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Zweifelhafte Allianzen

Vormarsch auf Bagdad: Islamistenmiliz ISIL erhält Unterstützung von früheren Offizieren der 2003 aufgelösten irakischen Armee. Kurden fordern Dreiteilung des Landes

Von Karin Leukefeld, Beirut *

Vor einer Woche wurde die nord­irakische Stadt Mossul von einer zweifelhaften Allianz bewaffneter Gruppen eingenommen. USA, EU und Iran sprechen von »Terroristen« und bereiten militärische Unterstützung für den irakischen Präsidenten Nuri Al-Maliki vor. Andere sprechen von »Befreiung« und einem »Volksaufstand« gegen den »sektiererischen Diktator« in Bagdad. Der ehemalige irakische Vizepräsident Tarik Al-Haschemi, der vor der Todesstrafe außer Landes geflohen ist, sprach in der türkischen Tageszeitung Zaman von einem »Aufstand der Unterdrückten«. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht, Massenhinrichtungen begleiten den gewaltsamen Vormarsch auf die irakische Hauptstadt Bagdad. Angreifer und Verteidiger mobilisieren auf der Basis religiöser Zugehörigkeiten, Medien sagen einen Kampf der Sunniten gegen die Schiiten voraus.

Sollte das geschehen, wäre ein regionaler Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien im Gange. Der Ministerpräsident der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak, Neschirwan Barsani, sieht die Lösung in der Dreiteilung des Irak: Kurden im Norden, Sunniten im Westen, Schiiten im Süden (siehe Spalte). Das war auch der Plan von US-Strategen, als sie mit ihrer »Koalition der Willigen« 2003 in den Irak einmarschierten.

Am Dienstag meldeten Medien einen weiteren Vorstoß von Kampfverbänden auf Bakuba. Die Hauptstadt der Provinz Diala liegt 60 Kilometer von Bagdad entfernt. Die Provinz selbst grenzt an den Iran. Die USA haben 275 Elitesoldaten nach Bagdad entsandt, um ihre dortige Botschaft zu schützen. Die UN-Mission evakuierte derweil ihr internationales Personal in die jordanische Hauptstadt Amman. Die irakische Regierung mobilisiert junge Schiiten, um das Land zu verteidigen. Die Luftwaffe hat Angriffe auf Stellungen der Kampfverbände geflogen.

Die Kampfverbände sind allerdings nicht ausschließlich Gotteskrieger der Gruppierung »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS), der auch Kämpfer aus dem Ausland angehören. ISIL kämpft in einer Allianz mit Offizieren der von den USA 2003 aufgelösten irakischen Armee, die einen »Revolutionären Militärrat« gebildet haben, und mit der Nakbandi-Bewegung um Isset Al-Duri, dem ehemaligen Vizepräsidenten von Saddam Hussein. Zum neuen Gouverneur von Mossul soll inzwischen Oberst Haschem Al-Jammas ernannt worden sein. Ausgebildet an der Militärakademie in Mossul, hatte Jammas am Irak-Iran-Krieg (1980–88) und an der Kuwait-Invasion (1990) teilgenommen. Die libanesische Zeitung Al-Akhbar zitiert einen Angestellten der Provinzbehörde in Mossul, der sich zufrieden mit der Entwicklung zeigte. Man habe jetzt 20 Stunden Strom am Tag, früher seien es – wegen massiver Korruption – nur zwei oder drei gewesen. »Die Kämpfer profitieren von der Korruption in der Regierung in der Provinzbehörde«, sagte der Mann.

Teile von ISIL sollen mit erbeuteten Waffen wieder in Richtung Syrien unterwegs sein. Andere Verbände der Allianz haben sich auf den Vormarsch nach Süden gemacht. ISIL-Gruppen haben ihre Stützpunkte in den Provinzen Anbar, Diala, Salaheddin und Niniveh ausgebaut. Die westirakische Provinz Anbar grenzt an Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien. Sie besteht aus weitgehend unkontrollierbaren Wüstengebieten, durch die der Euphrat fließt, neben dem Tigris die wichtigste Wasserquelle für den Irak.

ISIL hat ihr Programm im Namen, sie plant ein Islamisches Kalifat im Irak und in Syrien. Der Militärrat will Berichten zufolge – ähnlich wie die Kurden im Norden des Landes – eine sunnitische Föderation durchsetzen, die sich auch vom Irak abspalten könnte. Die Nakbandi-Bewegung will den Sturz von Nuri Al-Maliki und seinem politischen System in Bagdad und die von den US-Besatzern 2003 verbotene Baath-Partei als erneuerte politische Kraft an die Macht bringen. Während die drei Gruppen sich auf die Sprachregelung »Sunnitische Revolution« für das Geschehen in Mossul geeinigt haben sollen, gibt es offenbar große Differenzen über den Umgang mit den Ressourcen als auch mit der Art der Verwaltung. ISIL verteilte inzwischen eine »Stadtverordnung«, derzufolge Rauchen und der Genuß von Alkohol verboten sind. Das islamische Recht der Scharia wurde verhängt, Frauen sollen sich »dezent« kleiden und möglichst nicht aus dem Haus gehen. Wie sich das auf Dauer mit der säkular geprägten Baath-Partei vertragen soll, bleibt abzuwarten.

Seit der von den USA geführten Invasion in den Irak 2003 zählen die irakischen Provinzen Niniveh, Tamim und Salahaddin zu den unruhigsten des Landes. Die Provinzhauptstädte Mossul (Niniveh) und Kirkuk (Tamim) sind die beiden wichtigsten Ölmetropolen im Nordirak. Samarra, Provinzhauptstadt von Salahaddin, ist für sunnitische und schiitische Muslime wegen der Askeri-Moschee von religiöser Bedeutung. Mossul und Samarra liegen zudem direkt am Tigris.

Seit dem Sturz von Präsident Saddam Hussein 2003 werden die Provinzen Niniveh und Tamim als »umstrittenes Gebiet« bezeichnet, dessen Kontrolle sowohl von der kurdischen Regionalregierung als auch von der Zentralregierung in Bagdad beansprucht wird. Anschläge in den von religiösen und ethnischen Minderheiten der Schabak und Jesiden bewohnten Gebiete haben in den vergangenen elf Jahren unzählige Todesopfer gefordert. Die Verbindungsstraßen von Mossul über Tal Afar und Sinjar sowie zum syrisch-irakischen Grenzübergang Rabia zählen zu den wichtigsten Schmuggelrouten für Waffen, Kämpfer und Flüchtlinge.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Juni 2014


Bündnis wiederbelebt

»Sunnitisch-islamisches Kalifat« gegen »schiitischen Halbmond« Von Karin Leukefeld, Beirut **

Nach monatelangen heftigen Kämpfen mit der Islamischen Front, der Nusra-Front und den kurdischen Selbstverteidigungskräften YPG hatte sich die Gruppierung »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL) Anfang 2014 aus den nordsyrischen Provinzen Aleppo und Idlib in die Wüstenregion um Rakka, Hassakeh und Deir Ezzor zurückgezogen. In dieser karg besiedelten Gegend im Osten Syriens leben Beduinen und Stammesverbände, die vom Nordirak über Syrien, Jordanien bis nach Saudi-Arabien ihren Geschäften nachgehen. Bis heute gelten den Menschen dort die – 1916 im Sykes-Picot-Abkommen von den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich gezogenen – nationalen Grenzen wenig. Das Leben organisiert sich abseits staatlicher Zentralgewalten in Damaskus oder Bagdad.

In dieser Wüstenregion wurde ein Bündnis wiederbelebt, das bereits nach dem Einmarsch der US-geführten Truppen 2003 entstanden war. ISIL ist aus dem 2003 im Irak entstandenen Al-Qaida-Ableger hervorgegangen. Militante, die einst gegen die US-Besatzung kämpften, konnten damals teilweise über Damaskus einfliegen und über die Grenze gehen. Das geschah zwar ungehindert, wurde aber vom syrischen Geheimdienst scharf kontrolliert. Nachdem Al-Qaida von den neu gegründeten irakischen Al-Sahwa-Milizen angegriffen worden war, tauchten die Kämpfer unter. Sie zogen sich in sichere Gebiete zurück, stellten sich »schlafend«, manche wurden bei ihrer Rückkehr nach Syrien festgenommen.

Auf Druck religiös operierender Gruppen der syrischen Opposition – und auf Forderung von Saudi-Arabien, Katar und anderen Golfstaaten – wurden einige dieser Kämpfer 2011 von der syrischen Führung freigelassen. Damaskus hatte sich erhofft, damit die bewaffneten Proteste dämpfen zu können, doch das Gegenteil war der Fall. Die Freigelassenen bauten weitere und bessere Kampfverbände auf und wurden mit Geld und Waffen »von arabischen Geschäftsleuten am Golf« gut ausgestattet. Je länger der Konflikt in Syrien dauerte, desto mehr engagierte sich die irakische Regierung von Nuri Al-Maliki in der Unterstützung von Damaskus. Das wiederum nahmen Teile des »irakischen Widerstands« zum Anlaß, Kontakt mit ISIL aufzunehmen. In dem Wüstengebieten zwischen Syrien und Irak entstand die Allianz zwischen ISIL, Kampfverbänden der westirakischen Stämme, der neuen irakischen Baath-Partei und Offizieren der von den USA 2003 aufgelösten irakischen Armee. Nicht weil es ideologische Übereinstimmung gibt, sondern weil sie die Maliki-Regierung als »Statthalter des schiitisch-muslimischen Gottesstaates Iran« sehen und ebenso stürzen wollen wie Syriens Präsidenten Baschar Al-Assad. Das wiederum deckt sich mit den Interessen Saudi-Arabiens, der Golfstaaten und westlicher Staaten, die den Einfluß Irans in der Region zerstören wollen.

Als Statthalter der USA und der EU soll Saudi-Arabien die arabisch-islamische Welt führen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet das saudische Königshaus gar als »strategischen Partner für Sicherheit und Stabilität in der Region«. Ziel der Saudis ist es, den »schiitischen Halbmond« (Iran, Irak, Syrien, Hisbollah) mit einem »sunnitischen Islamischen Kalifat« zu durchbrechen. Von seinen Anhängern wird der »schiitische Halbmond« als »Machtbogen des Widerstands« gegen westliche und israelische Einflußnahme bezeichnet.

Auch die Türkei trägt ihren Teil zu der Allianz um ISIL bei. Die libanesische Tageszeitung As-Safir berichtete, daß syrische Oppositionelle Tage vor dem Sturm auf Mossul Hunderte ausländische Kämpfer beobachtet hatten, die aus der Türkei die Grenze nach Syrien passierten, von wo sie in den Irak weiterzogen. Der türkische Geheimdienst sei offenbar darüber informiert gewesen und habe den Grenzübertritt nicht verhindert.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Juni 2014


Kurden übernehmen Ölmetropole Kirkuk

In einem Interview mit der britischen BBC hat der Ministerpräsident der autonomen Kurdenregion im Irak, Neschirvan Barsani, die Dreiteilung des Irak als »beste Lösung« für die aktuelle Krise im Land bezeichnet. Irak »vor Mossul« und »nach Mossul« sei nicht mehr der gleiche Irak, sagte er. Erste Priorität für die Kurden sei jetzt nicht, der irakischen Regierung in Mossul zu helfen, sondern »die kurdische Region zu schützen«. Die irakische Armee sei nicht dazu in der Lage, die Stadt im Norden wieder einzunehmen.

Sunniten müßten in den Prozeß einer politischen Lösung einbezogen werden. Die Rolle von ISIL sei nicht zu leugnen, doch sei die Entwicklung in Mossul vor allem »die Folge einer falschen Politik in Bagdad«, sagte Barsani. Die Sunniten fühlten sich von der schiitisch dominierten Regierung Nuri Al-Maliki drangsaliert und hätten sich deswegen erhoben. Für den Premier sehe er keine politische Zukunft mehr im Irak. »Es gibt kein Vertrauen mehr in Maliki«, so der Kurdenpolitiker. Er halte das kurdische Modell für das beste Vorbild auch für die Sunniten, so Barsani. »Sie müssen entscheiden, was sie wollen. Aus unserer Sicht wäre der beste Weg für sie eine sunnitische Region, wie wir sie in Kurdistan haben.«

Die kurdische Autonomieregierung hat von dem Vorstoß von Kampfverbänden in Mossul profitiert. Unmittelbar, nachdem ISIL und irakische Verbündete die Stadt eingenommen hatten, marschierten kurdische Peschmerga-Truppen in Kirkuk ein, wo sich die zweitgrößten Ölfelder des Irak befinden. Seit Entdeckung des Öls haben die Kurden die Kontrolle über die Metropole gefordert, die sie als Teil des irakischen Kurdistans sehen. Unter Saddam Hussein waren viele Kurden aus Kirkuk in andere Landesteile umgesiedelt worden. Die neue irakische Verfassung sieht ein Referendum der Bewohner von Kirkuk vor, ob sie sich den kurdischen Autonomiegebieten anschließen oder weiter von der Zentralregierung in Bagdad regiert werden wollen.

Um das Ergebnis zu den eigenen Gunsten zu wenden, waren kurdische Familien von der Regionalregierung nach 2003 ermuntert worden, sich in Kirkuk anzusiedeln. USA und die UNO rieten wiederholt, das Referendum zu verschieben, um keinen innerirakischen Krieg zu riskieren. Nun ist es unwahrscheinlich, daß die kurdische Regionalregierung die Kontrolle über die Ölstadt wieder abgeben wird. (kl)




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