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Die Iraker haben diese Lüge schon einmal erlebt
Iraqis have lived this lie before
Die britische Übergabe der Souveränität in den 20er Jahren war genauso bedeutungslos
The British transfer of sovereignty in the 20s was equally meaningless
Im Folgenden dokumentieren wir einen hochinteressanten Artikel, in dem die vor wenigen Tagen vollzogene Übertragung der Macht an die irakische Interimsregierung verglichen wird mit einem ähnlichen Vorgang vor 80 Jahren. Damals waren es die Briten, die dem Irak seine "Souveränität" zurückgaben.
Der Artikel, den wir im Folgenden dokumentieren, wurde im britischen "Guardian" veröffentlicht. Die Übersetzung ins Deutsche wurde von uns selbst besorgt.
Iraqis have lived this lie before
The British transfer of sovereignty in the 20s was equally meaningless
by Haifa Zangana*
In Iraq, we have an expression: same donkey, different saddle. Iraq's long-heralded interim government has now formally assumed sovereignty. Official labels and tags have duly changed. The US administrator will now be an ambassador, while Sheikh Ghazi al Yawar and Iyad Allawi, US-appointed members of the former governing council, are to be known as president and prime minister.
To formalise the change, the UN has already issued a resolution under which "multinational forces" will replace "US-led forces". On the issue of control over US troops, the message is clear: the US forces are there to stay only because "Iraqi people" has asked them to. But which Iraqi people? Do they mean the new administration headed by the CIA's Iyad Allawi? And why does all this sound strangely familiar?
In Iraq we don't just read history at school - we carry it within ourselves. It's no wonder, then, that we view what is happening in Iraq now of "liberation-mandate-nominal sovereignty" as a replay of what took place in the 1920s and afterwards.
On April 28 1920, Britain was awarded a mandate over Iraq by the League of Nations to legitimise its occupation of the country. The problems proved enormous. The British administration in Baghdad was short of funds, and had to face the resentment of the majority of Iraqis against foreign rule, which boiled over that year into a national uprising. In the aftermath, the British high commissioner had to come up with a solution to reduce the British loss of lives.
A decision was taken to replace the occupation with a provisional Iraqi government, assisted by British advisers under the authority of the high commissioner of Iraq. Finding a suitable ruler was not easy,.
On the August 21 1921 Gertrude Bell, Oriental secretary to the high commissioner, wrote to her father about the transfer of sovereignty to Iraqis. She mentions some of her Iraqi "pals" and enemies, descendants of whom are playing similar roles in Iraq today: "Muzahim Pachachi (the one who made the speech in English at our tea party at Basra). And another barrister whom you don't know, Rauf Beg Chadirji, a pal of mine. And still more splendid was one of the sheikhs of the northern shammar, Ajil al Yawar; I had seen him in 1917 when he came in to us". Then she refers to "Saiyid Muhammad Sadr ... a tall black bearded alim (cleric) with a sinister expression. We tried to arrest him early in August but failed. He escaped from Baghdad and moved about the country like a flame of war, rousing the tribes."
To the British government, control of Iraq's oil was a necessity. Iraqi national liberation movements called for "Istiqlal al Tamm" - complete independence - which was regarded by the British as "the catchword of the extremists". Any protest against the British-imposed monarchy was similarly regarded as the work of "extremists".
In 1930 a new treaty was signed which aimed to satisfy Iraqi aspirations for the coming 25 years, but the British retained their power, through military bases, advisers and control of oil. The monarchy proved an oppressive regime under which many opposition leaders were executed and thousands more were imprisoned. Elections were managed, corruption was widespread, bombing and military force was used against popular uprisings, chemical weapons were used against the Kurds. Popular uprisings followed in 1930, 1941 1948, 1952 and 1956. Between 1921 and 1958 Iraq had an astonishing 38 cabinets, some of them only lasting 12 days. The mainstay of a corrupt and docile regime was the presence of British forces on the ground. Is this what present-day Iraq has to look forward to?
Three major events have shaped our national identity. The 1920 revolution, the 1958 coup regarded by most Iraqis as a revolution that finally achieved real Iraqi independence - and the Palestinian cause. At the heart of the three lay the struggle to end occupation. Occupation has always been perceived as a process by which to rob us of our identity and dignity. The British, in the past, failed to understand the depth of the feeling among Iraqis both against occupation and towards the Palestinian issue. Now, in their partnership with the US, they are repeating the same mistakes.
As in the past, Iraqis are denied their natural right to resist the occupier and its imposed form of government. The "extremists" of our history are now called "terrorists".
Within a year the occupiers have achieved what Saddam's regime failed to do over decades. They have killed our hope in democracy. What of tomorrow? It would be useful to reread history and take notice of Al Istiqlal Al Tam and above all Miss Bell's warning about Iraq: "There are so many quicksands."
* Haifa Zangana is an Iraqi-born novelist and former political prisoner
Tuesday June 29, 2004
The Guardian
Die Iraker haben diese Lüge schon einmal erlebt
Die britische Übergabe der Souveränität in den 20er Jahren war genauso bedeutungslos
Von Haifa Zangana*
In Irak haben wir ein Sprichwort: "Derselbe Esel, ein anderer Sattel". Die lang angekündigte irakische Interimsregierung hat nun ihre formale Selbstständigkeit erhalten. Offizielle Adressen und Namensschilder wurden ordnungsgemäß ausgewechselt. Der US-Verwalter wird nun ein Botschafter sein, während Scheich Ghazi al Jawar und Ijad Allawi, von der US-Regierung eingesetzte Mitglieder des früheren Regierenden Rates, als Präsident und Premierminister firmieren.
Zur formellen Absicherung des Wechsels hat haben die Vereinten Nationen bereits eine Resolution verabschiedet, nach der die von den USA geführten Streitkräfte von "Multinationalen Truppen" abgelöst werden. Bezüglich der Kontrolle über die US-Truppen ist die Botschaft klar: Die US-Truppen sind nur hier, weil sie vom "irakischen Volk" darum gebeten wurden. Aber welches irakische Volk? Ist damit die neue Administration gemeint, die an deren Spitze der CIA-Mann Ijad Allawi steht? Und warum kommt uns das alles so seltsam vertraut vor?
Im Irak lesen wir Geschichte nicht in der Schule - wir tragen sie in uns selbst. So ist es auch kein Wunder, dass uns das, was heute bei der Übertragung der nominellen Souveränität geschieht, als eine Wiederholung dessen erscheint, was sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und danach abspielte.
Am 28. April 1920 wurde Großbritannien vom Völkerbund das Mandat über Irak zugesprochen, womit die britische Besatzung über das Land legitimiert wurde. Doch die Probleme verschärften sich enorm. Die britische Verwaltung in Bagdad war knapp bei Kasse und war konfrontiert mit der ablehnenden Haltung der Mehrheit der irakischen Bevölkerung gegen jede Fremdherrschaft, ein Groll, der im Verlauf des Jahres überkochte und in einen nationalen Aufstand mündete. Danach musste der britische Hohe Kommissar eine Lösung finden, wie die Zahl der britischen Todesopfer zu verringern sei.
Man entschied sich schließlich dafür, die Besatzung durch eine provisorische irakische Regierung zu ersetzen, die von britischen Beratern unter der Oberhoheit des Hohen Kommissars unterstützt wurde. Es war aber nicht einfach, einen geeigneten Regenten zu finden.
Gertrude Bell, Orient-Beauftragte des Hohen Kommissars, schrieb in einem Brief an ihren Vater am 21. August 1921 über die Übertragung der Souveränität an die Iraker. Dabei erwähnte sie einige ihrer irakischen "Kumpels" und Feinde, deren Nachkommen eine ähnliche Rolle im Irak heute spielen: "Muzahim Pachachi (das ist der, der auf unserer Tee-Party die Rede in Englisch sprach). Und ein anderer Anwalt, den du nicht kennst, ist Rauf Beg Chadirji, ein Freund von mir. Und noch glanzvoller war einer der Scheichs aus dem Norden, Ajil al Yawar; ich hatte ihn schon 1917 gesehen, als er uns besuchte." Dann berichtet sie über "Sajid Mohammed Sadr ... ein großer dunkelbärtiger Prediger mit einer finsteren Miene. Anfang August haben wir vergeblich versucht ihn zu verhaften. Er entkam aus Bagdad und zog durch das Land wie eine Flamme des Krieges und hetzte die Stämme auf."
Das Wichtigste für die britische Regierung war die Kontrolle über das irakische Öl. Die irakischen nationalen Befreiungsbewegungen forderten "Istiqlal al Tamm" - vollständige Unabhängigkeit, was von den Engländern als ein "Schlagwort der Extremisten" betrachtet wurde. Jeder Protest gegen die von den Briten erzwungene Monarchie war in ihren Augen ein Werk von "Extremisten".
1930 wurde ein neuer Vertrag unterzeichnet, der darauf abzielt, die Wünsche der Iraker für die nächsten 25 Jahre zufrieden zu stellen. Die Macht blieb aber bei den Briten in Form von Militärstützpunkten und der Kontrolle über das Öl. Die Monarchie erwies sich als repressives Regime, unter dem viele Oppositionsführer hingerichtet und Tausende inhaftiert wurden. Wahlen wurden manipuliert, Korruption war weit verbreitet, gegen Volkserhebungen wurden Bomben und Soldaten eingesetzt, gegen die Kurden kamen chemische Waffen zum Einsatz. In den Jahren 1930, 1941, 1948, 1952 und 1956 fanden Volksaufstände statt. Zwischen 1921 und 1958 hatte Irak die erstaunliche Zahl von 38 Regierungen, manche von ihnen hielten nur 12 Tage. Die Hauptstütze eines korrupten und willfährigen Regimes war die Anwesneheit britischer Bodentruppen. Ist es das, was das heutige Irak zu erwarten hat?
Unsere nationale Identität wurde von drei Ereignissen geprägt. Die Revolution von 1920, der Staatsstreich von 1958 - der von den meisten Irakern als Revolution betrachtet wurde, die zur realen irakischen Unabhängigkeit geführt habe - und die Palästinafrage. Im Zentrum aller drei Fälle steht der Kampf um die Beendigung der Besatzung. Besatzung war immer wahrgenommen worden als ein Prozess, durch den wir unserer Identität und Würde beraubt wurden. Die Briten haben unsere tiefen Gefühle gegen die Besatzung und hinsichtlich des Palästina-Problems nie verstehen können. Heute wiederholen sie - im Bündnis mit den USA - dieselben Fehler.
Genauso wie früher wird den Irakern ihr natürliches Recht abgesprochen, Widerstand gegen die Besatzer und die von ihnen aufgezwungene Regierung zu leisten. Die "Extremisten" aus unserer Geschichte werden heute "Terroristen" genannt.
In nur einem Jahr haben die Besatzer erreicht, was Saddams Regime über Jahrzehnte nicht fertig gebracht hat. Sie haben unsere Hoffnung auf Demokratie getötet. Was wird die Zukunft bringen? Es mag nützlich sein die Geschichte wieder zu lesen und sich an Al Istaqlal Al Tam (die vollständige Unabhängigkeit) und all die Warnungen von Miss Bell zu erinnern: "Hier gibt es so viel Treibsand."
* Haifa Zangana ist eine im Irak geborene Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und frühere politische Gefangene. Sie lebt in London und nahm im Juni 2004 am Hearing zum Irak-Tribunal in Berlin teil.
Übersetzung: Pst
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