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Flucht zur Insel der Glückseligen

In den kurdischen Teil Iraks nördlich von Mossul sind bisher keine ISIS-Truppen vorgedrungen – die Angst bleibt *


Kerstin Medya Rosan ist Heilpraktikerin aus Wuppertal. Sie war in der Vergangenheit mit Menschenrechtsdelegationen in der Südtürkei unterwegs. Derzeit hält sich die 41-Jährige bei Verwandten in Dahuk auf. Das nordirakische Gouvernement gehört zur Autonomen Region Kurdistan. Es liegt knapp 80 Kilometer nördlich der besetzten Stadt Mossul. Mit Kerstin Rosan sprach Marlene Göring.


Wo genau halten Sie sich gerade auf?

Im Auto auf dem Weg nach Dohuk, das ist die letzte größere irakische Stadt vor der türkischen Grenze. Sie liegt ungefähr drei Autostunden von Erbil und eine von Mossul entfernt.

Wie ist die Stimmung dort in der Bevölkerung?

Vor zwei Tagen gab es hier leichte Panik. Mossul ist das Versorgungszentrum der Region. Ein Großteil aller Sachen kommt von dort: Lebensmittel, Medikamente, Kleidung, Dinge des täglichen Bedarfs. Das Benzin wurde knapp, man sah fast einen Kilometer lange Schlangen an den Tankstellen. Im Moment hat sich das entspannt. Hamsterkäufe gibt es nicht mehr. Aber es ist deutlich weniger Verkehr auf den Straßen. Wir sind gerade über die Hauptstraße nach Dohuk gefahren, normalerweise die Hauptverkehrsader der Region. Wir hatten über Strecken völlig freie Bahn! Viele wollen abwarten, bleiben zu Hause und halten sich zurück. Manche halten ihre Geschäfte geschlossen.

Bisher ist es also ruhig?

Viele versuchen, nicht daran zu denken, was in Mossul passiert. Viele haben natürlich auch Angst. Aber die meisten sind überzeugt davon, dass sie in der Autonomen Region Kurdistan in Sicherheit sind. Für sie sind Krisen nichts Neues im arabischen Teil von Irak – alles, was außerhalb von Kurdistan liegt. Die Menschen haben sehr großes Vertrauen in die kurdische Regierung. Und bisher war es auch so, dass die solche Krisen immer ganz gut abwehren konnte. Man wähnt sich hier sozusagen auf einer Insel der Glückseligen.

Die Peschmerga, die Kurdische Grenzgarde, sind Mossul und Kirkuk nach dem Aufruf des irakischen Ministerpräsidenten Nur al-Maliki zu Hilfe gekommen.

Ja, denn die irakische Armee hat das Weite gesucht. Das ist ziemlich seltsam. Es kann keiner nachvollziehen, wieso eine komplette Armee alles stehen und liegen lässt – inklusive Waffen und Gerät und Autos –, wenn ein paar Islamisten auf Lkw in die Stadt einfallen. Deshalb vermuten viele hier hinter dem Ganzen auch politische Ränkespiele. Bisher sollen acht Islamisten durch die Peschmerga getötet und 20 gefangen genommen worden sein. Allerdings hat die irakische Regierung jetzt bekannt gegeben, dass sie keinen Einsatz der Peschmerga außerhalb von Kurdistan mehr möchte.

Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Suchen sie eher im Grenzgebiet Schutz oder im Landesinneren?

Die kurdischen Flüchtlinge haben sich zum großen Teil nach Kurdistan gewendet. Viele versuchen auch, in die Türkei zu kommen, weil sie dort Verwandte haben.

Wie werden die Flüchtlinge in Ihrer Region aufgenommen?

In Dohuk ist ein größeres Lager mehr oder weniger fertig. Viele Flüchtlinge sind auch in anderen zivilen Einrichtungen untergebracht. Die Schulen haben hier im Moment Ferien, deswegen stehen sie leer und werden genutzt, ebenso Moscheen. Die Bevölkerung ist aufgerufen, sich zu beteiligen, zu spenden. Das tut sie auch: Kurden sind ein sehr hilfsbereites Volk, und ein Großteil der Flüchtlinge sind Kurden, die in Mossul gelebt haben. Dohuks Stadtverwaltung hat versucht, das zentral zu organisieren. Es gibt in Dohuk auch eine Vertretung vom UNHCR. Inwiefern die schon in irgendeiner Form aktiv geworden ist, weiß ich nicht.

Das Auswärtige Amt hat zur sofortigen Ausreise aufgerufen. Was haben Sie als nächstes vor?

Ich bin auf Verwandtschaftsbesuch bei meiner Schwägerin, die eigentlich aus der Türkei stammt, hier aber seit einigen Jahren lebt und arbeitet und zwischen den Ländern pendelt. Wir sind sozusagen auf kaltem Fuß durch die Entwicklung erwischt worden. Ich bleibe aber wie geplant bis Anfang nächster Woche in der Region. Es gibt einige Ausländer, die im Auftrag ihrer Firmen hier sind – türkische, aber auch deutsche, die Recyclinganlagen bauen oder anderes. Im kurdischen Teil Iraks hat es in den letzten zehn Jahren einen wirtschaftlichen Boom gegeben. Wie diese Leute sich verhalten werden, weiß ich nicht.

* Aus: neues deutschland, Freitag 13. Juni 2014


ISIS zeigt Ankara die Muskeln

Unklare Motive für die Geiselnahme von Mossul / Experte warnt vor zweitem Afghanistan vor türkischer Haustür

Von Jan Keetman *


Der Dschihadistenvormarsch in Irak hat auch die Türkei getroffen. Seit Dienstag befinden sich 49 Personen in Geiselhaft, die aus dem türkischen Konsulat in Mossul entführt worden waren.

Auf den ersten Blick mag man sich die Augen reiben: Da vertreiben Kämpfer der Organisation Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) erst die Truppen des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki aus Mossul und nehmen dann als erstes das Personal des türkischen Konsulats als Geiseln. 31 türkische, mutmaßlich mehrheitlich türkisch-kurdische Lkw-Fahrer, unterwegs von der Türkei nach Irak, waren kurz zuvor ebenfalls als Geiseln genommen worden. Am Donnerstag kamen sie wieder frei.

Dies alles sieht nach einer Verletzung des Prinzips aus, wonach meines Feindes Feind mein Freund ist. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und sein irakischer Kollege Nuri al-Maliki sind geschworene Feinde. Die Türkei hat auch den sunnitischen Politiker und ehemaligen Vizepräsidenten Iraks Tariq al-Haschimi aufgenommen, der wegen angeblich in Auftrag gegebener Terrorakte in Bagdad in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Erdogan, selbst Sunnit, ist auf diese Weise fast zum Advokaten der Sunniten in Irak geworden, Warum also ist ISIS gegen die Türkei?

Es fehlt nicht an Verschwörungstheorien. Eine davon behauptet, dass die Geiselnahme mehr zum Schein erfolgte, um die US-amerikanische Regierung zu täuschen, von der es ohnehin heißt, dass ihr die Beziehungen Ankaras zu Al Qaida nahestehenden Gruppen in Syrien zu weit gehen. Doch solcher Theorien bedarf es gar nicht. Die radikalen Islamisten im Nahen Osten sind keineswegs vereint, und es ist schier unmöglich, zu ihnen allen gute Beziehungen zu unterhalten.

Außerdem setzte Ankara in Syrien auf salafistische Gruppen, die von Katar unterstützt werden. Die wurden aber von ISIS besiegt. Die Beziehungen zu ISIS sind – so weit stimmt eine Voraussetzung der Verschwörungstheorie – für Washington nicht akzeptabel.

Die Türkei hat sich entschieden, und ihre bevorzugten Partner in Irak sind ausgerechnet die Kurden. Sie beherrschen ein stabiles Gebiet mit einer Menge Erdöl. Mit ihnen können türkische Ölfirmen lukrative Förderverträge schließen. Irakisch-Kurdistan ist selbst ein kleiner, aber dank des Erdöls ebenfalls lukrativer Markt.

ISIS zeigt nun der Türkei die Muskeln. Vor allem geht es wohl darum, dass die Türkei sie als politische Größe anerkennt. Immerhin beherrscht ISIS fast alle Grenzübergänge nach Syrien und nun auch die Straßen durch das Gebiet von Mossul und hat die Möglichkeit, die Erdölpipeline zwischen beiden Staaten zu blockieren, von der sowohl Irak als auch die Türkei enorm profitieren. Eine andere Option Ankaras ist es, die irakischen Kurden in einem möglichen Krieg gegen ISIS zu unterstützen. Kurdische Peschmerga haben bereits das von irakischen Truppen ebenfalls geräumte Erdölzentrum Kirkuk übernommen.

Der türkische Außenpolitikexperte Cengiz Candar fordert zusätzlich eine Einigung mit den Kurden in der Türkei und in Syrien. Bisher hatte Ankara Islamisten in Syrien gegen die dortigen Kurden unterstützt. Candar fragt, ob die Türkei wirklich mit einem zweiten Afghanistan vor der Haustür leben wolle. Wobei er ISIS als noch radikaler als die Taliban einstuft.

* Aus: neues deutschland, Freitag 13. Juni 2014


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