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Kämpfe um Flughafen

Aufständische im Irak: Sturm auf Bagdad hat begonnen. ISIL besetzt weitere Stadt. Regierungschef Maliki macht Saudi-Arabien und Katar verantwortlich

Von André Scheer *

Im Irak sind die Kämpfer des »Islamischen Staats im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) sowie andere Aufständische am Montag weiter auf Bagdad vorgerückt. Me­dienberichten zufolge gab es Kämpfe in der Umgebung des internationalen Flughafens der Hauptstadt. Sprecher von Stammesmilizen erklärten, der Sturm auf die Metropole habe begonnen. Die ISIL stelle dabei jedoch nur »geringe fünf bis sieben Prozent« der gegen das Regime kämpfenden Kräfte, sagte ein Vertreter im Fernsehsender Al-Arabiya.

Im Nordwesten des Landes besetzte ISIL nach heftigen Kämpfen die Stadt Tal Afar zwischen der syrischen Grenze und Mossul. In dieser seit der vergangenen Woche von den Islamisten kontrollierten Millionenmetropole haben diese einem Bericht des irakischen Onlineportals Almada Press zufolge 1700 Studenten einer Luftwaffenhochschule ermordet. Fotos von dem Massaker wurden im Internet verbreitet. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht.

Trotz der erneuten Rückschläge gab sich Maliki siegessicher. In einem Militärstützpunkt in Bagdad lehnte er die Verhängung des Ausnahmezustands erneut ab. »Die schwarze Intrige, die in Mossul geplant wurde, wird nur durch den Tod der Verschwörer beseitigt«, erklärte er einem Bericht des irakischen Staatsfernsehens Al-Iraqia zufolge. »Wir wissen nun, in welchen Staaten diese Intrige geplant wurde und welche Verschwörer unter den Politikern und Offizieren daran beteiligt waren. Der Irak muß von diesen Verbrechern gesäubert werden.« Teherans englischsprachiger Fernsehsender Press TV zitierte Maliki zudem mit den Worten, Saudi-Arabien und Katar seien für »die Sicherheitskrise« verantwortlich. Speziell das saudische Königshaus sei einer der wichtigsten Unterstützer des globalen Terrorismus.

Der von Dubai aus sendende Fernsehsender Al-Arabiya, der Angehörigen der saudischen Monarchie gehört, zeigt demgegenüber auf die türkische Regierung. Unter der Überschrift »ISIS: Ankaras verzogenes Kind?« macht der Kolumnist Mahir Zeynalov auf der englischsprachigen Homepage des Senders den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan als Urheber aus. Die türkischen Behörden hätten Waffenlieferungen an alle Gruppierungen geduldet, die in Syrien gegen die Regierung des dortigen Staatschefs Baschar Al-Assad kämpften, und geglaubt, diese stellten keine Bedrohung für die Türkei dar.

Noch nach dem Anschlag von Reyhanli im Mai 2013 habe sich Ankara nicht beeilt, gegen ISIL und die Al-Nusra-Front vorzugehen, kritisierte Zeynalov. Tatsächlich hatte Erdogan für das Attentat, bei dem offiziellen Angaben zufolge mehr als 50 Menschen getötet worden waren, die Regierung in Damaskus verantwortlich gemacht. Hinweise deuteten jedoch schon früh darauf hin, daß die Täter aus den Kreisen der syrischen Aufständischen stammten. Anfang Oktober 2013 bekannte sich dann ISIL zu dem Verbrechen. Deren Unterstützung durch Saudi-Arabien erwähnt Zeynalov allerdings nicht.

Vor dem Hintergrund solcher internationaler Konstellationen ist ein gemeinsames Vorgehen Washingtons und Teherans im Irak, über das in westlichen Medien spekuliert wird, eher unwahrscheinlich. Die Sprecherin des iranischen Außenministeriums, Marzieh Afkham, wies derartige Gerüchte am Montag erneut zurück. Der Iran könne nicht mit den USA als Verursachern der Unsicherheit im Irak kooperieren.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Juni 2014


Kurden halten Bagdad – aber nicht umsonst

ISIS-Dschihadisten kommen nicht weiter voran / US-Minister Kerry denkt an Kooperation mit Iran

Von Roland Etzel **


Die Kurden hielten Bagdad im Kampf gegen die Islamisten – und wollen nun ihre Eroberungen geltend machen. International sorgt das Chaos in Irak für unerwartete Annäherungen.

Plötzlich scheinen politische Absprachen möglich, die jahrelang als Tabubruch galten: US-Außenminister John Kerry hält eine Zusammenarbeit mit Iran bei der Krise in Irak für möglich. »Ich würde nichts ausschließen, was konstruktiv sein könnte«, sagte Kerry am Montag laut der Nachrichtenseite »Yahoo News« auf die Frage, ob er sich auch eine militärische Kooperation mit Teheran vorstellen könne. Grundsätzlich befürworte die US-Regierung »jeden konstruktiven Prozess, der die Gewalt verringert ... und die Präsenz von ausländischen terroristischen Kräften beendet«, ergänzte der US-Chefdiplomat.

Jene »Terroristen« – das sind die radikalsunnitischen Kampftruppen von Islamischer Staat und Irak und Syrien (ISIS), die die sunnitische irakische Regierung weiter hart bedrängen, aber in ihrem Bestreben, auf die Hauptstadt Bagdad vorzudringen, trotz heftiger Gefechte nicht weitergekommen sein dürften. Das ist aber offensichtlich weniger ein Verdienst der regulären irakischen Armee als vielmehr der kurdischen Peschmerga.

Die US-Rüstungsmilliarden für Bagdad mögen manchen schiitische Clan bereichert haben – zu einer verteidigungsfähigen Armee haben sie offensichtlich wenig beigetragen. Anders die im Guerillakampf erprobten Peschmerga (»Die dem Tod ins Auge Sehenden«). Sie haben bisher die Hauptlast im Kampf gegen ISIS getragen und verhindert, dass die Dschihadisten die Hauptstadt einnehmen. Das hat erwartungsgemäß seinen Preis.

Vor allem drängen die irakischen Kurden auf eine Erweiterung ihres Autonomiegebietes. Kirkuk, Mossul und Tikrit, die bevölkerungsreichsten Städte Nordiraks und zugleich Zentren der Ölförderung, sollen nach dem Willen der Kurdenführung ihrer Verwaltung unterstehen. Das verweigerte Bagdad bislang.

Die Peschmerga, heißt es in einer von dpa wiedergegebenen Erklärung, würden die für die Zentralregierung zurückgewonnenen Gebiete nicht verlassen, bis Bagdad Artikel 140 der irakischen Verfassung zur Anwendung bringe. Von der Nachrichtenseite »Al-Sumaria News« wird auf ein jahrelanges Versäumnis hingewiesen: Jener Artikel der nach dem Sturz des Präsidenten Saddam Hussein 2003 durch die USA geschriebenen Verfassung sieht ein Referendum für die Kurdenregionen des Iraks vor. Dies hat bisher nicht stattgefunden.

Die Bevölkerung der Provinzen Kirkuk, Salaheddin, Ninive und Dijala soll über eine Zugehörigkeit zur kurdischen Autonomieregion entscheiden. Sie werden zu großen Teilen von Kurden bewohnt, aber von Bagdad verwaltet. Ministerpräsident Nuri al-Maliki hatte eine Anwendung von Artikel 140 bisher verhindert.

Die USA haben unterdessen ein weiteres Kriegsschiff, die »USS Mesa Verde«, in den Persischen Golf entsandt. Es ist für amphibische Einsätze konzipiert und trägt ein senkrecht startendes Flugzeug.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014


Kämpfer für das islamische Kalifat

Die Terrorgruppe ISIS, die den Krieg jüngst wieder nach Irak getragen hat, könnte sich in den Osten Syriens zurückziehen ***

Der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Lakhdar Brahimi, hat die mangelnde internationale Bereitschaft, den bewaffneten Konflikt in Syrien politisch zu lösen, für das Erstarken der Terrorgruppe »Islamischer Staat in Irak und Syrien/in der Levante« (ISIS/ISIL) verantwortlich gemacht. Schon Ende 2013, also vor den Genfer Gesprächen über Syrien, habe er dem UN-Sicherheitsrat mitgeteilt, dass ISIS in Irak »zehn Mal aktiver ist als in Syrien«, sagte Brahimi der französischen Nachrichtenagentur AFP.

Nach monatelangen heftigen Kämpfen mit der Islamischen Front, der Nusra-Front und den kurdischen Selbstverteidigungskräften YPG hatte ISIS sich nach Rakka, Hassakeh und Deir Ezzor in den Osten Syriens zurückgezogen. In dieser karg besiedelten Wüstenregion wirken Beduinen und Stammesverbände aus Nordirak, Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien zusammen, ohne die Staatsgrenzen zu berücksichtigen. Dort wurde ein Bündnis wiederbelebt, das bereits nach dem Einmarsch der US-geführten Truppen 2003 entstanden war. ISIS, hervorgegangen aus der 2003 entstandenen Al-Qaida in Irak, schloss sich erneut mit Teilen des »irakischen Widerstands«, Kampfverbänden der westirakischen Stämme, der neuen irakischen Baath-Partei und Offizieren der von den USA 2003 aufgelösten irakischen Armee zusammen. Nicht weil es ideologische Übereinstimmung gibt, sondern weil sie die irakische Regierung unter Nuri al-Maliki, den sie als »Statthalter des schiitisch-muslimischen Gottesstaates Iran« sehen, stürzen wollen.

Zustimmung – und damit Waffen und Logistik – zum Sturm auf das nordirakische Mossul gab es von den ISIS-Geldgebern in Saudi-Arabien, Katar und anderen Golfstaaten. Sie wollen den »schiitischen Halbmond« (Iran, Irak, Syrien, Hisbollah) durch Schaffung eines (sunnitisch-) »Islamisches Kalifats« durchbrechen. In der Region wird der »schiitische Halbmond« von seinen Anhängern als »Machtbogen des Widerstands« gegen westliche und israelische Einflussnahme bezeichnet.

Die libanesische Zeitung »As Safir« berichtete, dass syrische Oppositionelle Tage vor dem Sturm auf Mossul Hunderte von ausländischen und arabischen Kämpfern beobachtet hatten, die aus der Türkei die Grenze nach Syrien passierten. Der türkische Geheimdienst sei offenbar darüber informiert gewesen, habe den Grenzübertritt aber nicht verhindert.

Nach dem Sturm auf Mossul sind Hunderte ISIS-Kämpfer mit erbeuteten Waffen wieder in den Osten Syriens zurückgekehrt, um ihren Kampf gegen die anderen Gotteskrieger fortzusetzen, berichtet »As Safir«. Die syrische Armee beobachtet das seit Monaten, greift aber nicht ein, weil es ihr nützt, wenn ihre Gegner sich gegenseitig umbringen.

Wie sich der Einzug kurdischer Peschmerga aus Nordirak in das von ISIS im Osten Syriens beanspruchte Gebiet auswirken wird, ist unklar. Möglich ist – unter Druck der Türkei – eine stille Übereinkunft, nicht gegeneinander zu kämpfen. Möglich ist aber auch die Entstehung einer weiteren Front in der Region. Karin Leukefeld

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014


Neue Mittelost-Allianzen

Roland Etzel zu möglichen neuen Annäherungen im Nahen Osten ****

Die Genf-Pleite soll sich im Fall Irak offenbar nicht so schnell wiederholen. Zwei Syrien-Konferenzen sind gescheitert, noch ehe sie richtig begannen; vor allem, weil eine Konfliktpartei nicht bereit war, der Islamischen Republik Iran eine Rolle im Krisensondierungsprozess zuzubilligen – es sei denn die neben Assad auf der Anklagebank. Ein Konferenzerfolg war im Sinne des öffentlich verkündeten Ziels so nicht erreichbar.

Vielleicht sind die Dschihadisten-Sponsoren sogar selbst etwas überrascht gewesen, dass es ihnen gelungen war, vor allem die USA in diese Sackgasse laufen zu lassen. Denn es kann – Assad hin, Iran her – Washingtoner Interessen in Nahost längerfristig kaum dienlich sein, unberechenbare und größenwahnsinnige Fanatiker politisch zu alimentieren.

Selbst wenn Teheran und Washington jetzt nur symbolisch eine Interessenübereinstimmung in Bezug auf Irak konstatieren sollten, dürfte es künftig schwerer fallen, Iran noch einmal zum Alleinbösewicht im Mittleren Osten zu erklären. Deshalb wird es dagegen lauten Widerstand geben: aus Saudi-Arabien, aus Frankreich, vor allem aber aus Israel und der Bellizistenfront im US-Kongress. Sie fürchten zu recht, dass die dem Römer Cato dem Älteren entlehnte Forderung, dass also Teheran auf jeden Fall zerstört werden müsse, nicht mehr gilt.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014 (Kommentar)


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