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"Die USA sind ein Besatzerstaat"

Schiitische Regierung Iraks von ISIS-Truppen weiter hart bedrängt, doch nicht von jedem ist Hilfe erwünscht

Von Roland Etzel *

Der schiitischen Regierung Iraks steht das Wasser im Kampf gegen die ISIS-Sunniten bis zum Hals. Ein Glaubenskrieg ist es dennoch nicht.

»Islamischer Staat in Irak und Syrien« (ISIS), jene aus fanatisierten sunnitischen Freischärlern aller möglichen islamischen Länder rekrutierte kampfkräftige Truppe setzt der Regierungsarmee hart zu – bzw. dem, was von ihr übrig geblieben ist. Die schlecht geführten und wenig motivierten Soldaten wären den ISIS-Kämpfern zahlenmäßig überlegen, laufen aus den erwähnten Gründen aber scharenweise davon, unter Zurücklassung ihrer modernen, in den letzten Jahren vor allem von den USA gelieferten Waffen.

Die von Nuri al-Maliki, Ministerpräsident seit 2006, geführte, aus Schiiten bestehende Regierung hat die Sunniten hart diskriminiert und aus allen nennenswerten Staatsämtern entfernt. Dies mag nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 durch die US-Invasoren zunächst etwas von ausgleichender Gerechtigkeit gehabt haben; hatte doch Saddam, nominell ein Sunnit, seinerseits die Schiiten unterdrückt.

Es greift allerdings entschieden zu kurz, die Vorgänge in Irak als Religionskrieg zu bezeichnen. Allenfalls werden einmal mehr Glaubensbekenntnisse missbraucht, um Machtkämpfe weniger offensichtlich als solche erscheinen zu lassen. So sind weder die Schiiten in Irak und schon gar nicht die Sunniten dort Entitäten, die als einheitliche Blöcke gelten können.

Das zeigt sich dieser Tage bei den Schiiten. »Ihr« Ministerpräsident Maliki dürfte momentan auch in der eigenen Glaubensrichtung in Irak das Vertrauen ziemlich aufgebraucht haben. Auf der anderen Seite kann aber auch Saddams ehemalige sunnitische Elite – Beamte, Lokalpolitiker, Offiziere usw. – kaum als Verbündete von ISIS gelten. Mögen manche von ihnen auch eine gewisse Genugtuung für die jahrelangen Demütigungen durch Malikis Clique empfinden – vor dem Regime, welches ISIS errichten will, kann der religionsfernen Saddam-Gefolgschaft von einst eigentlich nur grausen.

Der in Westeuropa derzeit vermittelte Eindruck, dass die bedrängten Schiiten sehnlichst auf ein militärisches Eingreifen der US-Amerikaner zu ihren Gunsten warten, trifft auf jeden Fall nicht auf alle Schiiten zu. Für Maliki und einige weitere Profiteure der US-Besatzung mag es stimmen. Die Mehrheit der Schiiten aber würde es wohl am liebsten allein schaffen, wenn aber an ausländische Hilfe gedacht wird, dann wohl eher an eine der iranischen Glaubensbrüder als eine der amerikanischen »Ungläubigen«.

Moktada al-Sadr, Sohn eines ehemaligen Großayatollahs und einflussreicher schiitischer Geistlicher, war schon während der Besatzungszeit ein erklärter Feind der US-Armee auf irakischem Boden. Am Mittwoch hat er sich erneut vehement gegen die Präsenz selbst von US-Militärberatern im Land ausgesprochen. Die USA seien ein »Besatzerstaat«, sagte Sadr in einer Fernsehansprache. Er werde »nur internationale Hilfe für die irakische Armee akzeptieren, die nicht von Besatzerstaaten kommt«. Damit wandte sich der Schiitenführer gegen Vorstellungen der USA, der irakischen Regierung im Kampf gegen ISIS Militärberater zu schicken. Am Dienstag hatten die ersten ihre Arbeit in Irak aufgenommen.

Während der Besatzung war die etwa 60 000 Mann starke Mahdi-Armee von Sadr mächtigster Gegenpart der US-Truppen, denen er lange, heftige Gefechte lieferte. Erst im Frühjahr 2008 löste er die Miliz auf und gründete eine politische Bewegung.

** Aus: neues deutschland, Samstag 28. Juni 2014

Schiiten und Sunniten

Zum Islam bekennen sich weltweit etwa 1,3 Milliarden Menschen. Sie sind in Sekten gespalten, deren absolut größte mit 90 Prozent die Sunniten sind. Die Aufspaltung in Sekten vollzog sich nach dem Tod von Religionsstifter (Prophet) Mohammed (um 570 - 632) und den Kämpfen um seine Nachfolge. Die Sunniten entlehnen ihre Bezeichnung der Sunna, einer Sammlung von Mohammed autorisierter Gebote für alle Gläubigen.

Die zweitgrößte Sekte sind die Schiiten. Sie akzeptieren als Nachfolger (Kalif) des Propheten ausschließlich direkte Nachkommen Mohammeds. Dabei berufen sie sich auf Ali ibn Abi Talib, den Schwiegersohn Mohammeds und vierten Kalifen, als ersten legitimen Erben des Propheten. Der Name leitet sich her aus »Schia Ali« – der »Partei Alis«, also den Schiiten. Dessen Söhne wurden in der Folgezeit getötet. Der letzte Enkel Mohammeds starb 680 in der Schlacht bei Kerbela, heute eine Großstadt 80 Kilometer südlich von Bagdad. Kerbela ist den Schiiten deshalb eine heilige Stadt. Neben Sunniten und Schiiten gibt es einen Vielzahl weiterer islamischer Sekten.

In Iraks Nachbarland Iran ist der Schiismus Staatsreligion. Irak, Bahrain und Libanon sind die drei arabischen Staaten, in denen Schiiten eine relative Mehrheit bilden. roe



Sistani will schnell neue Regierung

ISIS-Kämpfer begehen Massenexekutionen **

Der höchste schiitische Geistliche in Irak, Großayatollah Ali al-Sistani, hat die politischen Kräfte des Landes aufgerufen, sich schnell auf eine neue Staatsführung zu einigen.

Bis zur ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments am Dienstag müssten die Parteien über die Besetzung der wichtigsten Posten eine Einigung erzielen, ließ Sistani in seiner Freitagspredigt in der Stadt Kerbela über einen Stellvertreter mitteilen. Das berichtete das irakische Nachrichtenportal Al-Sumaria.

Der schiitische Regierungschef Nuri al-Maliki möchte sich für eine weitere Amtsperiode wählen lassen. Führende schiitische, sunnitische und kurdische Politiker verlangen jedoch seinen Rücktritt und fordern eine Einheitsregierung. Sie machen ihn für den Vormarsch der ISIS-Milizen verantwortlich. Maliki lehnt jedoch eine »Regierung der nationalen Rettung« ab.

Kämpfer von ISIS haben nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in Nordirak bei Massenexekutionen mindestens 160 Personen getötet. Ausgewertete Satellitenaufnahmen aus der Stadt Tikrit gäben Hinweise auf ein »schreckliches Kriegsverbrechen«, teilte HRW am Freitag mit. ISIS meldete nach der Eroberung Tikrits am 11. Juni, man habe 1700 »schiitische Angehörige der Armee« getötet.

** Aus: neues deutschland, Samstag 28. Juni 2014


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