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Bagdad im Jahr Null

Eine Reportage von Naomi Klein

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Artikel, den die bekannte Journalistin und Globalisierungskritikerin Naomi Klein in der Januar-Ausgabe der Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" veröffentlichte.


Schon einen ganzen Monat war ich in Bagdad, da fand ich endlich, wonach ich gesucht hatte. Eigentlich hätte der Irak, ein Jahr nach Kriegsbeginn, mitten in einem gewaltigen Bauboom stecken sollen. Aber trotz wochenlanger Suche hatte ich zwar Panzer und Militärfahrzeuge, aber noch keine einzige Baumaschine entdeckt. Dann sah ich ihn: einen Kran. Er war groß und gelb und eindrucksvoll, und ich dachte, da hätte ich endlich ein Stück von dem Aufbau vor mir, über den ich so viel gehört hatte. Aber im Näherkommen bemerkte ich, daß der Kran überhaupt nichts wiederaufbaute - keines der ausgebombten Regierungsgebäude, die überall in der Stadt noch in Trümmern lagen, und auch keine der vielen Stromleitungen, die immer noch nichts weiter als verschlungene Kabelhaufen waren, obwohl es bereits sommerlich heiß wurde. Nein, der Kran hievte nur ein gewaltiges Reklameschild auf ein dreistöckiges Haus. SUNBULAH HONIG: 100 Prozent NATUR, made in Saudi-Arabia.

Ein Honigtopf, der Fliegen lockt

Beim Anblick des Schildes erinnerte ich mich an einen Ausspruch, den Senator John McCain in vergangenen Oktober getan hatte. Der Irak ist "ein riesiger Honigtopf, der eine Menge Fliegen anlockt", sagte er damals. Mit den Fliegen meinte McCain die Halliburtons, die Bechtels und die Spekulanten, die in den Irak strömten, nachdem ihnen Bradley-Kampffahrzeuge und lasergesteuerte Bomben den Weg gebahnt hatten. Und der Honig, der sie anzog, das waren nicht nur ausschreibungsfreie Aufträge und der sagenhafte Ölreichtum des Irak, es waren die unzähligen Investitionschancen in einem gerade aufgeknackten, weit geöffneten Land - nach jahrzehntelanger Abschottung, erst durch die nationalistische Wirtschaftspolitik Saddam Husseins und dann die erstickenden UN-Sanktionen. (...)

Die Honig-Theorie des irakischen Wiederaufbaus entspringt dem beliebtesten Glaubensartikel der ideologischen Architekten des Krieges: Gier ist gut! Gut nicht nur für sie und ihre Freunde, sondern für die ganze Menschheit, ganz gewiß aber für die Iraker, Gier erzeugt Profit, der schafft Wachstum, und das wiederum produziert Jobs, Güter, Dienstleistungen und überhaupt alles, was irgendwer braucht oder wünscht. Gute Regierungen haben also die Aufgabe, die bestmöglichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Unternehmen ihrer bodenlosen Gier frönen können, damit sie ihrerseits die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen können. (...) Endlich ein Ort auf dieser Welt, wo man die Theorie in die Praxis umsetzen konnte, und zwar in ihrer unverfälschten, perfekten Form. Dieses Land mit seinen 25 Millionen Einwohnern würde nicht wiederaufgebaut werden, wie es vor dem Krieg war; es wäre ausradiert, einfach verschwunden. Statt dessen würde eine glitzernde Mustermesse der Laissez-Faire-Ökonomie aus dem Boden schießen, ein Utopia, wie es die Welt noch nicht gesehen hätte. (...)

Paul Bremers Schocktherapie

Acht Tage nach seiner Landung auf jenem Flugzeugträger (MISSION ACCOMPLISHED"!) machte Präsident Bush sich öffentlich die Vision der Neocons zu Eigen: Der Irak sollte zum Modell eines Unternehmerstaates werden und auf diese Weise die ganze Region erschließen. Am 9. Mai 2003 schlug Bush die "Einrichtung einer amerikanisch-mittelöstlichen Freihandelszone binnen eines Jahrzehnts" vor; drei Tage später schickte er Paul Bremer nach Bagdad, um Jay Garner abzulösen, der nur drei Wochen amtiert hatte. Die Botschaft war eindeutig: Die Pragmatiker hatten verloren; der Irak würde den Anhängern der reinen Lehre gehören.

Bremer, ein zum Unternehmer mutierter Diplomat der Reagan-Ära, hatte erst kürzlich seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, Schutt in Gold zu verwandeln: Genau einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September gründete er Crisis Consulting Practice, eine Firma, die multinationale Konzerne gegen Terrorismus-Risiken versicherte. An der Wirtschaftsfront verfügte Bremer über zwei Statthalter: Thomas Foley und Michael Fleischer, die Köpfe der Abteilung "Entwicklung des Privatsektors" der Provisorischen Koalitionsbehörde (CPA). Foley, ein Multimillionär aus Greenwich, Connecticut, seit langem mit der Familie Bush befreundet und ein "Pionier" der Wahlkampagne Bush/Cheney, hat den Irak als einen kalifornischen "Goldrausch" unserer Tage charakterisiert. Michael Fleischer, ein veriture capitalist, ist der Bruder von Ari Fleischer, dem früheren Sprecher des Weißen Hauses. Weder Foley noch Fleischer verfügen über irgendwelche diplomatische Erfahrung. (...)

Viele andere Posten in der CPA wurden ähnlich ideologisch besetzt. Die "Grüne Zone", diese Stadt in der Stadt, wo in einem früheren Palast Saddam Husseins das Besatzungshauptquartier residiert, wimmelte von Jungrepublikanern, die direkt aus der Heritage Foundation kamen und allesamt mit Aufgaben betraut waren, von denen sie zu Hause nur hätten träumen können. (...)

L. Paul Bremer, der vom 12. Mai 2003 der US-Besatzung im Irak vorstand, bis er am 28. Juni 2004 den ersten Morgenflug aus Bagdad erwischte und verschwand, räumt ein: "Bagdad stand buchstäblich in Flammen, als ich vom Flughafen kam." In einem einzigen heißen Sommer drückte er mehr schmerzhafte Veränderungen durch als der Internationale Währungsfonds in Lateinamerika während dreier Jahrzehnte.

Bremers erste wichtige Amtshandlung bestimmte die Tonlage seiner Politik: Er feuerte 500000 Staatsbedienstete, hauptsächlich Soldaten, aber auch Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Verleger und Drucker. Als nächstes riß er die Grenzen des Landes weit auf‚ was völlig unkontrollierte Einfuhren ermöglichte: Keine Zölle! Keine Abgaben, keine Grenzabfertigung, keine Steuern. Zwei Wochen nach seiner Ankunft erklärte Bremer, der Irak sei jetzt open for business.

Einen Monat später enthüllte Bremer das Kernstück seiner Reformen. Vor der Invasion war die irakische Wirtschaft, außerhalb des Ölsektors, von 200 staatseigenen Unternehmen dominiert worden, die von Zement über Papier bis zu Waschmaschinen alles produzierten. Im Juni 2003 flog Bremer zu einem Wirtschaftsgipfel in Jordanien und kündigte an, diese Firmen würden unverzüglich privatisiert. "Ineffektive Staatsunternehmen in Privathand zu bringen", sagte er, "ist entscheidend für die wirtschaftliche Erholung des Irak".

Im September setzte er, um ausländische Investoren in den Irak zu locken, eine ganze Serie radikaler Gesetze in Kraft, deren Großzügigkeit gegenüber multinationalen Konzernen ohne Beispiel. ist. Da gab es den Befehl 37, der den Steuersatz für irakische Unternehmen von ungefähr 50 Prozent auf einheitliche 15 Prozent absenkte. Dann kam Order 39, der es ausländischen Firmen erlaubte, irakische Einrichtungen zu 100 Prozent zu besitzen, soweit es sich nicht um Naturreichtümer handelte. Besser noch, Investoren konnten sogar 100 Prozent der Gewinne, die sie im Irak machten, außer Landes bringen; sie mußten sie weder reinvestieren noch versteuern lassen. Order 39 autorisierte sie, Leasinggeschäfte und andere Verträge für eine Dauer von 40 Jahren abzuschließen. Und der Befehl 40 hieß ausländische Banken unter den gleichen vorteilhaften Bedingungen im Irak willkommen. Alles, was von Saddam Husseins Wirtschaftspolitik übrigblieb, war ein Gesetz zur Einschränkung der Gewerkschaften u! nd von Kollektivverträgen. Über Nacht verwandelte sich der Irak aus dem isoliertesten Land der Welt in ihren, zumindest auf dem Papier, offensten Markt.(...)

Als Paul Bremer die baathistische Verfassung des Irak in den Schredder steckte, vergaß er ein kleines Detail zu erwähnen: Das alles war absolut illegal. Die CPA leitete ihre rechtliche Autorität aus der im Mai 2003 verabschiedeten UN-Sicherheitsratsresolution 1483 ab, die die Vereinigten Staaten und Großbritannien als legitime Besatzungsmächte im Irak anerkennt. Diese Resolution ermöglichte es Bremer, im Irak einseitig Gesetze zu erlassen. Dieselbe Resolution stellte aber auch fest, Washington und London hätten "ihre Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere auch nach dem Genfer Abkommen von 1949 und der Haager Landkriegsordnung von 1907, voll einzuhalten". (...) Die Konventionen bestimmen zugleich, daß eine Besatzungsmacht "öffentliche Gebäude, Grundbesitz, Wälder und landwirtschaftliche Einrichtungen" des besetzten Landes nicht besitzt, sondern vielmehr deren "Verwalter" und Wärter ist, der ihre Sicherheit bis zur Wiederherstellung der Souveränität gewährleisten muß.

Hier lag die eigentliche Bedrohung für den "Jahr-Null"-Plan: Weil die Aktiva Iraks den USA nicht gehören, können sie diese auch nicht legal verkaufen. Und nach dem Ende der Besatzung könnte eine irakische Regierung an die Macht kommen, die beschließt, daß die Staatsunternehmen öffentliches Eigentum bleiben oder daß ausländische Firmen, wie in der Golfregion üblich, einheimische Einrichtungen nicht zu 100 Prozent übernehmen dürfen. Käme es dazu, könnten Investitionen, die nach Bremers Regeln getätigt wurden, enteignet werden, ohne daß es für die betroffenen Firmen Rechtsmittel dagegen gäbe, weil deren Investitionen von Anfang an gegen das Völkerrecht verstoßen hatten. (...)

Bremers Privatisierungsfenster

Aber Bremer gab nicht auf. Ursprünglich hatte er dafür plädiert, die Macht einer direkt gewählten irakischen Regierung zu übergeben, aber Anfang November 2003 flog er zu einer privaten Begegnung mit Präsident Bush nach Washington und kam mit einem Plan B zurück. Danach sollte am 30. Juni 2004 offiziell die Besatzung enden - offiziell, aber nicht wirklich. An die Stelle der Koalitionsbehörde würde eine ernannte, von Washington ausgesuchte Regierung treten. Die internationalen Gesetze, die Besatzungsmächte daran hindern, Staatseigentum zu verkaufen, würden diese Regierung nicht binden; sie wäre statt dessen an eine "Übergangsverfassung" gebunden, ein Dokument, das Bremers Investitions- und Privatisierungsgesetze schützt.

Anfangs schien Plan B zu funktionieren. Bremer hatte sein legales Schlupfloch gefunden: Es würde ein Zeitfenster geben - die sieben Monate zwischen dem offiziellen Ende der Besatzungsherrschaft und dem vorgesehenen Wahltermin. Solange dieses Fenster offenstand, würden die Privatisierungsverbote der Haager und Genfer Konventionen nicht mehr gelten, während Bremers eigene Gesetze dank Art. 26 in Kraft blieben. Sieben Monate lang würden ausländische Investoren in den Irak kommen und Vierzigjahresverträge unterzeichnen können, um irakische Besitztümer zu erwerben. Falls irgendwann in der Zukunft eine frei gewählte Regierung im Irak beschließen sollte, die Regeln zu ändern, würden die Investoren auf Entschädigung klagen können.

Allerdings hatte Bremer einen nicht zu unterschätzenden Gegner: Großajatollah Ali al-Sistani, der höchste Geistliche der Schiiten im Irak, versuchte Bremers Plan in jeder Hinsicht zu blockieren: Er forderte, sofort direkte Wahlen abzuhalten, während die Verfassung erst nach diesen Wahlen und nicht etwa vorher geschrieben werden sollte. Beide Forderungen hätten, wären sie erfüllt worden, Bremers Privatisierungsfenster zugeschlagen. Aber als die schiitischen Mitglieder des Regierungsrates sich weigerten, die Übergangsverfassung zu unterschreiben, explodierten am 2. März 2004 vor zwei Moscheen in Kerbala und Bagdad fünf Bomben und töteten fast 200 Gläubige. General John Abizaid, der US-Oberbefehlshaber im Irak, warnte, das Land befinde sich an der Schwelle zum Bürgerkrieg. Erschrocken gab Sistani nach, und die schiitischen Politiker unterzeichneten die Übergangsverfassung. Es war die übliche Geschichte: Der Schock über einen blutigen Anschlag ebnete den Weg für noch mehr Schocktherapie.

Als Bremer das erste Mal nach Bagdad kam, konnte er noch mit einem Minimum an Personenschutz auf die Straße gehen. Während der ersten vier Monate seiner Amtszeit wurden 109 US-Soldaten getötet und 570 verwundet. In den folgenden vier Monaten stiegen, während Bremers Schocktherapie einsetzte, die US-Verluste fast auf das Doppelte: 195 tote GIs und 1633 Verwundete. Im Irak behaupten viele, da bestehe ein Zusammenhang; Bremers Reformen hätten den mit Abstand größten Anteil daran, daß der bewaffnete Widerstand solche Ausmaße angenommen hat.

Bremers erste Opfer

Da wären beispielsweise Bremers erste Opfer. Die Soldaten und Arbeiter, die er ohne Renten oder Abfindungen auf die Straße setzte, verschwanden nicht einfach geräuschlos. Viele schlossen sich sofort den Mudschaheddin an und bildeten das Rückgrat des bewaffneten Widerstands. "Einer halben Million Menschen geht es jetzt schlechter, und das ist der Wasserhahn, der den Aufstand am Laufen hält. Das ist ein alternatives Beschäftigungsprogramm", sagt Hussain Kubba, Chef der prominenten irakischen Kubba Consulting. Auch andere Opfer des Bremerschen Wirtschaftskurses sind nicht einfach schweigend abgetreten. Wie sich herausstellt, beschlossen viele Geschäftsleute, die ihre Firmen durch Bremers Investitionsgesetze bedroht sehen, auf ihre Art zu investieren - nämlich in den Widerstand. Wenn den Kämpfern die Kalaschnikows und anderen Waffen nicht ausgehen, liegt das zum Teil am Geld dieser Leute. (...)

Unmittelbar nach dem nominellen Ende des Krieges bewilligte der Kongreß 2,5 Milliarden US-Dollar für den irakischen Wiederaufbau, gefolgt von weiteren 18,4 Milliarden US-Dollar im Oktober 2003. Aber die irakischen Staatsbetriebe blieben demonstrativ ausgeschlossen, sie erhielten keine Wiederaufbauverträge, Die Milliarden flossen komplett an westliche Firmen, und die meisten Materialien für den Wiederaufbau wurden unter hohen Kosten aus dem Ausland eingeführt.

Angesichts einer Arbeitslosenrate von 67 Prozent stellen die über die Grenzen hereinströmenden lmportwaren und ausländischen Arbeiter für die Iraker eine Quelle enormer Ressentiments dar - noch ein offener Hahn, der dem Aufstand ständig Nachschub zufließen läßt. Und die Iraker brauchen nicht lange nach Symbolen dieser Ungerechtigkeit zu suchen: Überall stoßen sie auf das allgegenwärtige Wahrzeichen der Besatzung - die Sprengschutzwand. Auf diese drei Meter hohen Platten aus verstärktem Beton stößt man überall im Irak; sie trennen die Beschützten - die Leute in den Edelhotels, Luxuswohnungen, Militärstützpunkten und natürlich der Grünen Zone - von den Schutzlosen und Ausgesetzten. Als wäre das noch nicht ungerecht genug, werden alle Sprengschutzwände importiert Sie kommen aus Kurdistan, der Türkei oder sogar von noch weiter her, und dies ungeachtet der Tatsache, daß es im Irak einmal eine bedeutende Zementproduktion gab und ohne großen Aufwand wieder geben könnte.

Schattenaufbau Al Sadrs

Als ich Mahmud verließ, hörte ich, daß vor dem CPA-Hauptquartier eine große Demonstration stattfand. Anhänger des jungen radikalen Geistlichen Moktada Al Sadr protestierten gegen die Schließung ihrer Zeitung al Hawza durch die Militärpolizei. Die CPA beschuldigte al Hawza der Veröffentlichung "unwahrer Artikel", die "die ernste Gefahr von Gewalttätigkeiten heraufbeschwören" könnten. Als Beispiel wurde ein Artikel zitiert, der Bremer vorwarf, er "verfolge eine Strategie des Aushungerns des irakischen Volkes". (...)

In den schiitischen Slums von Bagdad bis Basra organisiert ein Netz von Al-Sadr-Zentren eine Art Schattenaufbau. Durch Spenden finanziert, schicken diese Zentren Elektriker los, um die Strom- und Telefonleitungen zur reparieren, bringen die örtliche Müllabfuhr in Gang, beschaffen Notstromaggregate, veranstalten Blutspendeaktionen und regeln den Verkehr, wo die Ampeln nicht funktionieren. Ja, und Milizen organisieren sie auch. Al Sadr sammelte die wirtschaftlichen Opfer Bremers ein, zog sie schwarz an und gab ihnen rostige Kalaschnikows. Seine Milizionäre schützten Moscheen und Staatsbetriebe, wenn die Besatzungsbehörden dies unterließen, aber in manchen Gebieten gingen sie auch weiter, mit fanatischen Aktionen zur Durchsetzung des islamischen Rechts, der Abfackelung von Läden, die Alkohol verkaufen, und der Terrorisierung unverschleierter Frauen. Tatsächlich handelt es sich bei dem phänomenalen Aufschwung, den Al Sadrs Version des religiösen Fundamentalismus genommen hat,! um einen weiteren Rückstoß der Bremerschen Schocktherapie: Hätte der Wiederaufbau die Iraker mit Jobs, Sicherheit und Dienstleistungen versorgt, hätte Al Sadr sowohl seine Sendung als auch viele seiner Anhänger verloren.

Während Al Sadrs Gefolgsleute am Rande der Grünen Zone "Nieder mit Amerika!" schrien, geschah in einem anderen Teil des Landes etwas, das alles ändern sollte. In Falludscha wurden vier amerikanische Söldner getötet, deren verkohlte und verstümmelte Leichen wie Siegestrophäen über dem Euphrat baumelten. Dieser Angriff versetzte den Neocons einen vernichtenden Schlag, von dem sie sich nicht wieder erholten. Die Vorstellung, im Irak zu investieren, hatte angesichts solcher Bilder nichts mehr von einem kapitalistischen Traum an sich; eher wirkte sie wie ein wahr gewordener Albtraum.

Die Konzerne kriegten kalte Füße

Obwohl die erste ausländische Bank seit 40 Jahren die Lizenz erhielt, im Irak tätig zu werden, hat HSBC immer noch keine einzige Niederlassung eröffnet; dabei kann sie das alle eben erst erlangten Rechte kosten. Procter & Gamble hat sein Joint Venture auf Eis gelegt, General Motors ebenfalls. Die US-Finanziers des Starwood-Luxushotels bekamen kalte Füße, und die Siemens AG zog den größten Teil ihres Personals aus dem Irak ab. Die Bagdader Aktienbörse hat ihre Pforten immer noch nicht geöffnet, ja, in der reinen Bargeld-Ökonomie des Irak kann man nicht einmal Kreditkarten benutzen. New Bridge Strategies, die Firma, die im Oktober 2003 getönt hatte, daß "ein WalMart das ganze Land übernehmen könnte", klingt heute erheblich bescheidener. "McDonald's wird dort in nächster Zeit nicht aufmachen", sagte Teilhaber Ed Rogers der Washington Post. Für WalMart gilt das gleiche. Die Financial Times verkündete, zum Geschäftemachen sei der Irak "die gefährlichste Gegend der Welt". A! lle Achtung: Mit ihrem Versuch, den weltweit besten Platz fürs Geschäftemachen zu kreieren, haben die Neocons es geschafft, daß er jetzt der schlechteste ist. Bisher wohl das vernichtendste Urteil über die Logik der Marktderegulierung.

Die Gewalttätigkeiten haben nicht nur bewirkt, daß keine Investoren kamen; sie zwangen Bremer, bevor er ging, viele Kernelemente seiner Wirtschaftspolitik aufzugeben. Die Privatisierung der Staatsbetriebe ist vom Tisch; statt dessen wurden mehrere staatliche Unternehmen zum Leasing ausgeschrieben, doch muß der etwaige Investor sich verpflichten, keinen einzigen Beschäftigten zu entlassen. Tausende der Staatsangestellten, die Bremer feuerte, sind wieder angeworben worden, und für den gesamten öffentlichen Sektor gab es spürbare Lohnerhöhungen. Die geplante Abschaffung des Lebensmittelprogramms wurde ebenfalls gestrichen - die Zeiten sind einfach nicht danach, Millionen Irakern die einzige Nahrungsquelle, auf die sie sich verlassen können, zu verstopfen.

Auch wenn der irakische Widerstand es geschafft hat, die erste Welle unternehmerischer Stoßtrupps in die Flucht zu schlagen, besteht doch kaum ein Zweifel, daß sie wiederkommen werden. Egal, wie die nächste irakische Regierung aussehen wird - nationalistisch, islamistisch oder marktorientiert -‚ sie erbt ein darnieder liegendes Land mit einer erdrückenden Schuldenlast. Es werden dann, wie in allen armen Ländern rund um die Welt, Männer in dunkelblauen Anzügen vom IWF an die Tür klopfen, die Kredite und wirtschaftliche Aufschwungsverheißung mitbringen, immer unter der Voraussetzung, daß die Regierung bestimmte Strukturanpassungen vornimmt, die natürlich anfangs recht schmerzhaft sein werden, aber am Ende das Opfer durchaus lohnen. (...)

Auch im Irak wird der freie Markt Einzug halten, aber der neokonservative Traum von der Umwandlung des Landes in ein marktwirtschaftliches Utopia ist schon gestorben. Die historische Ironie der irakischen Katastrophe besteht darin, daß die Schocktherapie-Reformen, von denen man die Auslösung eines Wirtschaftsbooms und den Wiederaufbau des Landes erwartete, statt dessen einen Widerstand entfacht und immer wieder angeheizt haben, der den Wiederaufbau letzten Endes unmöglich machte. Bremers Reformen setzten Kräfte frei, die die Neocons weder vorhergesagt hatten, noch zu kontrollieren hoffen konnten - von bewaffneten Erhebungen in den Fabriken bis zu Zehntausenden arbeitsloser junger Männer, die sich selbst bewaffneten. Diese Kräfte haben das irakische Jahr Null in das spiegelbildliche Gegenteil jener Vision verkehrt, die den Neocons vorschwebte.

* Naomi Klein, Jg. 1970, geboren in Montreal, gehört seit ihrem Bestseller "No Logo!" zu den Aktivistinnen der globalisierungskritischen Bewegung.

Aus: junge Welt, 23. Dezember 2004


Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien in der Januar-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Information und Bestelladresse:www.blaetter.de

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