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Kerry auf unmöglicher Mission

In Bagdad will der US-Außenminister retten, was mit dieser Führung kaum noch retten ist

Von Roland Etzel *

Angesichts der weiter vorrückenden Dschihadisten in Irak versichert US-Außenminister Kerry in Bagdad die bedrängte Regierung seiner Unterstützung. Alarmiert zeigt sich jetzt auch Jordanien.

US-Außenminister John Kerry ist am Montag in Bagdad angekommen – überraschend, wie der staunenden Öffentlichkeit offiziell von dpa mitgeteilt wird, denn der Besuch war seit Tagen angekündigt. Aber – und das ist kennzeichnend für die militärische Situation in Irak – nicht einmal der Bagdader Luftraum ist noch so sicher, dass sich US-amerikanische Minister getrauen, ihr Eintreffen zeitlich festzulegen. Auch sonst ist Kerrys Mission einigermaßen rätselhaft. Ministerpräsident Nuri al-Maliki, Washingtons Mann in Bagdad, erhofft sich von ihm mindestens die Rettung seines Amtes.

Die Aussichten dafür stehen denkbar schlecht. Maliki scheint seine politische Zukunft hinter sich zu haben, obwohl es gerade erst Wahlen gab in Irak und der Premier diese von den verkündeten Ergebnissen her auch noch gewonnen hat. Vor allem militärisch sieht es ganz düster aus. Schien es vorige Woche noch so, als könnte der Vormarsch der sunnitischen Glaubenskrieger auf die Hauptstadt Bagdad mit Hilfe kurdischer Elitetruppen zum Stehen gebracht werden, kommen jetzt wieder Hiobsbotschaften in Bagdad an.

Die Sunniten, besser: die Kämpfer der Gruppe Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) suchen nicht die Konfrontation mit den Kurden in Nordirak, sondern gehen, von Syrien und vermutlich auch Jordanien kommend, wieder direkter auf das südlicher gelegene Bagdad vor. Zwar heißt es von dort, dass sich täglich Hunderte Schiiten als Freiwillige für die Armee melden, aber die Leute sind nicht ausgebildet.

ISIS, meldete dpa am Montag, habe am Wochenende weitere Orte im Norden und Westen Iraks eingenommen, seine Stellungen ausgebaut und steht offenbar vor einer strategisch wichtigen Eroberung: nämlich des zweiten großen Wasserkraftwerks am Tigris; die größte Anlage nahe Mossul liegt bereits im ISIS-Herrschaftsgebiet, einschließlich der Talsperre als Trinkwasser-Reservoir.

Kerry wird versuchen, Maliki zu weitgehendem Machtverzicht zu überreden und eine sehr breite Koalitionsregierung zu bilden mit allen Kräften, die dazu bereit sind, vermutlich ohne Bezug zu den inzwischen bedeutungslosen Wahlergebnissen. Aber wer will noch mit dem Schiiten Maliki in ein Boot? Die Sunniten in Irak – auch die sehr vielen »Gemäßigten«, denn die Republik war bis zu Einmarsch der Amerikaner 2003 ein relativ religionsfreizügiger Staat – hat er vollständig diskriminiert. Aber auch die Vertreter seiner eigenen Glaubensrichtung verlangen einen Neuanfang ohne ihn.

Falls Kerry vorhat, wem auch immer Ratschläge zugunsten Malikis geben zu wollen, ist seine Mission zum Scheitern verurteilt. Zumal er laut eigener Aussage nicht viel mehr als warme Worte mitgebracht hat.

US-Präsident Barack Obama will offiziell keine Bodentruppen wieder nach Irak bringen. Washington redet noch immer nur vom »möglichst kurzen Einsatz von rund 300 Soldaten, die als Militärberater nach Irak geschickt werden sollen«.

Das würde aber bedeuten, man gibt den Maliki-Klüngel auf und lässt Bagdad entweder ISIS in die Hände fallen oder – was wahrscheinlicher wäre – überlässt der (schiitischen) Islamischen Republik Iran den alleinigen Beistand für die Glaubensbrüder in Bagdad.

Derweil melden Nachrichtenagenturen, Jordanien sehe sich von ISIS bedroht und mobilisiere nach dem Vorrücken von dessen Kämpfern. Trifft dies zu, ist es der klassische Fall von »Die Geister, die ich rief ...«. Schließlich gewährte Jordaniens König Abdullah II. mindestens seit 2012 allen bewaffneten Glaubenskriegern freien Durchgang nach Syrien.

Auch die EU erklärt inzwischen ihr Unwohlsein mit dem dschihadistischen Vormarsch. Jetzt zeigt man sich bestürzt, nachdem man ihre politischen Strukturen zum Rekrutieren und Spendensammeln besonders in Frankreich, aber auch in Deutschland mindestens geduldet hatte. Zum Auftakt des Treffens in Luxemburg forderte Außenminister Frank-Walter Steinmeier besorgt über den Vormarsch der ISIS-Dschihadisten in Irak: »Worauf es jetzt ankommt, ist die Bildung einer Regierung in Irak, die alle Regionen und alle Religionen einschließt.« So könnte weitere Unterstützung der sunnitischen Bevölkerung für die ISIS-Gruppen verhindert werden. Und man setzt auf Teheran, ohne es auszusprechen. »Ich hoffe, dass die Nachbarn Iraks ihr Interesse erkennen, dass die territoriale Integrität Iraks als Staat gewährleistet bleibt«, fügte Steinmeier hinzu. Sein britischer Kollege William Hague sagte, bei dem Treffen in Brüssel werde es auch darum gehen, wie man die Nachbarstaaten Iraks unterstützen könne.

Bei einem Angriff von Bewaffneten auf einen Gefangenentransport in der Nähe der Stadt Hilla sind unterdessen laut einheimischen Medien mehr als 50 Insassen getötet worden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 24. Juni 2014


Geplante Überraschung

Kerry in Bagdad: Auch die zweite Station auf der sechstägigen Rundreise des US-Außenministers war vorab nicht bekanntgegeben worden

Von Knut Mellenthin **


John Kerry hat am Montag, für die Öffentlichkeit überraschend, die irakische Hauptstadt Bagdad besucht. Nachdem er am Sonntag, ebenfalls unerwartet, Gespräche in Kairo geführt hatte, sollte der US-Außenminister sich laut offiziellem Plan des State Department eigentlich in Amman mit seinem jordanischen Kollegen Nasser Dschudeh treffen. Ob Kerry von Bagdad aus dorthin weiterfliegen würde, war zunächst nicht bekannt. Viel Spielraum ist nicht in seiner Planung, da er am heutigen Dienstag an der NATO-Außenministerkonferenz in Brüssel teilnehmen muß. Anschließend steht Paris auf seinem Zettel, wo Kerry sich nach Angaben des ­State Department, »mit den wichtigsten strategischen Partnern und Golf-Verbündeten treffen« will, »um über die Sicherheitsprobleme im Nahen Osten, einschließlich Iraks und Syriens, zu sprechen«. Welche Staaten dabei sein werden und ob es sich um eine Konferenz oder um eine Reihe von Einzelgesprächen oder eine Mischung von beidem handeln soll, wurde bisher nicht verraten.

Neue Regierung

In Bagdad wollte Kerry, ersten Meldungen zufolge, am Montag nicht nur mit Premier Nuri Al-Maliki sprechen, sondern auch mit »hochrangigen kurdischen und sunnitischen Führern«. Namen wurden zunächst nicht genannt. Offensichtlich ist aber vor diesem Hintergrund, daß Kerry sich nicht ganz spontan in allerletzter Stunde entschlossen hat, seinen offiziellen Reiseplan zu ändern und »auf Verdacht« nach Bagdad zu fliegen. Konkrete Verabredungen und Vorbereitungen müssen wohl schon vor einigen Tagen getroffen worden sein. Das muß nicht unbedingt die letzte »Improvisation« gewesen sein, mit der Kerry die Öffentlichkeit während seiner offiziell noch bis zum Freitag dauernden Rundreise verblüfft.

Im Zentrum der Gespräche in Bagdad stand die Neubildung der irakischen Regierung. Dieses Problem stellt sich – unabhängig davon, daß die USA Premier Maliki gern loswerden möchten – zwangsläufig, da Irak am 30. April ein neues Parlament gewählt hat. Bei einer Wahlbeteiligung von 62 Prozent wurde Malikis Rechtsstaatskoalition stärkste Einzelpartei. Mit 92 Abgeordneten verfügt sie aber über weniger als ein Drittel der 328 Sitze. Maliki, der zur Zeit nur übergangsweise amtiert, bräuchte also Partner, um wieder eine Regierung unter seiner Führung zu bilden. Die zweitstärkste Kraft im neuen Parlament, der vom schiitischen Kleriker Muktada Al-Sadr geführte Block mit 34 Mandaten, hat sich aber eindeutig gegen eine dritte Amtszeit Malikis ausgesprochen, der seit 2006 an der Spitze der Regierung steht.

Schweigen zu ISIL

Kerry sagte am Sonntag nach Abschluß seiner Gespräche in Kairo routinemäßig, daß die USA nicht damit beschäftigt seien, Individuen für die Führung des Irak auszusuchen oder irgendjemand zu empfehlen. Aber mit der derzeitigen Situation seien sowohl Sunniten als auch Kurden und sogar Teile der Schiiten unzufrieden. Es fiel auf, daß der Außenminister sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Ajatollah Ali Al-Sistani, die höchste religiöse und politische Autorität der irakischen Schiiten, berief. Der über 80jährige hatte vor wenigen Tagen die Bildung einer »effizienten« Regierung gefordert, die »die Fehler der Vergangenheit vermeiden« und alle Iraker repräsentieren müsse.

Eine »Regierung der nationalen Versöhnung«, wie es gelegentlich heißt, ist allerdings kaum anzubahnen, solange sich die Terroristen der ISIL (bzw. ISIS) und ihre zahlenmäßig sehr viel stärkeren sunnitischen Verbündeten, darunter auch viele ehemalige Baathisten, weiter auf dem Vormarsch befinden. Es fiel in diesem Zusammenhang auf, daß weder Obama am vorigen Donnerstag noch Kerry die Verbrechen dieser Front – unter anderem die massenhafte Erschießung von Hunderten gefangener Soldaten und Zivilisten – verurteilten und sie zur Einstellung ihrer Angriffe aufforderten.

Kerrys Besuch in Kairo am Sonntag war von der Anstrengung geprägt, das ägyptische Militärregime aufzuwerten, das seit dem Putsch im Juli 2013 Tausende von Todesurteilen gegen mutmaßliche Anhänger der Muslimbrüder und des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi verhängt hat. Kerry vermied jede Kritik an Militärchef Abdel Fattah Al-Sisi, der seit dem 8. Juni auch als Präsident amtiert. Als Gastgeschenk hatte der US-Außenminister die Botschaft mitgebracht, daß der Kongreß 580 Millionen Dollar Militärhilfe freigegeben habe, die nach dem Putsch auf Eis gelegt worden waren. Die Junta dankte am Montag, indem sie drei Journalisten von Al-Dschasira zu Gefängnisstrafen zwischen sieben und zehn Jahren verurteilen ließ.

** Aus: junge Welt, Dienstag 24. Juni 2014


Krieg gegen wen?

Ein militärisches Eingreifen der USA im Irak könnte auch die schiitischen Milizen zum Ziel haben

Von Knut Mellenthin ***


US-Präsident Barack Obama hat am vergangenen Donnerstag angekündigt, daß seine Regierung »bereit« sei zu »gezielten und genauen militärischen Aktionen« im Irak, »falls und wenn wir zu der Entscheidung kommen, daß die Lage am Boden das erfordert«. Er fügte eine wichtige Aussage hinzu: »Falls wir das tun, werde ich mich eng beraten mit dem Kongreß und den Führern im Irak und in der Region.«

Obama hat damit unmißverständlich seinen Anspruch angemeldet, daß letzten Endes er allein – als Oberkommandierender der Streitkräfte im Sinne der Verfassung – entscheiden will, ob und wie die USA im Irak aktiv werden. Der Regierung in Bagdad wird dabei lediglich eine »beratende« Funktion zugestanden. Daß der US-Präsident sie sogar nur an zweiter Stelle hinter dem US-Kongreß erwähnte, und daß er gleichzeitig auch die »Führer in der Region« einbeziehen will, stellt eine zusätzliche Verhöhnung der irakischen Souveränität dar. Denn gemeint sind damit vor allem die reaktionären Regimes der arabischen Halbinsel, die die Terrorbanden im Irak ebenso wie in Syrien unterstützen.

Obama hat damit deutlich gemacht, daß er ein militärisches Eingreifen im Irak, falls er sich dazu entschließen sollte, in erster Linie mit dem »Recht« der USA begründen will, ihre vermeintlichen »strategischen Interessen« auch unter Verletzung der Souveränität anderer Staaten durchzusetzen. Und obwohl der gesamte Mainstream einstimmig berichtete, daß der Präsident Luftangriffe angekündigt habe, hat Obama diese Einschränkung in Wirklichkeit gar nicht gemacht. Er sprach nur allgemein von »targeted and precise military action«. Der Begriff »Luftangriffe« kam in seiner Mitteilung nicht vor, obwohl er ihn selbstverständlich hätte verwenden können, wenn er Wert auf Eindeutigkeit gelegt hätte.

Obama hat, genau betrachtet, nicht einmal den Einsatz von eigenen Bodentruppen oder Spezialkommandos wirklich definitiv ausgeschlossen. Er sagte nur: »American forces will not be returning to combat in Iraq.« Aber was damit konkret gemeint sein soll, ist, wie die Entwicklung in Afghanistan zeigt, ein Gegenstand von Haarspaltereien. Auch dort haben die US-Soldaten angeblich »keine Kampfrolle« mehr, töten aber trotzdem weiter Afghanen oder sterben, wie vor wenigen Wochen, im »friendly fire« eigener Kräfte.

Allgemein wird ohne zu hinterfragen unterstellt, daß Militärschläge der USA, falls es dazu kommen sollte, sich ausschließlich gegen die Terroristen der Gruppierung »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) richten würden. Ausgemachte Sache ist das aber keineswegs. Schließlich haben die USA jahrelang einen erbitterten und brutalen Krieg gegen die Milizen der irakischen Schiiten geführt. Muktada Al-Sadr, der jetzt seine vor einigen Jahren von den US-Besatzern und ihren einheimischen Kollaborateuren bekämpfte »Mahdi-Armee« wieder reaktiviert hat, stand damals auf der US-amerikanischen Fahndungsliste und wurde von Mordkommandos der CIA und der Spezialkräfte gejagt.

Ganz sicher ist nur, daß die USA, wovon Obama am Donnerstag auch sprach, ihre militärische Aufklärungs- und Überwachungstätigkeit im Irak, im Persischen Golf und im irakischen Luftraum in den letzten Wochen enorm verstärkt haben, um, wie der Präsident sich ausdrückte, »mehr Informationen über potentielle Ziele, die mit der ISIL verbunden sind«, zu sammeln. Daß dabei in Wirklichkeit aber auch riesige Mengen an Informationen über Standorte, Stärke und Bewegungen der schiitischen Milizen zusammengetragen werden, liegt auf der Hand.

*** Aus: junge Welt, Dienstag 24. Juni 2014


Kerrys Wettlauf

Olaf Standke über den Besuch des USA-Außenministers in Bagdad ****

Es hat inzwischen etwas von einem Wettlauf: Die ISIS-Verbände rücken immer näher auf Bagdad vor, der USA-Außenminister trifft in Kairo ein. Die Dschihadisten überrennen Grenzposten zu Jordanien und Syrien, John Kerry eilt in die irakische Hauptstadt. Noch ist Obamas Emissär schneller dort als die Terrorgruppe »Islamischer Staat in Irak und Syrien«. Aber Washingtons Nervosität zeigt sich auch an diesem Überraschungsbesuch. Geht es doch nicht nur um die Folgen für Irak, obwohl die schon fatal genug sein könnten, vom Bürgerkrieg bis zum Auseinanderbrechen in drei Teile. Der Vormarsch könnte tatsächlich zum angestrebten Islamisten-Kalifat führen, das auch weitere Staaten gefährdet und eine ganze Region destabilisiert.

Kerry soll nun im Eiltempo erreichen, was die Obama-Regierung bisher geradezu verantwortungslos versäumt hat: den noch unter Präsident Bush installierten schiitischen Premier Nuri al-Maliki davon zu überzeugen, die anderen Bevölkerungsgruppen im Zweistromland stärker einzubinden und so schnell wie möglich eine Regierung zu bilden, die die Interessen aller Iraker vertritt. Also mit Sunniten und Kurden auf Augenhöhe. Nur so bleibt vielleicht noch die Chance, nach dem offensichtlichen Zerfall der irakischen Armee den des ganzes Landes zu verhindern. Möglich aber auch, dass Kerry hier nur noch den sprichwörtlichen Hasen gibt.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag 24. Juni 2014 (Kommentar)


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