Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Machtkampf in Bagdad

Irak: Präsident stellt sich gegen den Premier. Schwere Gefechte bei Bakuba

Von Karin Leukefeld *

Während die USA und westliche Staaten dem Präsidenten der kurdischen Autonomiegebiete, Masud Barsani, ihre solidarische Waffenhilfe zusichern, sorgt der Machtkampf in Bagdad für Irritation. Präsident Fuad Massum beauftragte am Montag den schiitischen Politiker Haidar Al-Abadi offiziell mit der Regierungsbildung, wie die Nachrichtenseite Shafaaq News berichtete. Die schiitischen Parteien im Parlament hatten Al-Abadi zuvor für das Amt nominiert.Damit geht der Staatschef auf Konfrontation zum schiitischen Regierungschef Nuri Al-Maliki, der selbst für eine weitere Amtsperiode wiedergewählt werden will. Der Premier hatte am Sonntag abend die Armee an strategisch wichtigen Punkten in Bagdad positioniert, um seinen Machtanspruch zu demonstrieren. In einer TV-Ansprache warf er Massum zugleich Verfassungsbruch vor. Unterstützung erhält Maliki vom obersten Gericht des Landes. Die Bundesrichter entschieden, daß Malikis Fraktion die stärkste im Parlament sei und der schiitische Regierungschef im Amt bleiben könne, berichtete das staatliche Fernsehen am Montag. Nach der irakischen Verfassung müßte der Staatspräsident nun Maliki mit der Bildung einer Regierung beauftragen.

Der irakische Präsident Fuad Massum reagiert bei seinen Bemühungen um eine neue Regierung auch auf den Druck des westlichen Auslands, allen voran der USA. Präsident Barack Obama hatte am Wochenende, als er die militärische Unterstützung der kurdischen Peschmerga gegen Angriffe der Gruppe »Islamischer Staat« (IS) bekanntgegeben hatte, seine Zusage mit der deutlichen Forderung an Bagdad verbunden, eine »Regierung der nationalen Einheit« zu bilden.

Massum, ein moderater Vertreter der irakischen Kurden, hatte in den letzten Tagen versucht, die zerstrittenen Parteien zu bewegen, im Konsens einen anderen Kandidaten mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Zur Begründung, warum er die von der Verfassung vorgesehene Frist für die Regierungsbildung verlängere, hatte ein Sprecher Massums auf die Feiertage nach dem Fastenmonat Ramadan verwiesen, an denen niemand gearbeitet habe.

Eine dritte Amtszeit Malikis ist umstritten. Sowohl Iran als auch die USA – die sich nach den Wahlen 2006 auf Maliki als Ministerpräsidenten geeinigt hatten – haben ihn nun aufgefordert, nicht mehr anzutreten. Für seine Politik wird Maliki schon lange im Irak kritisiert. Auch der hohe schiitische Geistliche in Najaf, Großayatollah Ali Al-Sistani, forderte die Politiker mehrmals auf, die Interessen aller Iraker zu vertreten. Maliki wird vorgeworfen, die Iraker sunnitischen Glaubens zu marginalisieren und die Schiiten zu bevorzugen. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen religiösen Streit, sondern Maliki betreibt handfeste Vetternwirtschaft, indem er Verwandte und enge Vertraute in zentrale politische Schaltstellen befördert hat. Vergeblich hatte in den letzten Wochen die Nationale Reformströmung versucht, einen eigenen Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten vorzuschlagen.

Beobachter der politischen Entwicklung werfen der US-Regierung vor, die Spaltung des Iraks mit ihrer Politik voranzutreiben. Die »Amerikaner und ihre Verbündeten Israel, Jordanien, die Türkei, Saudi-Arabien, Großbritannien und Europa« hätten die »Terrorgruppe IS aufgebaut (…), um den Mittleren Osten zu destabilisieren«, sagte der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter Scott Richard im iranischen englischsprachigen Fernsehsender Press TV. Brian Becker von der US-amerikanischen Anti-Kriegs-Koalition »ANSWER« machte im russischen Nachrichtensender Russia Today die von den USA geführte Invasion in den Irak 2003 dafür verantwortlich, »daß die Grundlagen für die Entstehung des IS gelegt wurden.« Erst als die USA und ihre Verbündeten die bewaffneten Gruppen in Syrien unterstützt hatten, »schufen sie die Gelegenheit für diese Organisation, sich zu entwickeln und in den Irak zurückzukehren«.

Bei schweren Gefechten zwischen der irakischen Armee und Kämpfern des »Islamischen Staats« bei Bakuba, nördlich von Bagdad, sind am Montag nach Armeeangaben mindestens neun Terroristen getötet worden. Die Nachrichtenagentur Reuters teilte mit, IS habe Jalawla, einen Vorort von Bakuba, eingenommen.

* Aus: junge Welt, Dienstag 12. August 2014


Eskalation hat begonnen

US-Regierung sieht Militärintervention im Irak als »Langzeitprojekt«. Republikaner wollen auch Syrien bombardieren

Von Knut Mellenthin **


Am Donnerstag war Barack Obama noch bemüht, die begonnene Militärintervention im Irak als räumlich und zeitlich überschaubar und begrenzt zu verkaufen. Am Sonnabend stimmte der US-Präsident jedoch seine Untertanen und die Welt darauf ein, daß sein neuer Krieg »ein Langzeitprojekt« ist, dessen Dauer »nicht in Wochen« zu messen sei. Wieder einmal verstößt Obama gegen den Verfassungsgrundsatz, daß er sich dafür die Zustimmung des Kongresses holen müßte. Dabei würde er diese wahrscheinlich problemlos bekommen. Aber er weitet lieber demonstrativ und kaltschnäuzig die Machtbefugnisse des Präsidenten aus. Damit scheinen beide großen Parteien gut leben zu können. Irgendwann werden ja auch die Republikaner wieder das Staatsoberhaupt stellen.

In seiner Fernsehrede vom Donnerstag hatte Obama für die Luftangriffe gegen militärische Positionen der Islamisten und ihrer Verbündeten nur zwei Gründe genannt: Den Schutz amerikanischer Staatsbürger in der bedrohten Kurdenhauptstadt Erbil und die Befreiung der von den Truppen des »Islamischen Staats« (IS) eingeschlossenen rund 40000 Flüchtlinge. Gleichzeitig beteuerte er aber, er werde »verhindern, daß Amerika in einen Krieg im Irak hineingezogen wird«. Ein nochmaliger Einsatz US-amerikanischer Kampftruppen, der im Dezember 2011 beendet wurde, sei völlig ausgeschlossen.

Am Sonnabend, als sich der Präsident vor dem Weißen Haus in einen zweiwöchigen Urlaub verabschiedete, klang das schon ein bißchen anders: »Wir werden zu verhindern helfen, daß diese Terroristen ein ständiges sicheres Stützpunktgebiet haben, von dem aus sie Amerika angreifen können.« Einen Tag zuvor hatte Obama sich in einem Interview mit Thomas L. Friedman von der New York Times noch eindeutiger ausgedrückt: »Wir haben ein strategisches Interesse daran, IS zurückzudrängen. Wir lassen nicht zu, daß sie irgendein Kalifat in Syrien und im Irak errichten.«

Wenn dies wirklich so ist, entfällt logischerweise auch der von Obama ständig wiederholte Vorbehalt, daß eine Ausweitung der US-Militärintervention nur stattfinden werde, nachdem in Bagdad eine Regierung unter Einschluß aller Bevölkerungsgruppen gebildet wurde. An diesem offensichtlichen Widerspruch setzten sofort die Republikaner an. John McCain, der sich zu diesem Zeitpunkt gerade zu einem Besuch in Vietnam befand, sagte am Sonnabend: »Offenbar versteht der Präsident nicht, daß dies nicht nur eine Gefahr für amerikanische Truppen und nicht einmal nur für Irak oder Kurdistan ist. Dies ist eine Gefahr für Amerika.«

Folglich fordert der Senator aus Arizona die Entsendung von militärischen Spezialisten – Air Controllers – in den Irak, die bei der Identifizierung der Angriffsziele Unterstützung leisten sollen, die Belieferung der Kurdenregierung mit schwerer militärischer Ausrüstung und nicht zuletzt die Ausweitung der Luftangriffe auf die vom IS beherrschten Teile Syriens. »IS hat die Grenze zwischen Irak und Syrien ausgelöscht«, sagte McCain, »aber der Präsident hat es bis jetzt unterlassen, Syrien auch nur zu erwähnen.«

Nach Schätzungen von Militärexperten würde selbst eine ausschließlich auf Luftangriffe beschränkte längere Kampagne den Einsatz von 10000 bis 15000 US-Soldaten im Irak erfordern. In dieser Zahl enthalten sind die von McCain geforderten Air Controllers, Ausbilder und Berater bei den irakischen und kurdischen Streitkräften, Militäraufklärer, Nachschubkräfte und schließlich unvermeidlich auch Bodentruppen zu deren Schutz. Außerdem würden für die Luftangriffe, die derzeit noch von Flugzeugträgern aus geflogen werden, vermutlich demnächst mehrere Stützpunkte im Irak eingerichtet. Diese brauchen wiederum Wartungspersonal, Nachschub und gleichfalls militärischen Schutz durch eigene Soldaten.

Gegenwärtig sind nur 300 bis 500 Angehörige der US-Spezialeinheiten im Irak, die durch Erkundigungen vor Ort den Einsatz einer größeren Zahl von Militärberatern – wahrscheinlich mehrere tausend Mann - vorbereiten sollen.

** Aus: junge Welt, Dienstag 12. August 2014


»Das Wort ›grausam‹ ist weit untertrieben«

Flüchtlinge berichten von bestialischen Morden der IS. Wirksame Gegenwehr nur von kurdischen Verbänden. Gespräch mit Ulla Jelpke ***

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke.

Sie halten sich zur Zeit in Rojava auf, in der selbstverwalteten kurdischen Region im Nordosten Syriens. Dorthin sind in den vergangenen Tagen Zehntausende kurdische Jesiden aus dem Irak geflüchtet – wie ist deren Lage?

Es sind an die 60000, die vor den Massakern der Terrortrupps des »Islamischen Staats« (IS) in den syrischen Teil Kurdistans entkommen konnten. Die Möglichkeit dazu hatten erst die syrisch-kurdischen Volksverteidigungskräfte PYD und Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK geschaffen – sie waren es nämlich, die den Fluchtkorridor von den Sengal-Bergen bis zur Grenze nach Rojava freigeschossen haben.

Im Augenblick dürften sich noch Zehntausende Flüchtlinge in Rojava aufhalten. Viele versuchen, zu Verwandten oder Freunden in die kurdische Autonomieregion im Nordirak (Südkurdistan) zu reisen, werden aber von den dortigen kurdischen Behörden nicht hereingelassen. Journalisten, die ebenfalls an der Grenze abgewiesen worden waren, berichteten mir, daß die Lage der Flüchtlinge katastrophal sei, es gebe weder Zelte noch Medikamente, noch Wasser – und das bei über 40 Grad Hitze.

Ich habe immer wieder gehört, daß die Behörden in der von Massud Barsani regierten Autonomieregion so gut wie gar nichts für ihre vor der IS geflüchteten Landsleute tun – sie sind dort offenbar nicht erwünscht. Ganz anders hier in Rojava: Die Leute machen alles, um ihren geflüchteten Landsleuten zu helfen.

Westkurdistan gilt selbst als bettelarm – welchen Spielraum haben die Behörden?

Durch das von seiten der Türkei und der Barsani-Regierung verhängte Embargo kommen so gut wie keine Hilfsgüter ins Land. Die Organisa­tion Ärzte ohne Grenzen z.B. wollte 100 Zelte schicken, die werden aber von Barsanis Leuten nicht über die Grenze gelassen.

Sie haben mit Flüchtlingen gesprochen – was berichten sie über die Massaker der IS?

Das Wort »grausam« ist weit untertrieben. Ich habe Berichte über Massenhinrichtungen gehört; mir wurde geschildert, wie IS-Terroristen einem Vater erst die Gliedmaßen abschlugen, bevor sie ihn köpften – seine gesamte Familie mußte zuschauen. Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, christliche oder jesidische Frauen werden entführt und auf dem Sklavenmarkt in Mossul verkauft. Mir wurde mehrfach erzählt, daß IS-Terroristen alte Frauen in Brautkleider gesteckt und sie dann vergewaltigt haben. Das wurde gefilmt, das Opfer wurde anschließend totgeschlagen und den Angehörigen vor die Füße geworfen.

Menschen, die vor dem IS zu Fuß ins Gebirge geflohen sind, mußten fast eine Woche ohne Wasser und Essen ausharren, ehe in den letzten Tagen Hilfslieferungen von Hubschraubern abgeworfen wurden – viele Kinder sollen gestorben sein.

Was haben die PYD und die PKK der IS militärisch entgegenzusetzen? Und was ist mit den Peschmerga, den Soldaten der kurdischen Autonomieregierung im Nord­irak?

Wegen des Embargos wird keine Militärausrüstung nach Rojava geliefert. PYD und PKK haben zumeist nur Beutewaffen. Trotzdem sind sie tatsächlich die einzige Kraft, die sich dem IS erfolgreich entgegenstellt. In Rojava wurde eine Art Volkspolizei, aufgebaut, die das Eindringen von IS-Terroristen verhindern soll.

Viele Flüchtlinge sagten mir: Allah, die PYD und die PKK haben uns gerettet – von den Peschmerga allerdings habe es keine Unterstützung gegeben.

Die USA wollen mit punktuellen Luftangriffen das Vorrücken der IS stoppen. Ist das der richtige Weg?

Der Angriff von US-Bombern ist exakt der falsche Weg. Zur Erinnerung: Die USA haben doch diese Terrortruppe als Folge des Irak-Krieges und durch die Aufrüstung der syrischen Oppositionsgruppen erst stark gemacht. Jetzt Bomben zu werfen, heißt nichts anderes, als den Irak-Krieg fortzusetzen.

Aber wie kann man den IS stoppen?

Indem diejenigen mit Waffen und Ausrüstungen unterstützt werden, die als einzige wirksame Gegenwehr gegen diese Mörderbande leisten. Das sind die kurdischen Selbstverteidigungsverbände, die Guerilla und die PYD. Umso absurder ist es, daß sich die PKK weiterhin auf den Terrorlisten von EU und USA befindet, während gleichzeitig Hunderte junger Männer aus Europa in den Reihen des IS morden.

Interview: Karl Faust

** Aus: junge Welt, Dienstag 12. August 2014


Sommergerede über Völkermord

René Heilig ist entsetzt über deutsche Hilflosigkeit gegen den IS ***

Wenn das politische Berlin in Urlaub ist, kann jeder Zurückgebliebene sagen, was ihm einfällt. Fast alles wird gedruckt und gesendet. So begrüßt Grünen-Chef Özdemir die US-Luftangriffe gegen den »Islamischen Staat« (IS) ebenso wie Washingtons Waffenlieferungen an die Peschmerga-Milizen. Die CDU-Mannen Uhl und Wellmann entdecken in Barsanis Kurden plötzlich eine westlich orientierte Ordnungsmacht, die sie umgehend aufrüsten wollen. Gregor Gysi sieht die »eigentliche Tragik« darin, dass es den Vormarsch der IS-Banden nicht geben würde, hätten die USA nicht zuerst Krieg gegen Irak geführt. »Wir müssen endlich lernen, dass Kriege die Probleme der Menschen nicht lösen, sondern zuspitzen.« Richtig. Und nun?

Es gehört keine Fantasie dazu, um zu wissen, dass Menschen, die auf der Flucht vor dem Tod in Gebirgsschluchten verenden, eine ganz andere Tragik erleiden. Also: Was unternimmt Deutschland in der UNO, um die Weltgemeinschaft – was immer das ist – in Verantwortung zu bringen? Wer schreibt mit an der EU-Sanktionsliste gegen die Mächte hinter dem IS? Welche Vorschläge gibt es für eine Feuerpause in Syrien? Zieht Deutschland seine Raketen aus der Türkei ab, wenn sich der NATO-Partner nicht bewegt? Wann verständigt man sich mit Iran über Hilfe und nimmt die PKK, deren Kämpfer sich auch gegen die IS-Mörder stellen, von der Terrorliste?

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 12. August 2014 (Kommentar)


Zurück zur Irak-Seite

Zur Irak-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage