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Flucht aus Falludscha

Irak: Tausende Zivilisten verlassen umkämpfte Stadt. Angeblich Einigung zwischen Regierung und Terroristen

Von Karin Leukefeld *

Die irakische Armee will vorerst auf einen Angriff auf Falludscha verzichten. Man sei zu sehr »besorgt über mögliche zivile Opfer«, erklärte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Bagdad am Dienstag. Der Sprecher mußte einräumen, daß es den Streitkräften nicht gelungen sei, die islamistischen Kämpfer aus den südlichen Stadtteilen der Stadt Ramadi zu vertreiben. Ministerpräsident Nuri Al-Maliki hatte zuvor die Bevölkerung in Falludscha und Ramadi zum Kampf gegen die Islamisten aufgerufen. Das Krankenhaus in Ramadi meldete am Montag den Tod von vier Zivilisten, die offenbar im Kreuzfeuer getötet worden waren.

Das irakische Militär und die Polizei hatten sich vor einer Woche aus den beiden Städten westlich von Bagdad zurückgezogen, um einer Forderung der dortigen Opposition nachzukommen. Daraufhin waren bewaffnete Kräfte in Ramadi und Falludscha aufmarschiert, die der Gruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Syrien)« angehören. Am vergangenen Freitag hatten die Kämpfer Falludscha zu einem »Islamischen Kalifat« ausgerufen. Die irakische Regierung hatte daraufhin zusätzliche Truppen um die Stadt herum konzentriert. Ein Journalist in Falludscha, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollte, erklärte, die Kämpfer würden aus privaten Häusern auf die Streitkräfte am Rande der Stadt feuern. Die Armee schieße daraufhin zurück und zerstöre die Häuser. Tausende Zivilisten flohen in den letzten Tagen aus Falludscha.

Nach Angaben irakischer Journalisten in Bagdad und Falludscha sind die Kämpfer nicht von außen nach Ramadi und Falludscha eingedrungen. »Jeder weiß, daß die Bevölkerung von Falludscha gegen die Regierung in Bagdad ist und die Kämpfer aus den Stämmen und Familien dort kommen, es sind ihre Söhne«, meint der Journalist Kareem Ameen in Bagdad. Die Entwicklung sei »sehr bedrohlich«, da die Bevölkerung in Falludscha die irakische Armee »als das Heer von Al-Maliki betrachtet und nicht als nationale irakische Streitkraft«. Die Bevölkerung von Anbar mobilisiere ihre Jugend gegen die Regierung in Bagdad, die sie als Vertretung des Iran ansehe. Umgekehrt meldeten sich Hunderte junger Schiiten bei der Armee, um gegen die Islamisten in Anbar zu kämpfen.

Die irakische Regierung kooperiert sowohl mit dem Iran als auch mit den USA, die Bagdad die Lieferung von 100 Hellfire-Raketen und zehn Überwachungsdrohnen zugesagt hat.

Auch Rußland liefert Waffen an die irakischen Streitkräfte. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Ria Novosti waren bereits am vergangenen Freitag in dem südirakischen Hafen Umm Qasr 13 russische »Night Hunter«-Hubschrauber entladen worden. Eine erste Hubschrauberlieferung war im November 2012 eingetroffen. Die Lieferung ist Teil eines russisch-irakischen Rüstungsgeschäfts im Wert von 4,2 Milliarden US-Dollar. Rußland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant für den Irak.

Die deutsche Presseagentur dpa meldete am Mittwoch, daß die irakische Regierung sich mit Stammesvertretern in Falludscha geeinigt habe und die schwer bewaffneten Terroristen in Richtung ihrer Wüstenlager »verschwunden« seien. Die Vereinbarung sehe vor, daß die Stammesführer der Anbar-Provinz gemeinsam mit der lokalen irakischen Polizei für Sicherheit sorgen sollten. Die Stammesführer hätten sich verpflichtet, die Terroristen zu vertreiben, deshalb sei ein Einsatz der Armee nicht notwendig, sagte Al-Maliki laut dpa in einer Ansprache, die im staatlichen Fernsehen übertragen wurde. Er sehe keinen Grund, die für den 30. April geplante Parlamentswahl zu verschieben. Die Meldung stimmt mit Aussagen eines hochrangigen Stammesscheichs überein. Scheich Ali Al-Hammad hatte bereits am Montag vom Abzug der Kämpfer aus Falludscha gesprochen. Ein Journalist in Falludscha erklärte hingegen im Telefongespräch gegenüber jW: »Glaube niemanden, wenn er sagt, die Kämpfer hätten sich zurückgezogen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Januar 2014


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