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Offensive gegen Christen

Irak: "Islamischer Staat" will "Schutzgeld" und greift Luftwaffenstützpunkt an

Von Karin Leukefeld *

Bei einer Serie von Explosionen sind am Samstag in Bagdad mindestens 26 Menschen getötet worden. Sicherheitskräfte gehen von fünf Autobomben aus, die in den Stadtteilen Abu Daschir, Baija, Dschihad und Kadhimija innerhalb kürzester Zeit gezündet wurden. In Abu Dashir fuhr ein Fahrzeug in einen Kontrollpunkt der Polizei. Bei der Explosion wurden sieben Menschen in den Tod gerissen. In Kadhimiya explodierten allein zwei Autobomben. Dort befindet sich einer der großen schiitischen Schreine, der den Ort zu einer bedeutenden Pilgerstätte schiitischer Muslime macht. Bisher hat niemand die Verantwortung für die Anschläge übernommen.

Sicherheitskräfte im Irak gehen davon aus, daß Kampfverbände der Gruppe »Islamischer Staat« (IS) für die Attacken verantwortlich sind. Die gezielten Angriffe in Wohnvierteln von mehrheitlich schiitischen Irakern soll diese dafür bestrafen, daß sie »Ungläubige« sind und die Regierung von Nuri Al-Maliki unterstützen. Auch Christen werden offen von IS bedroht. In Mossul wurde den christlichen Bewohnern am Samstag morgen ein Ultimatum gestellt. Sollten sie nicht bereit sein, zum Islam des Khalifats zu konvertieren, müßten sie »Schutzgeld« bezahlen. Wer dazu nicht bereit sei, für den »gibt es nichts anderes als das Schwert«, hieß es. Innerhalb weniger Stunden müßten die Christen ansonsten Mossul verlassen, drohte die Gruppe. Berichten arabischer Medien zufolge sind Zehntausende Menschen am Samstag in die nordirakischen autonomen Kurdengebiete geflohen. Die Fluchtwelle wurde vom Patriarch der Chaldäischen Kirche im Irak, Louis Sako, bestätigt.

Ein Mann, der die Stadt mit seiner gesamten Familie verlassen hatte, berichtete, daß »die Kämpfer an einem von ihnen besetzten Kontrollpunkt am Rande von Mossul einigen Familien das gesamte Geld und Schmuck abgenommen« hätten. Einige Häuser und Wohnungen seien bereits von IS-Rebellen beschlagnahmt worden, andere Familien hätten ihre Schlüssel den Nachbarn gegeben und darum gebeten, auf ihr Eigentum aufzupassen, bis sie zurückkehren könnten. Auch die Minderheiten der Jesiden, der Turkmenen und der Schabak werden von den IS-Kämpfern angegriffen. UN-Angaben zufolge sind insgesamt bereits mehr als 600000 Menschen aus Mossul und Umgebung geflohen.

In der Nacht zu Freitag sollen IS-Kampfverbände auf den Luftwaffenstützpunkt »Speicher« bei Tikrit vorgedrungen sein. Sie hätten dort stationierte irakische Truppen angegriffen und hätten das Flugfeld erreicht, hieß es in irakischen Medien unter Berufung auf einen irakischen Geheimdienstagenten, der den Angriff überlebte. Die Piloten hätten die dort stationieren Kampfjets fortfliegen können. IS hat im Internet erklärt, die Militärflugzeuge zerstört zu haben.

Begonnen hatte die IS-Offensive mit dem von verschiedenen irakischen Kampfverbänden und Stämmen unterstützten Einmarsch von Kämpfern der Gruppe in Mossul am 10. Juni. Türkische und kurdische Medien berichteten inzwischen, daß der Angriff auf die Stadt Anfang Juni bei einem Treffen in der jordanischen Hauptstadt Amman verabredet worden war. Amman ist seit Jahren Zentrum verschiedener irakischer Oppositioneller. Am vergangenen Mittwoch trafen sich dort auf Einladung der jordanischen Regierung rund 300 Vertreter der irakischen Opposition, die »in den politischen Prozeß im Irak nicht eingebunden sind«. Die Versammlung begrüßte das Geschehen im Irak als »Volksaufstand«. Der Kampf im Irak sei »Widerstand gegen die Unterdrückung der irakischen Schiitenregierung«, hieß es in einer Erklärung. IS werde von westlichen Medien aufgebauscht und sei eine zu vernachlässigende Größe, die wahren Kämpfer seien ehemalige irakische Militärs, Angehörige westirakischer Stämme und Mitglieder des Nakschabandi-Ordens. Deren »legitime Revolte« müsse unterstützt werden.

Das irakische Außenministerium rief aus Protest gegen die Versammlung seinen Botschafter in Jordanien zu Beratungen nach Bagdad zurück. Die Vereinten Nationen beschuldigen die IS-Kämpfer, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Sie hätten religiöse Führungspersönlichkeiten, Lehrer, Mediziner und staatliche Angestellte hingerichtet, Kinder für ihre Kämpfe rekrutiert und Frauen vergewaltigt, heißt es in einem UN-Bericht.

Die meisten IS-Kämpfer gelangen über die Türkei nach Syrien und in den Irak. In den vergangenen Tagen sollen sie in der Stadt Rakka zwei Frauen öffentlich gesteinigt haben. Zudem sollen sie bereits in der vergangenen Woche die größte Gasförderanlage Syriens, Schaar, überfallen haben. Nach im Internet veröffentlichten Bekennervideos von IS-Kämpfern sollen dabei weit über 200 syrische Mitarbeiter, Sicherheitskräfte und Stammeskämpfer getötet worden sein, die die Anlage schützen wollten.

* Aus: junge Welt, Montag 21. Juli 2014


Iraks verhängnisvoller Machtproporz

nd-Gespräch mit Mohammed Jassim al-Laban, Mitglied des Politbüros der IKP **


Mohammed Jassim al-Laban ist Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Iraks. Während seines jüngsten Deutschlandbesuchs auf Einladung der LINKEN beantwortete er Fragen des »nd« zur aktuellen Situation in seinem Heimatland.


Der Führer der Kurdischen Demokratischen Partei in Irak, Massud Barzani, hat erklärt, der irakische Staat sei »fertig«. Er strebe eine schnelle Abspaltung des kurdischen Nordens und ein Unabhängigkeitsreferendum an. Wie steht die Irakische Kommunistische Partei (IKP) zu diesen Bestrebungen?

Obwohl wir das Selbstbestimmungsrecht der Kurden anerkennen und in unserer Geschichte immer dafür eingetreten sind, betrachten wir diesen Schritt als übereilt. Barzani versucht, die Schwäche der Zentralregierung in Bagdad zu nutzen. Wir sind der Meinung, dass die geopolitischen Bedingungen nicht reif sind für einen unabhängigen kurdischen Staat allein in Irakisch-Kurdistan.

Lässt sich die territoriale Einheit Iraks überhaupt noch erhalten?

Ja, aber es ist wesentlich schwieriger geworden, weil die terroristischen Gruppen – Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS), d. Red. – jetzt große Gebiete von Irak besetzt haben. Damit besitzen sie auch Einfluss auf den politischen Konflikt im Lande.

Die der Bagdader Regierung wohlgesinnten Staaten verlangen von Ministerpräsident Nuri al-Maliki, er soll endlich den Weg für eine Einheitsregierung frei machen. Gibt es dafür noch eine Chance?

Ja, denn auf Grundlage der neuen Kräfteverhältnisse ist die Position Malikis geschwächt.

Ist die IKP auch für eine Regierung der Nationalen Einheit?

Wir sind die politische Partei, die das schon immer gefordert hat. Deshalb haben wir auch eine nationale Einheitskonferenz gefordert – unserer Meinung nach der einzige politische Weg aus dieser Krise.

Abgesehen vom kurdischen Sonderweg wird der derzeitige Krieg in Irak häufig als Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten dargestellt. Würden Sie dem zustimmen?

Dieser Krieg ist ein Versuch terroristischer Gruppen, den politischen Prozess in Irak zu beenden und wieder zu einer Diktatur zu kommen. Ihnen gegenüber steht eine weit gefächerte Gruppe von politischen Kräften, die zwar unterschiedliche Ansichten haben, aber alle ein demokratisches Irak aufbauen wollen. Wenn der Weg des Dialogs nicht gegangen wird, besteht die Gefahr einer Teilung des Landes oder eines Bürgerkrieges unter dem Deckmantel eines Religionskrieges. Er wäre ein Stellvertreterkrieg zwischen verschiedenen Machtzentren.

Fordert die IKP ein militärisches Eingreifen der US-Streitkräfte zugunsten der Regierung in Bagdad?

Unsere Partei lehnt eine militärische Intervention grundsätzlich ab, egal von welcher Seite. Wir sind der Meinung, diese Krise soll irakisch gelöst werden und mit friedlichen Mitteln.

Welche Stimme haben linksorientierte Kräfte derzeit in Irak?

Die linken und demokratischen Kräfte in Irak sind derzeit nicht sehr stark. Das hat seine Gründe vor allem in andauernder Verfolgung, ob unter Saddam Hussein oder danach im Krieg. Diese Jahre haben linkes Gedankengut in der Bevölkerung zerstört. Die Religion hat jetzt viel stärkeren Einfluss. Das hemmt alle Linken und Demokraten. Aber sie sind auf dem Weg, kleine, aber wichtige Erfolge zu erzielen; zum Beispiel bei der Wahl im April durch das Bündnis der zivildemokratischen Allianz. Sie kann fünf Abgeordnete ins Parlament schicken.

Warum ist es den ISIS-Milizen so schnell gelungen, die irakische Armee bzw. die schiitische Mehrheit in die Enge zu treiben?

Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist die verhängnisvolle Politik der irakischen Regierung. Sie basiert auf dem Prinzip einer ethnischen Machtteilung. Das hat auch die Armee und ihre Strukturen stark beeinflusst. Wir haben als Kommunisten schon vor Jahren gewarnt, dass dies Terroristen und deren Verbündeten in die Hände spielt. Die Quotierung nach religions- oder ethnischer Zugehörigkeit hat einen gelähmten Staat zum Ergebnis.

Wer finanziert die ISIS-Milizen und rüstet sie mit Waffen aus, sowohl in Syrien als auch in Irak?

Große finanzielle und militärische Unterstützung kommt aus Katar, aber auch aus der Türkei. Zweitwichtigste Quelle ist die Erpressung von Geschäftsleuten; es geht dabei um Millionen von Dollar. An dritter Stelle stehen Spenden aus dem Ausland. Viertens schließlich erbeutete ISIS einen Menge Waffen, die von der irakischen Armee bei ihrer Flucht aus Mossul und anderen Städten zurückgelassen worden waren. Weitere Einnahmen resultieren aus dem Verkauf von Öl aus von ISIS besetzten Gebieten. Deshalb will Russland eine UN-Resolution einbringen, die den Kauf von ins Ausland geschmuggeltem Öl unter Strafe stellt.

Angeblich sind auch Iraks Nachbarländer Jordanien und Saudi-Arabien besorgt. Welche Rolle spielen sie in dem Konflikt?

Jordanien macht sich große Sorgen, weil auch seine inneren politischen Verhältnisse nicht so stabil sind. Es besteht die Angst, dass dieser Konflikt das politische System unter Druck setzt.

Was Saudi-Arabien betrifft, so ist es so, dass ein Teil der Terroristen saudische Bürger sind. Im Lande selbst gibt es Institutionen und Personen, die die Terroristen unterstützen. Die Königsfamilie selbst hat Angst, dass Dschihadisten, die für ISIS kämpfen, irgendwann nach Saudi-Arabien zurückkehren und dort die Machtfrage stellen.

Ihre Partei ist eine der ältesten kommunistischen Parteien der arabischen Welt, wurde aber unter vielen Regierungen in Bagdad erbarmungslos verfolgt. Kann die IKP legal arbeiten?

Derzeit ist es so. Offen agieren können wir aber aufgrund der Kriegssituation nicht. Wir haben Büros, sind in verschiedenen Stadträten vertreten. Aber es gibt immer wieder Versuche, unsere Aktivitäten zu beschränken.

Welchen politischen Kräften im Lande fühlt sich die IKP verbunden?

Wir arbeiten für einen demokratischen, zivilen, laizistischen Staat. Deshalb sind unsere Verbündeten alle Kräfte, die so einen Staat in Irak aufbauen wollen.

** Aus: neues deutschland, Montag 21. Juli 2014


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