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Iraker begehren auf

Proteste im Zweistromland gegen Versorgungsmängel, Korruption und Besatzer. Widerstand kaum von westlichen Medien beachtet

Von Joachim Guilliard *

In der arabischen Welt brodelt es. Ignoriert vom Gros der westlichen Medien hat sich auch im Irak in den vergangenen Wochen eine massive Protestbewegung ausgebreitet. Im Unterschied zu den Demonstrationen in anderen arabischen Ländern wird darüber hierzulande kaum berichtet – vielleicht weil so mancher ernsthaft glaubt, das Zweistromland ist seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 »befreit«? Allein am vergangenen Freitag wurden bei landesweiten Demonstrationen laut Nachrichtenagentur UPI mindestens 29 Menschen getötet und mehrere hundert verletzt. 300 Demonstranten sollen festgenommen worden sein. Die Washington Post berichtete von 23 Toten – mit sehr viel Verständnis für die Regierungskräfte.

Die getöteten Demonstranten sind nicht die einzigen Opfer der Repression. Zahlreiche Menschen, die aus politischen Gründen ermordet oder bei Razzien als angelbliche »Aufständische« getötet wurden, gehören dazu. Laut der vom Onlineportal »Iraqi Body Count« ausgewerteten Medien wurden im Januar insgesamt 388 und im Februar 254 Zivilpersonen getötet, die tatsächlichen Zahlen liegen erfahrungsgemäß beim Mehrfachen.

Bereits im Sommer 2010 waren die Iraker gegen die mangelnde Versorgung mit Nahrung, Strom und Wasser sowie die ungeheuerliche Korruption auf die Straßen gegangen. Mit dieser, von der unmittelbaren Not und der Wut über spezifische Mißstände gespeisten Protestbewegung, auch hier vor allem von jungen Aktivisten getragen, sind die Politiker in der »Grünen Zone« in der Hauptstadt Bagdad und die US-amerikanischen Drahtzieher in ihrer Botschaftsfestung mit einem zusätzlichen Widerstand konfrontiert, der sie erheblich unter Druck setzt.

Auch wenn die unmittelbaren Mißstände im Vordergrund stehen, gehen die Forderungen vieler darüber hinaus. Die Proteste richten sich selbstverständlich auch gegen die anhaltende Präsenz von 50000 US-Soldaten sowie gegen die Mauern, die die Städte teilen, und das gesamte ethno-konfessionelle Regime, das mit der Besatzung eingeführt wurde.

Das von Washington gestützte Regime reagiert entsprechend brutal. Mehr als 40 Demonstranten und Journalisten wurden in den ersten beiden Monaten des Jahres getötet. Schon bei den ersten Protesten Anfang Februar wurden in der südirakischen Provinz Diwanija mehrere Menschen durch Schüsse schwer verletzt, mindestens einer tödlich. In Kut setzte ein paar Tage später eine wütende Menge drei Regierungsgebäude in Brand, nachdem mehrere Demonstranten angeschossen worden waren. Dennoch breiteten sich die Proteste auf praktisch alle größeren und viele kleineren Städte des Zweistromlandes aus – einschließlich des kurdischen Nordens.

General Abdul-Asis Al-Kubaisi, Chef der Personalabteilung im Verteidigungsministerium, trat aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Regierungskräfte zurück, riß sich in einer Sendung des Al-Sharquija-Satellitenfernsehens vor laufender Kamera seine Rangabzeichen ab. Der Militär erklärt die aktuelle Regierung unter Premier Nuri Al-Maliki sei korrupt »von der obersten Spitze bis nach unten«. Die politischen Führer im Irak würde dasselbe Schicksal ereilen wie Tunesiens Machthaber Zine El Abidine Ben Ali und Ägyptens Präsident Hosni Mubarak. Der Regimekritiker Al-Kubaisi wurde umgehend verhaftet, dennoch folgten einige Offiziere seinem Aufruf, die Armee zu verlassen und sich der Protestbewegung anzuschließen. Festgenommen wurde auch Muktader Al-Saidi, der Journalist der durch seinen Schuhwurf auf US-Präsident George W. Bush berühmt wurde.

Wie in den anderen Ländern fachte die Repression die Proteste nur noch weiter an. Vielerorts stürmten nun wütende Demonstranten Regierungsgebäude und Polizeiwachen und forderten die Absetzung der lokalen Autoritäten oder der Provinzregierung. Proteste richteten sich auch gegen willkürliche Festnahmen und die Mißhandlung von Inhaftierten, verbunden mit der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen und Zugang zu den Geheimgefängnissen von Malikis Sondereinheiten. Die Demonstrationen wurden von mehreren Streiks begleitet, so z.B. in der Lederindustrie in Bagdad und in einer Textilfabrik in Kut. Arbeiterproteste gab es u.a. auch in der Northern Oil Company in Kirkuk und den Elektrizitätswerken in Basra.

Immerhin, die jüngsten Demonstrationen zeigten erste Wirkung. Die monatlichen Nahrungsmittelhilfen kamen erstmals pünktlich, zusätzlich bekommt jeder Haushalt umgerechnet zwölf Dollar als Entschädigung für die Kürzung der Rationen. Die ersten 1000 Kilowattstunden Strom in jedem Monat sollen künftig für alle Haushalte gratis sein (siehe jW vom 18. Februar 2011). Die Gouverneure dreier Provinzen, denen Unfähigkeit, Korruption etc. vorgeworfen wurde, traten zurück – alle drei gehören übrigens Malikis Dawa-Partei an. Vermutlich wird es vorgezogene Neuwahlen der Provinzregierungen geben, deren Unfähigkeit und Korruption am stärksten kritisiert werden.

Ungeachtet dessen, auch am heutigen Freitag soll es in Bagdad und anderen irakischen Städten wieder Proteste geben – und in praktisch allen anderen Ländern der Region.

* Der Autor betreibt den Internetblog »Nachgetragen«: jghd.twoday.net

Aus: junge Welt, 4. März 2011



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