Islamischer Staat auf Beutezug
Die Neo-Fundamentalisten missbrauchen Religion zur Zerstörung der Nationalstaaten
Von Imad Mustafa *
Nicht zufällig hat der Islamische Staat (IS) in Irak und Syrien zuerst Gas- und Ölfelder und erst dann Städte erobert.
Seit Ausbruch des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 ist der von vielen erhoffte politische und soziale Umbruch ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Gesellschaften und Staaten des Nahen Ostens und von Teilen Nordafrikas haben sich in militärische und politische Grabenkämpfe verwickelt. Von Libyen über Ägypten, Libanon, Gaza, Syrien, Irak, Jemen sowie Iran leiden heute mehr Staaten der Region unter Krieg, Zerrüttung und politischer Instabilität als jemals zuvor. Die fast hundertjährige Ordnung des Nahen Ostens, 1916 zwischen Frankreich und Großbritannien im geheimen Sykes-Picot-Abkommen vereinbart, ist obsolet. Mehr noch: Hinsichtlich der herrschenden Zustände muss man den modernen Nationalstaat im Nahen Osten vorerst für gescheitert erklären.
Grenzziehungen zwischen Libanon und Syrien, Irak und Syrien oder auch der Türkei und Syrien existieren nur noch auf dem Papier. Ein Hindernis sind sie heute kaum noch für jemanden. In Nordirak zeichnet sich zwar immer deutlicher die Ausrufung eines unabhängigen kurdischen Staates ab. Doch bevor dieser überhaupt existiert, ist er auf militärische Hilfe von außen angewiesen, um sich gegen die Bedrohung durch den selbst ernannten Islamischen Staat (IS) behaupten zu können. Vom westlichen Irak dehnt sich dieser in den Norden des Landes und weiter ins nordöstliche Syrien aus.
Die verschiedenen syrischen Aufständischen andererseits können sich ungehindert zwischen der Türkei, Syrien sowie Libanon bewegen. Sehr früh hatte die Türkei ihre Grenzübergänge zwischen beiden Staaten für Waffen und Kämpfer geöffnet, um den Sturz des syrischen Präsidenten zu beschleunigen. Doch längst hat sich diese Dynamik verselbstständigt; die hunderte Kilometer lange Grenze ist für die Türkei angesichts dutzender Milizen, die mittlerweile in Syrien operieren, unkontrollierbar geworden. So ist der syrische Präsident Bashar al-Assad faktisch nur noch ein Warlord unter vielen.
Verantwortlich für diese Krise und den Kollaps ganzer Nationalstaaten sind aber nicht die verschiedenen fundamentalistischen Gruppen. Vielmehr sind sie ein Symptom des Zusammenbruchs, der in Irak und Libyen durch westliche Interventionen und eine verfehlte Nachkriegspolitik verursacht wurde. In Irak haben die USA Präsident al-Maliki jahrelang freie Hand gewährt, seine Politik entlang ethno-religiöser Linien auf Kosten der sunnitischen Minderheit zu betreiben. Dies rächt sich zusehends in Form einer weiteren Radikalisierung bestimmter Elemente der irakischen Gesellschaft.
In Syrien wurde der Staatszerfall durch das Scheitern eines (pan)arabischen Nationalismus und des damit verknüpften Entwicklungsmodells eingeleitet. Das angesichts der sozialen Verelendung weiter Teile der Bevölkerung angestaute Protestpotenzial wurde jahrzehntelang mit harter Hand unterdrückt. Es ist daher kein Zufall, dass der arabische Frühling nur in säkularen Regimen ausbrach, die ihre Legitimationsgrundlage längst verloren hatten – anders als die arabischen Monarchien, die ihre Herrschaft auf die angebliche Zugehörigkeit zur Prophetenfamilie stützen können.
In das entstandene Vakuum konnte eine Phalanx von ultrakonservativen, neo-fundamentalistischen Gruppen stoßen, die sich zum Teil gegenseitig bekämpfen. An der Spitze dieser Bewegung steht der Islamische Staat, der nicht zuletzt deshalb so erfolgreich ist, weil seine Ausrufung des Kalifats ein authentisch islamisches Konzept zu begründen sucht, das an das vermeintlich goldene Zeitalter des Islams anknüpft und damit große Strahlkraft besitzt.
Der scheinbare Traditionalismus des IS offenbart sich bei genauerem Hinsehen aber als räuberische Variante einer postmodernen Überwindung des Nationalstaats, der die Religion – mit furchtbaren Folgen für Minderheiten und Andersdenkende – für seinen Beutezug missbraucht. Nicht zufällig wurden zuerst Öl- und Gasfelder und erst danach Städte wie das irakisch-kurdische Mossul und Al-Rakka in Syrien erobert. Dies erhöht natürlich die Attraktivität des IS für deklassierte junge Männer ohne Perspektive, auch aus dem Westen. In dieses Bild passt die systematische Verfolgung und Vertreibung Hunderttausender irakischer Christen, Jesiden und weiterer Minderheiten, deren Besitz enteignet und unter den selbst ernannten Gotteskriegern verteilt wird.
Zugleich offenbart sich an diesem Beispiel der höchst instrumentelle und opportunistische Umgang mit islamischen Rechtsgütern. Um diese Enteignungen zu legitimieren, wurden die Christen und andere Minderheiten von Mossul vor die Wahl gestellt, entweder zu konvertieren, eine Kopfsteuer zu zahlen oder den Tod zu wählen. All jene, die nicht konvertiert sind, wurden so zu Feinden des Islams, ihr Besitz als legitime Kriegsbeute deklariert. Dass ein solches Vorgehen aber nicht mit islamischen Rechtsgrundsätzen vereinbar ist, von einer erzwungenen Konvertierung ganz zu schweigen, scheint den IS nicht weiter zu stören, solange er seine Beutezüge fortsetzen kann.
Dies ist auch der große Unterschied des neofundamentalistischen IS zu eher »traditionellen« islamischen Fundamentalisten, wie sie in der Muslimbruderschaft, der Hamas oder auch der schiitischen Hisbollah zu finden sind. Diese orientieren ihre Handlungen an nationalen Zielen, die sie einem rationalen Kosten-Nutzen Kalkül unterziehen. Auch die Gewaltanwendung. Religion bleibt nach ihrem Verständnis zwar wichtiger Bestandteil der Politik, doch überwiegt bei allen diesen Gruppen das Primat des Politischen über dem Religiösen. Die Durchsetzung schariarechtlicher Bestimmungen wie die Steinigung ist ihnen genauso fremd wie Zwangskonvertierungen.
Bei der territorialen und politischen Neuordnung des Nahen Ostens können sie wegen ihrer Kompromissbereitschaft und Offenheit für demokratische Verfahren eine wichtige Rolle spielen. Bei aller gebotenen Vorsicht – moderatere Gruppen wie die Muslimbrüder und Hamas müssen als Teil der Lösung betrachtet werden und nicht als Teil des Problems. Angesichts ihrer breiten sozialen Verankerung würde sich eine dauerhafte Zurückdrängung aus dem politischen Prozess fatal auf die Friedensaussichten des Nahen Ostens auswirken und den Nihilisten vom Schlage des IS Tür und Tor öffnen. Mehrere Millionen Flüchtlinge und Hunderttausende Tote seit 2011 könnten dabei nur ein Vorgeschmack auf kommende Schrecken sein.
Von dem in Deutschland als Sohn palästinensischer Gastarbeiter geborenen Politologen und Orientalisten Imad Mustafa erschien u.a. das Buch »Der politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah« (Promedia Verlag Wien 2013).
* Aus: neues deutschland, Donnerstag 14. August 2014
Boko Haram steht nicht allein
Nigerias Terrorsekte erhält Hilfe auch aus dem Ausland
Von Martin Ling **
In Vergessenheit geraten sind sie nicht, doch ebenso wenig in Freiheit: Mehr als 100 Tage nach der Entführung von über 200 Schülerinnen durch die radikalislamische Terrorsekte Boko Haram in Nordnigeria fehlt von den allermeisten noch jede Spur und nur wenigen gelang bisher die Flucht. Doch auch wenn Ebola derzeit die Schlagzeilen bestimmt, läuft die zivilgesellschaftliche Kampagne »Bring Back Our Girls« (Bringt unsere Mädchen zurück) weiter und verstärkt den Handlungsdruck auf die Regierung von Goodluck Jonathan in Abuja. Die hat sich in dieser Causa bisher alles andere als mit Ruhm bekleckert, die Entführung zuerst nicht für bare Münze genommen, dann Tauschangebote Mädchen gegen vom Militär entführte Boko-Haram-Angehörige – darunter auch Ehefrauen – ausgeschlagen, um schließlich Boko Haram den totalen Krieg zu erklären. Seitdem nehmen die blutigen Auseinandersetzungen zu und dabei kommen viele Zivilisten ums Leben.
Erst seit der Entführung der Mädchen ist Boko Haram in die breitere internationale Öffentlichkeit gerückt und wird seitdem auch in ganz Nigeria als ernsthaftes Problem wahrgenommen. Dabei waren bis dahin schon seit den ersten Terroranschlägen der Boko Haram 2009 und dem parallel geführten Anti-Terrorkampf der Sicherheitskräfte in Nigerias Norden mindestens 5000 Todesopfer zu beklagen – ganz abgesehen von den unzähligen Verletzten und Traumatisierten.
Der Rachefeldzug der Islamisten gegen Staat und Gesellschaft, ausgelöst durch die Liquidierung der Führungskader um den Sektengründer Mohammed Yusuf durch Polizeibeamte im Sommer 2009, setzte eine kaum vorstellbare Gewaltspirale in Gang. In jenem Sommer wurde deren Traum von einem islamischen Gottesstaat in Borno nach einem von staatlichen Sicherheitskräften angerichteten Blutbad begraben. Etwa 1000 Mitglieder und Sympathisanten starben im Kugelhagel.
Wenige Jahre zuvor hatten zwölf nördliche nigerianische Bundesstaaten die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des inzwischen demokratisch legitimierten Staates benutzt, die Scharia als allgemein bindendes Recht einzuführen. Dies hatte die Sektenführer ermuntert, mit politischer und finanzieller Unterstützung einflussreicher Lokal- und Regionalpolitiker ihren Weg konsequent weiterzugehen. Schließlich soll die Terrorgruppe von den Gouverneuren mancher Bundesstaaten entweder Schutzgeld eingetrieben oder die Regionalregierungen sogar so weit in der Hand gehabt haben, dass sie selbst Steuern erhob.
Unterstützung erhält Boko Haram auch aus dem Ausland. Einerseits von den Ablegern Al-Qaidas in Afrika wie Al-Qaida im islamischen Maghreb (Aqmi), der somalischen al-Schabab und weiteren Gruppen wie Ansar Dine oder der »Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika« Mujao. Andererseits von potenten Stiftungen aus Katar und Saudi-Arabien, die das von Waffen- über Drogen- bis hin zum Menschenhandel reichende Spektrum der Einkommensquellen bereichern.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag 14. August 2014
Späte Radikalisierung des Kaukasus
Den Tschetschenen war ihre Religion Antrieb des nationalen Widerstandes
Von Irina Wolkowa, Moskau ***
Die religiöse Radikalisierung der Tschetschenen kam in der Zeit der Perestroika vor allem aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten.
Es gibt keinen Kopftuchzwang in Grosny, die meisten Frauen tragen es dennoch. Zu geschminkten Lippen und gezupften Augenbrauen. Und in Tschetscheniens Hauptstadt steht inzwischen eine der größten und prächtigsten Moscheen außerhalb der arabischen Halbinsel – der Wiege des Islam. Liebevoll restauriert wurde trotz des islamischen Bilderverbots auch das kriegszerstörte Mosaik von Scheich Mansur Uschurma. Mit stechendem Blick wacht er über die Söhne der Wölfin.
Sie ist die mythische Urmutter der Tschetschenen – auch das ist mit dem klassischen Islam nicht vereinbar. Zur Hymne, die ihr gewidmet ist, führte Scheich Uschurma die Seinen Ende des 18. Jahrhunderts in den Kampf gegen die russischen Eroberer. Es war der erste unter dem grünen Banner der Propheten. Die Lobpreisung wurde später Nationalhymne der Rebellenrepublik. Die sagte sich 1991 von Moskau los und wurde erst in zwei blutigen Kriegen wieder unter das Dach der russischen Verfassung zurückgebombt.
Zum Islam wechselten die zuvor mehrheitlich christlichen Völker des Nordkaukasus erst, um nicht gegen Glaubensbrüder das Schwert ziehen zu müssen. Die neue Religion war weniger Heilslehre denn Motor des nationalen Widerstands. Den konnte auch Stalin nicht brechen. Obwohl er frühzeitig versuchte, Politik und Religion zu entkoppeln. Beides ist im Islam eng miteinander verflochten. Geistliche Führer wie Uschurma sind meist auch militärische Oberbefehlshaber.
Gegen den Willen des Generalissimus entstand parallel zum angepassten offiziellen Islam, der Religion auf Kultur und Folklore reduzieren sollte, ein Netzwerk inoffizieller Moscheen, das sogar die kollektive Vertreibung 1944 überstand. In der Perestroika Mitte der 1980er Jahre tauchte es dann aus dem Untergrund auf.
Es war auch die Zeit, in der Missionare aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten in hellen Scharen in die UdSSR-Muslimregionen einfielen und dort den Wahhabismus verbreiteten – eine fundamentalistische, militante Seitenrichtung des sunnitischen Islams, der im Nordkaukasus bis dato unbekannt war. Diese Sendboten brachten indes nicht nur den Koran mit, sondern auch Geld für Waffen und Anleitungen zum Basteln von Bomben. Gravierende soziale Probleme im strukturschwachen Nordkaukasus verschafften ihnen regen Zulauf und sorgten für zunehmende Radikalisierung der Gemeinden. Ziel ist ein islamischer Gottesstaat vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer.
Zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung und Terroranschlägen, die als Kampf gegen die Kafiri – die Ungläubigen – deklariert werden, kam es daher nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in den Nachbarregionen. Dort, vor allem in der von ethnischen Konflikten und Clanfehden gebeutelten Vielvölker-Teilrepublik Dagestan, hat auch der unversöhnliche Flügel der tschetschenischen Separatisten sein neues Basislager aufgeschlagen. Dies vor allem, seit in Grosny Ramzan Kadyrow mit eiserner Hand für Ordnung sorgt. Auch er beruft sich dabei auf den Islam: den traditionellen, toleranten, der sich aus dem Adat – dem Gewohnheitsrecht der nordkaukasischen Völker – speist.
*** Aus: neues deutschland, Donnerstag 14. August 2014
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