzubereiten.

Die Konferenz erkannte die neben Sheshos HPŞ nach dem IS-Angriff auf Şengal gebildeten »Jesidischen Widerstandseinheiten« (YBS) als offizielle Verteidigungskraft der Region an. Diese Einheiten, denen auch Frauen angehören, wurden von der Guerilla der PKK und den Volksverteidigungseinheiten YPG aus Rojava geschult, deren Eingreifen im vergangenen Sommer Hunderttausenden Jesiden das Leben gerettet hatte.

Barsani wirft daher der PKK, deren Kämpfer in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Peschmerga und jesidischen Verbänden den IS aus Teilen Şengals verdrängen konnten, vor, die Region unter ihre eigene Kontrolle bringen zu wollen. Shesho und seine Kämpfer teilen zwar nicht die Vorstellungen der PKK und YPG von Basisdemokratie und Frauenbefreiung. Doch auch sie treten für eine von der KDP unabhängige Politik für Şengal ein, was sie nun zum Angriffsziel der kurdischen Regierung macht.

Rund 280 Jesiden wurden am Wochenende aus neunmonatiger Gefangenschaft des IS in Mosul entlassen, meldete Êzîdîpress. Es soll sich vor allem um Greise und einige Dutzend Kinder handeln. Es ist davon auszugehen, dass Verwandte hohe Lösegelder für die Verschleppten gezahlt haben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. April 2015


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