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Body Count im Irak: Vernichtende Bilanz

Analyse. Die Zahl der Opfer, die die Kriege des Westens fordern, liegt deutlich höher, als üblicherweise behauptet

Von Joachim Guilliard *

Wie man den Äußerungen führender Politiker, beispielsweise während der diesjährigen Münchner »Sicherheitskonferenz«, entnehmen kann, ist die regierende große Koalition fest entschlossen, die Bundeswehr zukünftig häufiger in den Krieg zu schicken. Ein wichtiges Mittel gegen die intensiven Bemühungen, mehr Zustimmung in der Bevölkerung für die militärische Durchsetzung außenpolitischer Interessen zu gewinnen, ist es, die verheerenden Folgen der letzten Kriege des Westens einer breiten Öffentlichkeit vor Augen zu führen.

Bisher wurde ihr das Ausmaß der gesellschaftlichen Katastrophen, die sie verursachten, kaum bewußt. Dies ist durchaus so gewollt. Zwar werden militärische Angriffe und Besatzungen stets mit »humanitären« Zielen, wie dem Schutz von Bevölkerungsgruppen oder der Herstellung von Sicherheit und Ordnung, gerechtfertigt, Untersuchungen über ihre Auswirkungen erfolgen aber in der Regel nie. Im Gegenteil: die Regierungen und die führende Medien des Westens tun alles, um die wahren Folgen zu verschleiern oder zu verharmlosen.

Wenn Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Wehrministerin Ursula von der Leyen die angebliche bisherige »deutsche Zurückhaltung« bei westlichen Interventionen beklagen, so können sie damit nur das Nein zum Libyen-Krieg meinen, dessen Beginn sich im März zum dritten Mal jährte. Die angreifenden NATO-Mächte hatten damals monatelang Angriff für Angriff stets aufs neue behauptet, ihre Bombenkampagne gegen das ölreiche Land diene allein dem »Schutze der Zivilbevölkerung«. Wenn das stimmen soll, dann wäre die Bilanz vernichtend, denn Tausende Libyer und Libyerinnen haben diesen »Schutz« nicht überlebt. Fundierte Zahlen gibt es jedoch bis heute nicht. Die Schätzungen schwanken von 10000 bis 50000 Kriegstoten. Angesichts von 9700 Angriffsflügen, rund 30000 abgeworfenen Bomben und einem halben Jahr heftiger Bodenkämpfe dürfte die tatsächliche Zahl der Opfer aber wesentlich höher sein. Obwohl der Krieg vom UN-Sicherheitsrat legitimiert und im Westen als Anwendung des neuen Konzepts der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect) gewertet wurde, unterließen es die Vereinten Nationen, den Erfolg zu prüfen und die Zahl der dabei Getöteten sowie die sonstigen Auswirkungen auf die libysche Bevölkerung genauer zu untersuchen.

Auch im gleichfalls unter UN-Mandat laufenden Afghanistan-Krieg wurden bisher keine ernsthaften Untersuchungen über die Zahl der Opfer durchgeführt. Summiert man die Angaben der UN-Mission in Afghanistan UNAMA, so liegt die Zahl der toten Zivilisten für die bisherigen zwölf Jahre Krieg unter 20000.

Spiel mit den Kriegstoten

Der Krieg gegen den Irak, der 2003 begann, stand länger im Fokus der Öffentlichkeit, und eine ganze Reihe von Initiativen bemühte sich, die Zahl seiner Opfer zu erfassen. Repräsentative Umfragen, die Wissenschaftler auf eigene Initiative im besetzten Land durchführten, ergaben schon Mitte 2006, daß wahrscheinlich bereits über 600000 Iraker direkt oder indirekt durch den Krieg getötet worden sind.

Die Datenerhebungen über die Entwicklung der Sterblichkeit im Irak waren nach denselben Methoden und zum Teil von den gleichen Wissenschaftlern durchgeführt worden wie z.B. bei Studien in der südsudanesischen Provinz Darfur oder im Kongo. Während deren Ergebnisse unangefochten als Basis von UN-Resolutionen dienten, wurden die Forschungsergebnisse zum Irak sofort heftig von allen Seiten attackiert – mit durchschlagendem Erfolg: In den westlichen Medien wurden die Studien sofort als »umstritten« abgetan und in der Folge totgeschwiegen. In den Bilanzen zum 10. Jahrestag des Krieges wurde die Zahl der Kriegstoten in den meisten Medien mit rund 100000 beziffert, ohne die höheren Schätzungen überhaupt zu erwähnen. Laut Umfragen geht die Mehrheit der US-Amerikaner und Briten sogar davon aus, daß der Krieg ihrer Staaten höchstens 10000 Menschenleben gekostet habe.

Die Auseinandersetzungen über die Zahl der Opfer im Irak sind aus zwei Gründen wichtig. Zum einen ist es keine Nebensächlichkeit, ob 100000 oder eine Million Iraker in Folge des Krieges getötet wurden und ob sich die internationale Öffentlichkeit des Ausmaßes des Verbrechens dort genauso bewußt wird, wie des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs oder der Toten von Ruanda. Zum anderen ermöglichen Vergleiche der verschiedenen Methoden zur Ermittlung von Opferzahlen sowie die Erfahrungen über die diesbezüglichen politischen Auseinandersetzungen eine bessere Einschätzung der Angaben in anderen Kriegen und Konflikten.

Verschiedene Zählweisen

Die meist von den Medien angegebenen Zahlen basieren auf der Arbeit des britischen »Iraq Body Count« (IBC). Dieses Projekt versucht, die zivilen Opfer im Irak zu erfassen, indem es alle Fälle, die in renommierten englischsprachigen Medien gemeldet oder in Kranken- und Leichenhäusern registriert wurden, in einer Datenbank sammelt. Bis 2013 wurden so rund 110000 zivile Opfer ermittelt.

Die in sich stimmigen Ergebnisse der statischen Erhebungen der Johns Hopkins University in Baltimore, die 2004 und 2006 in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurden, sowie die des britischen Meinungsforschungsinstituts »Opinion Research Business« (ORB) von 2007 legen hingegen nahe, daß über eine Million Iraker dem Krieg, der Besatzung und dem dadurch entfesselten Wüten von Milizen zum Opfer gefallen waren – die meisten von ihnen ab Mitte 2005, Tendenz von 2003 bis 2007 stark steigend.

Als sorgfältigste dieser Studien gilt die Lancet-Studie von 2006, in deren Rahmen an 50 zufällig gewählten Orten 1850 Haushalte mit knapp 13000 Mitgliedern befragt wurden. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergab sie, daß von Kriegsbeginn bis Juni 2006 etwa 655000 Iraker mehr gestorben sind, als aufgrund der ermittelten Vorkriegssterblichkeit zu erwarten gewesen wären. Da keine andere Ursache für diesen gewaltigen Anstieg in Frage kommt, können diese zusätzlichen Todesfälle nur eine Folge des Krieges sein.

Obwohl renommierte Fachleute, einschließlich des leitenden wissenschaftlichen Beraters des britischen Verteidigungsministeriums, den Autoren der Studie bescheinigten, nach gängigen wissenschaftlichen Standards verfahren zu sein, wurden ihre Ergebnisse von den meisten Medien sofort als völlig überzogen abgelehnt.

Allein die große Diskrepanz zu der vom IBC registrierten Zahl der Toten – im Zeitraum der Studie 43000 – galt vielen als Beleg für die Unglaubwürdigkeit der Lancet-Studien. Doch sind die Zahlen gar nicht ohne weiteres vergleichbar, da ein unterschiedlicher Umfang von Opfern gezählt wird. Indem sie die Sterblichkeit vor und nach Kriegsbeginn vergleichen, versuchen Mortalitätsstudien die Gesamtzahl aller Menschen zu erfassen, die infolge eines Krieges starben. Initiativen wie IBC hingegen zählen als Kriegsopfer nur Zivilisten, die direkt durch kriegsbedingte Gewalt getötet wurden. Damit fallen nicht nur Kombattanten aus der Statistik, sondern auch alle, die an indirekten Kriegsfolgen wie mangelnder Gesundheitsversorgung, Hunger oder verseuchtem Trinkwasser starben. Die Zahl dieser Opfer liegt jedoch in den meisten Kriegen höher als die jener, die direkt getötet werden. Ohne genaue Untersuchungen vor Ort, läßt sich zudem weder zuverlässig feststellen, ob ein Toter Zivilist oder Kämpfer war, noch die genaue Todesursache. So wurden z.B. von US-Truppen getöteten Einheimische in den Pressemitteilungen der Besatzer, auf die sich wiederum die Meldungen westlicher Medien meist stützten, fast durchgängig zu feindlichen Kombattanten.

Realistische Schätzungen

Die Hochrechnung von knapp 2000 Familien aus 50 übers Land verteilten Orten auf die Gesamtbevölkerung ist selbstverständlich mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet. Die durch passive Beobachtung, d.h. durch bloße Registrierung gemeldeter Todesfälle gewonnenen Zahlen sind dennoch keineswegs solider. Wie Erfahrungen aus anderen Konflikten zeigen, kann in Kriegszeiten generell nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Opfer erfaßt werden. Dies kann mittels Stichproben in der über Internet zugänglichen Datenbank des IBCs auch für den Irak gezeigt werden.

Recht gut dokumentiert ist z.B. das Schicksal irakischer Ärzte. Von 34000 registrierten Ärzten wurden nach Angaben der unabhängigen Iraq Medical Association fast 2000 getötet, 20000 hatten das Land 2006 bereits verlassen. Der Iraq Body Count führt in seiner Datenbank jedoch nur 70 getötete Ärzte auf. Auch wenn dies teilweise an fehlenden Berufsangaben liegen kann, deutet dies bereits auf sehr großen Lücken hin.

Wie der Sprecher der von US-Verbündeten geführten Provinzregierung von Nadschaf, Ahmed Di’aibil, dem Nachrichtenportal Middle East Online 2007 mitteilte, wurden allein in dieser Stadt mit knapp 600000 Einwohnern von 2003 bis 2007 40000 nicht identifizierte Leichen begraben.In der IBC-Datenbank sind nur 1354 Opfer aus Nadschaf zu finden.

Selbst wochenlange Offensiven der US-Armee, mit massiven Luft- und Artillerieangriffen auf ganze Stadtviertel, hinterließen in der IBC-Datenbank oft nicht die geringste Spur. Häufig fand sich auch in den Fällen kein Eintrag, wo glaubwürdige Berichte einheimischer Zeugen über Dutzende Tote vorliegen.

Ein Abgleich der Todesfälle, die in den von WikiLeaks veröffentlichen Kriegstagebüchern der US-Armee aufgeführt sind, mit den Einträgen der IBC-Datenbank weist auf riesige Lücken bei beiden hin.[1] Nicht einmal jeder vierte Eintrag in den Tagebüchern konnte auch bei IBC gefunden werden, wobei die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung stark von Art und Schwere der Ereignisse abhängt. Verheerende Terroranschläge mit mehr als 20 Toten fanden sich zu 94 Prozent in beiden Listen. Das ist nicht überraschend, da über Bombenanschläge auf Menschenmengen breit berichtet wurde. Bei Fällen mit einem Toten gab es nur in 17 Prozent eine mögliche Entsprechung.

Letztlich ist der Faktor noch wesentlich höher, da beide Listen zum Teil dieselben Quellen nutzten und auf der anderen Seite die Opfer vieler Ereignisse in beiden fehlen. So haben z.B. die 27000 Bomben, die 2003 während der Invasion auf irakische Städte abgeworfen wurden, in der IBC-Datenbank so gut wie keine Einträge produziert [2] und enthalten die Kriegstagebücher kaum Angaben über die Opfer von Luftangriffen der US Air Force.

Wenn man sich das ungeheure Ausmaß der Gewalt in den Jahren 2005 bis 2008 vor Augen führt, wird die auf Basis statistischer Erhebungen geschätzte Zahl von einer Million Toten leider durchaus plausibel. Jeden Tag, so der renommierte US-amerikanische Nahostexperte Juan Cole zur Lancet-Studie von 2006, fanden schwere Kämpfe zwischen Guerilla, Stadtbewohnern und Stämmen auf der einen und US-Marines und irakischen Sicherheitskräften auf der anderen Seite statt, über deren Opfer kaum berichtet wurde. Es gibt etwa 90 Großstädte im Irak. Auch wenn es in den südlicheren meist ruhiger zuging als in Bagdad, so herrschte in vielen anderen ein durchaus vergleichbares Gewaltniveau wie in der Hauptstadt, wo die Leichenhäuser 2006 im Schnitt 100 Ermordete pro Tag registrierten. Für Basra, knapp halb so groß wie Bagdad, müsse man, so Cole, sicherlich mit 40 Toten pro Tag rechnen. Rechne man in allen anderen Städten nur mit täglich vier Ermordeten, so ergäbe dies mit Bagdad bereits 460 Tote pro Tag – die Hälfte der von der Lancet-Studie für 2006 geschätzten Zahl. Ein Großteil der Toten wurde jedoch in kein Kranken- oder Leichenhaus gebracht, sondern – der islamischen Tradition gemäß – innerhalb eines Tages unmittelbar vor Ort begraben.

Insgesamt wird die Zahl der Opfer in den Erhebungen eher unter- als überschätzt. Das liegt auch daran, daß die hohe Zahl von Verschleppten und Verschwundenen nicht berücksichtigt werden kann. Gemäß der Internationalen Kommission für vermißte Personen (ICMP) gelten im Irak zwischen 250000 und einer Million Menschen als Folge von über 30 Jahren Kriege und Konflikte als vermißt, die meisten von ihnen seit 2003. In einer dem UN-Menschenrechtsrat von zwanzig internationalen Menschenrechtsorganisationen vorgelegten Erklärung vom Februar 2013 wird allein die Zahl der Vermißten unter den Flüchtlingsfamilien seit 2003 auf 260000 geschätzt, die meisten von ihnen Opfer gewaltsamer Verschleppung. Insgesamt rechnen die Organisationen mit einer halben Million seit der US-geführten Invasion. Viele dieser Verschleppten und Verschwundenen sind vermutlich bereits tot, erscheinen aber in keiner Statistik.

Angaben zu den Tätern

Westliche Medienberichte konzentrierten sich sehr stark auf terroristische Gewalttaten, wie Autobombenanschläge auf zivile Einrichtungen, Selbstmordanschläge auf Märkte oder auf Pilgerströme etc. Diese erregten nicht nur sehr viel mehr Aufmerksamkeit und ereigneten sich in leicht zugänglichen Gebieten, sie paßten auch gut in das Bild, das die führenden Kreise im Westen vom Krieg zeichnen wollten. Berichte über die heftigen militärischen Auseinandersetzungen in den Hochburgen des Widerstands, über großangelegte Razzien wie auch zahlreiche tödliche Ereignisse an Checkpoints waren hingegen äußerst selten. Die Opfer von Bombenanschlägen und Selbstmordattentaten in Menschenmengen, Rekrutierungsbüros, Polizeistationen usw. sind daher sehr oft in der IBC-Datenbank aufgeführt, die von Luftangriffen aufgrund der mangelnden Berichterstattung von den heißen Kriegsschauplätzen nicht. Während laut Angaben der für die Lancet-Studie befragten Familien 30 Prozent der ermordeten Angehörigen von Besatzungstruppen getötet wurden – mehr als 13 Prozent durch Luftangriffe, wurden nur zehn Prozent der vom IBC erfaßten Toten Opfer der Besatzungstruppen, davon sieben Prozent von Luftangriffen.

Wie stark unterrepräsentiert die Opfer der ausländischen Armeen im IBC vermutlich sind, zeigt ein Vergleich mit der Zunahme von Luftangriffen. Um eigene Verluste zu minimieren, setzten die Besatzungstruppen ab 2005 in immer stärkerem Maße die Luftwaffe ein. Laut US-Militärangaben stieg die Zahl der Luftangriffe im Jahre 2005 um das Fünffache. 2006 gab es bereits mehr als 10500 Einsätze von Kampfflugzeugen zur »Luftunterstützung«, fast 30 pro Tag. 2007 vervierfachte schließlich die US Air Force die Zahl der Luftwaffeneinsätze gegenüber 2006 noch einmal und warf zehnmal so viele Bomben ab. Die IBC-Datenbank verzeichnet jedoch keine Zunahme von Luftangriffsopfern.

PLOS-Studie

Im Oktober 2013 wurden im Fachjournal PLOS Medicine die Ergebnisse einer neuen Mortalitätsstudie veröffentlicht.[3] US-amerikanische und kanadische Wissenschaftler hatten zusammen mit Wissenschaftlern des irakischen Gesundheitsministeriums von Mai bis Juli 2011 eine neue repräsentative Umfrage zur Entwicklung der Sterblichkeit durchgeführt.

Insgesamt »schätzen wir, daß der Krieg etwa eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat«, teilte die Leiterin der Studie, die Gesundheitsexpertin Amy Hagopian von der Washington University in Seattle mit. »Und das ist eine niedrige Schätzung.«[4]

Etwa 60 Prozent der Opfer wurden der Studie zufolge durch direkte Gewaltanwendung, wie Schüsse, Bomben- und Luftangriffe, getötet. Ein Drittel starb an indirekten Kriegsfolgen wie streßbedingten Herzinfarkten, dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, der Trinkwasserver- und der Abwasserentsorgung oder mangelnder Ernährung.

Die Wissenschaftler, darunter auch der Leiter der Lancet-Studie, setzten verfeinerte und konservativere statistische Methoden ein und bemühten sich durch Berücksichtigung von Einwänden gegen die Studie von 2006, Kritik an ihren Methoden von Anfang an den Boden zu entziehen. Sie erhielten dadurch eine schwer angreifbare, dafür aber auch relativ niedrige Schätzung mit einem sehr breiten Konfidenzintervall.[5]

Trotz der Diskrepanz zu den Schätzungen der früheren Studien, stützt sie diese mehr, als als sie zu widerlegen. Zum einen liegt ihre Hochrechnung um ein Mehrfaches über der Zahl, die Medien üblicherweise vermelden. Entsprechend gering war deren Echo. Zum anderen halten die beteiligten Wissenschaftler selbst ihr Ergebnis für eine Unterschätzung. Ein Problem ist die lange Zeit, die seit den Hochzeiten des Krieges vergangen ist. Ein noch gravierenderes sind die mehr als drei Millionen Flüchtlinge, die in die Studie nicht adäquat einbezogen werden konnten – und damit gerade die Familien, die besonders stark vom Krieg betroffen waren. Das 95-Prozent-Konfidenzintervall reicht von 48000 bis 751000, sein unterer Rand liegt damit sogar unter der Zahl des IBC. Auch dies ist ein Indiz für eine starke Unterschätzung der tatsächlichen Opferzahl.

Weitgehende Übereinstimmung gibt es in Bezug auf Täter und Waffen. Laut Lancet-Studie von 2006 wurden zwischen 2003 und 2006 mindestens 31,5 Prozent der Gewaltopfer von Besatzungstruppen getötet und 23 Prozent durch »andere«. In 45 Prozent der Fälle waren die Täter »unbekannt oder unsicher«. Die Autoren der PLOS-Studie nutzen eine feinere Unterteilung der Täter in »Koalitionstruppen«, »irakische Truppen«, »Milizen« und »Kriminelle«. Sie machen in 45,8 Prozent der Fälle die Besatzungstruppen und in 27 Prozent Milizen verantwortlich. Nur 16,7 Prozent der Täter sind hier »unbekannt«.

Betrachtet man den Zeitraum der Lancet-Studie, so überlappen sich die Konfidenzintervall durchaus in einem breiten Bereich. Während die Zahlen der PLOS-Studie zu niedrig erscheinen, dürften die der Lancet-Studie etwas zu hoch liegen. Eine Zahl von rund einer Million Opfern für die Zeit bis zum Abzug der US-Truppen im Dezember 2011 bleibt daher leider realistisch.

Für die Iraker ist der Krieg keineswegs vorüber – nach wie vor sterben viele aufgrund mangelnder Ernährung, vermeidbarer Krankheiten und wegen des miserablen Gesundheitssystems oder sie werden Opfer der Repression und der durch die Besatzung geschürten ethnisch und religiös motivierten Gewalt. Mittlerweile hat die Zahl der Gewaltopfer bereits das Niveau von 2008 erreicht.

Unabhängig von der Differenz der Ergebnisse bestätigt auch die neue Studie die Notwendigkeit statistischer Erhebungen. Auch wenn die Lancet-Studien möglicherweise zu hohe Schätzwerte errechneten, werden sie daher von Experten auf dem Gebiet nach wie vor verteidigt: Es wurden dort Methoden angewandt, die damals allgemein akzeptiert waren. Mit dieser Akzeptanz konnte »den anderen, viel zu niedrigen Studien etwas entgegengesetzt werden«, meinte etwa Paul Spiegel, stellvertretender Leiter der Abteilung für Programmunterstützung und Management beim UN-Flüchtlingskommissariat am 15.10.2013 gegenüber Al Dschasira. »Die Öffentlichkeit wäre ohne sie vermutlich des Ausmaßes der Todesfälle, die sich in dieser Zeit ereigneten, nicht gewahr worden.«

Sie zeigen auch, so Frederick Burkle Jr und Richard Garfield, Professor für öffentliches Gesundheitswesen an der Columbia University, daß solche Datenerhebungen in Kriegszeiten möglich sind. Nur so können zudem auch Informationen über die Täter ermittelt werden.

Man kann selbstverständlich die Erkenntnisse aus dem Irak nicht eins zu eins auf den Krieg in Afghanistan übertragen. Sie legen jedoch nahe, daß auch hier die Gesamtzahl der Opfer ein Vielfaches über der Zahl der gemeldeten liegt und 200000 übersteigen könnte – eine vernichtende Bilanz für eine NATO-Operation, deren Einsatzkräfte als »Internationale Sicherheits- und Unterstützungstruppe« firmieren.

Eine genauere Schätzung kann auch hier nur eine statistische Erhebung bringen. Friedens- und Menschenrechtsgruppen sollten daher verstärkt von der UNO und der eigenen Regierung die Durchführung solcher Untersuchungen fordern – in Afghanistan, in Libyen und an allen anderen Orten, wo die Bundeswehr und ihre Verbündeten im Einsatz sind. Mit größeren finanziellen Mitteln und mehr Personal ausgestattet, könnte die Zahl der befragten Haushalte stark erhöht und damit auch die Genauigkeit der Schätzung erheblich gesteigert werden.

Anmerkungen
  1. Dustin Carpenter, Tova Fuller, Les Roberts: WikiLeaks and Iraq Body Count: the Sum of Parts May Not Add Up to the Whole - A Comparison of Two Tallies of Iraqi Civilian Deaths. In: Prehospital and Disaster Medicine, Jahrgang 28, Heft 3, 2013
  2. Robert A. Pape: The True Worth of Air Power. In: Foreign Affairs , März/April 2004
  3. Die Public Library of Science (PLOS, deutsch: Öffentliche Bibliothek der Wissenschaften) ist ein nichtkommerzielles Open-Access -Projekt für wissenschaftliche Publikationen in den Vereinigten Staaten mit dem Ziel, eine Bibliothek wissenschaftlicher Open-Access-Zeitschriften und anderer wissenschaftlicher Literatur als frei verfügbare Texte aufzubauen.
  4. Dan Vergano: Half-Million Iraqis Died in the War, New Study Says , Household survey records deaths from all war-related causes, 2003 to 2011. In: National Geographic, 15.10.2013
  5. Ein Konfidenzintervall ist ein Intervall aus der Statistik, das die Präzision der Lageschätzung eines Parameters (zum Beispiel eines Mittelwertes ) angibt. Das Konfidenzintervall ist der Bereich, der bei unendlicher Wiederholung eines Zufallsexperiments mit einer gewissen Häufigkeit (dem Konfidenzniveau) die wahre Lage des Parameters einschließt.
Literatur
»Body Count – Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror«, IPPNW, März 2013, als PDF-Dokument zu finden unter: www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/­Body_Count_Maerz2013.pdf

* Joachim Guilliard arbeitet im Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg. Er betreibt den Blog »Nachgetragen«: jghd.twoday.net

Aus junge Welt, Samstag, 5. Juli 2014


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