"Ohne Gott und Adorno"
Die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens
Der folgende Beitrag des Nahost-Experten Wolf Wetzel ist in zwei Teilen in der jungen Welt veröffentlicht worden (21./22.01.2003).
Von Wolf Wetzel
Teil 1: Die hegemonialen Interessen der USA
Am 2. August 1991 marschierten irakische Truppen in Kuwait ein. Was
anfangs wie ein regionaler innerarabischer Konflikt aussah, entwickelte
sich zum ersten US-alliierten Krieg in der Golfregion nach dem Zweiten
Weltkrieg. Die Gründe für die offenen Kriegsdrohungen der USA gegen
den Irak variierten, je nach Zielgruppe und Geschmack: Mal war es die
Besetzung von Kuwait, ein anderes Mal die Behauptung, der Irak stünde
kurz vor dem Besitz einsatzfähiger Atomwaffen. Dazwischen waren auch
weniger edle Kriegsgründe, schlicht ökonomische und strategische
Interessen der USA, vernehmbar.
Während die US-Alliierten mit dem größten Truppenaufmarsch nach dem
Zweiten Weltkrieg begannen, hatten westliche Regierungen alle Hände
voll zu tun, den einstigen Freund und Verbündeten (gegen den »Gottesstaat« Iran), Saddam Hussein, in einen »Schlächter« und »Diktator«
umzuinterpretieren.
Zwei Wochen nach Kriegsbeginn feuerte die irakische Armee acht Scud-
Raketen auf Israel. Linke Intellektuelle, wie Hans Magnus Enzensberger,
Dan Diner, Micha Brumlik, Wolf Biermann, Daniel-Cohn Bendit, Detlef
Claussen, Hermann L. Gremliza, Wolfgang Pohrt, nahmen dies zum Anlaß,
den US-alliierten Krieg gegen den Irak in einen antifaschistischen
Kampf zum Schutz Israels umzudeuten. Die historischen Analogien zum
deutschen Faschismus - Hans Magnus Enzensberger entdeckte in Saddam
Hussein »Hitlers Wiedergänger« (Spiegel, 6/1991) - und die Halluzination einer Anti-Hitler-Koalition (im Krieg gegen den Irak) gehören
seitdem zur Grundausstattung des linken deutschen Bellizismus.
Zivilbevölkerung als Geisel
Mit dem US-alliierten Krieg gegen den Irak 1991 fand das Wort von der
»chirurgischen Kriegführung« Eingang in den Wortschatz der Bellizisten.
Gemeint war eine Kriegführung, die klinisch-sauber das »Böse«, den
Diktator, wegbombt und die Zivilbevölkerung verschont. Tatsächlich
steht der Golfkrieg wie kaum ein anderer nach dem Zweiten Weltkrieg
im Namen westlicher Werte geführte Krieg für die systematischen Zerstörung der zivilen Infrastruktur eines Landes: »Es war ein Angriff
auf die Wasser- und Energieversorgungssysteme und andere Infrastruktureinrichtungen, der genau den Effekt biologischer Kriegführung hatte.
Diese Angriffsspitze hatte nichts zu tun mit dem Krieg, nichts. [...]
Der Zweck der biologischen Kriegführung und des Angriffs auf die Infrastruktur bestand darin, die Bevölkerung für die Zeit nach dem Krieg als
Geisel zu nehmen, damit die USA ihre politischen Ziele in der Region
erreichen konnten. Das ist internationaler Terrorismus kolossalen Ausmaßes.« (Noam Chomsky, FR , 30.1.1992)
Im Gegensatz zu linken Bellizisten machten Pentagon-Planer aus ihren
strategischen Zielen gar keinen Hehl, sondern unterstrichen das Zusammenspiel von Krieg und Sanktionspolitik: »Man hört: 'Ihr habt nicht
erkannt, daß sich das [die Bombardierung] auf das Wasser und die
Kanalisation auswirken wird.' Nun, was haben wir denn mit den Sanktionen erreichen wollen - den Irakis aus der Patsche helfen? Nein.
Was wir mit den Angriffen auf die Infrastruktur erreichten, war, die
Wirkung der Sanktionen zu beschleunigen.« (FR, 16.9.1993)
Daß in diesem Krieg auch Hunger eine »intelligente« Waffe der US-
Alliierten ist, belegen die Zahlen von UN-Organisationen: Die FAO
spricht 1995 von einer Million Toten, die Weltgesundheitsorganisation
WHO stellte 1996 fest, daß sich die Kindersterblichkeit versechsfacht
hat und die Mehrheit der Bevölkerung unterernährt ist. Die Möglichkeit
einer bösartigen Unterstellung räumte die damalige US-Außenministerin
Madeleine Albright höchstpersönlich aus dem Weg. Leslie Stahl vom
Sender CBS: »Wie wir gehört haben, sind eine halbe Million Kinder
gestorben. Ich denke, das sind mehr als in Hiroshima. Sagen Sie,
ist das den Preis wert?« US-Außenministerin Madeleine Albright: »Ich
denke, es ist eine harte Entscheidung, aber den Preis ist es nach
unserer Ansicht wert.« (The Independent, 25.9.2002)
Der US-alliierte Krieg gegen den Irak 1991 galt nicht einer Diktatur,
sondern der Etablierung einer »neuen Weltordnung«, der Verschiebung
hegemonialer Grenzen nach dem Zusammenbruch der Staaten des Warschauer
Vertrages. Mit der militärischen Kapitulation der irakischen Führung
war der US-alliierte Krieg nicht zu Ende. Nun sollte das »zivile«
Instrumentarium dort ansetzen, wo der Krieg aufgehört hat. Militärisch waren die US-Alliierten in der Lage, das irakische Regime
zu beseitigen. Vieles spricht dafür, daß die damaligen (Bündnis-)
Konstellationen einen solchen Regimesturz nicht zuließen. So begnügten
sich die US-Alliierten mit einem militärisch und wirtschaftlich
geschwächten Regime und der nicht ganz unberechtigten Hoffnung, daß
die katastrophalen Lebensverhältnisse nach dem Krieg zu einem inneren
Bürgerkrieg führen könnten. Das hätte zumindest den Anschein gewahrt,
daß Regierungen eine »innere Angelegenheit« sind und nicht von den
US-Alliierten benannt oder davongejagt werden.
Politisch blieb das System Saddam Husseins also bestehen - ökonomisch
ist das Land längst in den Händen der US-Alliierten. Unter Zuhilfenahme
der UN-Sanktionen legen sie die Öl-Fördermenge fest, bestimmen, welche
Waren und wieviel der Irak importieren kann und darf. Das Ziel war
eindeutig: Mit der Waffe des Hungers sollte die irakische Regierung
von innen gestürzt werden. Doch die Hoffnung, daß die irakische/kurdische Opposition die Arbeit der US-Alliierten zu Ende bringen könne,
zerschlug sich. Ebenfalls ein von der CIA unterstützter Putschversuch
irakisch-kurdischer Oppositionsgruppen 1996. Seitdem herrscht ein
latenter Kriegszustand: »Alleine 1999 trafen 1000 Raketen mehr als
300 Ziele im Irak. Keine rechtliche Legitimierung deckt das selbstherrliche Vorgehen, kein politischer Protest behindert es.« (Reinhard
Mutz, stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, FR, 7.6.2002)
The Energy War - Teil II
Der als Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001 ausgerufene
(Welt-)Krieg hat nicht das geringste mit einem »Kampf gegen den
Terror« zu tun. Weder die USA noch die Alliierten haben in den
letzten 50 Jahren Krieg geführt, um Terror und Gewalt zu bekämpfen,
sondern das Monopol darauf zu behaupten. Ein Monopol, das von verdeckten Kriegen (wie gegen Nikaragua) bis Massenmord und chemische
Kriegführung (wie in Vietnam) bis hin zur biologischen Kriegführung
(wie gegen den Irak 1991 und Jugoslawien 1999) reicht. Ein Monopol
auf Vernichtung, das die Voraussetzung dafür schafft, imperiale und
kapitalistische Interessen auch »friedlich« durchzusetzen.
Der US-alliierte Krieg gegen den Irak 1991 ist nicht zu begreifen
ohne den Zusammenbruch des »Ostblocks« als nicht-kapitalistischer
Wirtschaftsraum und des Warschauer Paktes als militärisches Gegengewicht zur NATO. Mit diesem Krieg stießen die US-Alliierten zum
ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Weltregion vor, die
nicht zu ihrer Einflußzone zählte. Auch wenn diesem Krieg politisch
Grenzen gesetzt waren, so hat er geostrategisch sein Ziel erreicht.
Mit der Einrichtung von Militärbasen (in Kuwait, Saudi-Arabien und
Katar) und der Stationierung von US-Soldaten im arabischen Raum
unterstrichen die USA ihren hegemonialen Anspruch auf diesen Teil
der Welt.
Für rechte Kriegsbefürworter ist der in Afghanistan begonnene
Weltkrieg ein »monumentaler Kampf«, den »das Gute gegen das
Böse« zu bestehen habe.
Für einige Antideutsche ist es höchste Zeit, mit Adorno und den
US-Alliierten Krieg gegen den »islamischen Faschismus« zu führen.
Ohne Gott und ohne Adorno geht es dem ehemaligen US-Außenminister,
ehemaligen Berater des US-Ölkonzerns Unocal und heutigen Präsidenten-Berater Henry Kissinger »vor allem darum, sich nicht die
außergewöhnliche Gelegenheit nehmen zu lassen, die sich für eine
Umgestaltung des internationalen Systems ergeben hat«. (Konkret
5/2002).
Noch undiplomatischer formuliert: Es geht um die Neuaufteilung
Zentralasiens, vor allem um die am Kaspischen Meer liegenden
ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan, Aserbaidschan,
Kasachstan, Georgien, die einst zur Sowjetunion bzw. zur Einflußzone
des Warschauer Vertrages zählten. Was 1991 unter dem Vorwand,
»Kuwait zu befreien«, die US-alliierten Ansprüche in der arabischen
Welt zementierte, findet im US-alliierten Krieg rund um Afghanistan
seine konsequente Fortsetzung: die militärische Beschleunigung und
Absicherung US-alliierter Interessen in dieser Weltregion.
Für diese Erkenntnis braucht es keinen (neuen) Antiimperialismus.
Es genügt ein gutes Gehör: »Die kaspische Region wird uns hoffentlich
vor einer totalen Abhängigkeit vom Öl aus dem Mittleren Osten bewahren
[...] Hier geht es um Amerikas Sicherheit der Energieversorgung,
die davon abhängt, weltweit unsere Bezugsquellen für Öl und Gas zu
diversifizieren. Es geht auch darum, strategischen Einfluß derjenigen
[Länder] zu verhindern, die unsere Werte nicht teilen. Wir versuchen,
die neuen unabhängigen Länder zum Westen hinzubewegen. Wir wollen,
daß sie sich auf die kommerziellen und politischen Werte des Westens
stützen [...] Wir haben erhebliche politische Investitionen in der
kaspischen Region gemacht, und es ist für uns sehr wichtig, daß der
Verlauf der Pipelines und die Politik am Ende stimmen.« Folgt man
dieser Aussage des ehemaligen US-Energieministers Bill Richardson aus
dem Jahre 1998 (vgl. Lutz Kleveman: Der Kampf um das heilige Feuer,
Rowohlt Berlin 2002, S.17) wird man im wahrsten Sinne des Wortes
fündig: Man wird auf Milliarden-Investitionen zur Erschließung und
Ausbeutung des kaspischen Öls stoßen, auf geplante Pipelinerouten,
die mit politisch genehmen Regimes ausgehandelt wurden und werden,
auf neue US-Militärbasen, die die Nähe und die Verbindung zu Ölfeldern
und Öl-/Gas-Pipeline-Routen nicht scheuen, sondern suchen.
Bündnisse neu berechnet
Was hat der US-alliierte Krieg in und um Afghanistan mit dem angekündigten Krieg gegen den Irak zu tun? Nicht die behaupteten oder
tatsächlich existierenden Massenvernichtungswaffen des Iraks sind
Kriegsgrund, sondern die ökonomischen und politischen Interessen
der US-Alliierten, die - trotz des Krieges 1991 und des seitdem
etablierten Sanktionsregimes - unerfüllt blieben.
Mit der forcierten politischen und ökonomischen Durchdringung Zentralasiens, mit der erfolgreichen militärischen Absicherung ist eine
Hauptforderung der US-Außenpolitik erfüllt: Die strategische Abhängigkeit der USA vom »arabischen Öl« zu verringern, um so die Gefahr
weitgehend auszuschließen, daß Öl noch einmal zur politischen Waffe
arabischer Staaten werden könnte.
In dem Maße aber, wie die Abhängigkeit der US-Wirtschaft von den in
der OPEC zusammengeschlossenen arabischen Staaten schwindet, werden
politische Bündnisse neu berechnet und Rücksichtnahmen gegebenenfalls
gegenstandslos. Wenn man diese globalen Verschiebungen vor Augen hat,
kann man auch die ungewöhnlich scharfe Reaktion der US-Administration
auf die Zurückhaltung einiger arabischer Staaten gegenüber den
US-alliierten Kriegsplänen einordnen. Westliche regierungstreue
Kommentatoren entdecken nun Verhältnisse, die seit Jahrzehnten nicht
der Rede wert waren: Über Nacht werden aus befreundeten Regierungen
Diktaturen, aus märchenhaften Palästen und sagenumwobenen Scheichs
aus Tausend und einer Nacht verkrustete Machtstrukturen und Demokratiedefizite und aus ehemaligen antikommunistischen Freiheitskämpfern Anhänger des islamistischen Terrors. Seitdem reden einige
Kriegsplaner in den USA und Großbritannien zwar immer noch vom Irak,
meinen damit aber die Neuordnung der arabischen Region: »Ronald Asmus
und Kenneth Pollak, zwei Vordenker der Demokraten, befürworten eine
langfristige Neuordnung des gesamten Mittleren Osten. Diese Mammutaufgabe könnte das 'neue transatlantische Projekt' für Europäer und
Amerikaner werden [...]. Der Sturz der irakischen Regierung firmiert
auf dieser Neuordnungsagenda nur als eine von mehreren Aufgaben.«
(Spiegel, 40/2002)
Diese Kriegsziele sind keine Gedankenspiele geistiger Trittbrettfahrer
und bedeutungsloser Strategen. Ohne es zu wollen, bestätigte der
deutsche Außenminister Joseph Fischer genau diese Kriegsziele, als er
seine diesbezüglichen Bedenken zusammenfaßte: »Die große Frage ist,
ob ein Krieg gegen den Irak das geeignete Mittel ist, eine Neuordnung
des Nahen Ostens einzuleiten oder ob der Weg, einen Frieden zwischen
Israel und den Palästinensern zu erreichen, nicht der angemessenere
wäre.« (Spiegel, 40/2002)
Die vorgeschobenen Gründe
Nachdem die Kriegsplaner zu dem Schluß kamen, daß ein Krieg gegen
den Irak auch ohne Zustimmung und Zugeständnisse gegenüber arabischen
Staaten zu führen ist - im Zweifelsfall sogar gegen sie - lanciert
die »freie« Presse eine bunte Mischung aus Regierungsstatements,
Expertenmeinungen, Dossiers und Geheimdienstberichten: Mal besitzt
der Irak Massenvernichtungswaffen und verweigert den Waffeninspektoren
den Zutritt. Mal wird der Irak für die Anthrax-Anschläge nach dem 11.
September 2001 in den USA verantwortlich gemacht. Mal ist der Irak
schon wieder dabei, in Besitz von Atomwaffen zu gelangen, mal erblickt
ein britisches Geheimdienstdossier über massive Menschenrechtsverletzungen zur rechten Zeit das Licht der Öffentlichkeit. Mal verschwinden Behauptungen sang- und klanglos in der Versenkung, mal
tauchen sie recycelt wieder auf. Die neueste - und mit Sicherheit
nicht die letzte - handelt von »mutmaßliche[n] Al-Qaida-Terroristen
in Irak«. (FR vom 9.8.2002)
Daß dies ein luxuriöser, aber in reichen Ländern wichtiger Zeitvertreib ist, weiß auch Richard Perle, einer der wichtigsten Berater von
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: »Ich denke, es gibt nichts,
was Saddam Hussein tun könnte, um uns zu überzeugen, daß vom Irak
keine Gefahr mehr ausgeht.« (FR, 5.2.2002)
Daß dieser angekündigte Krieg auf große Skepsis und politisch hochkarätigen Widerspruch stößt, liegt nicht daran, daß die Antikriegsopposition in Europa oder Deutschland Gehör gefunden hat. Entscheidend
ist vielmehr, daß einige europäische Staaten, allen voran die deutsche
Bundesregierung, gegen den von den USA und Großbritannien gewollten
Krieg Stellung bezogen haben. Warum aber erhebt die Bundesregierung
gegen Kriegsziele das Wort, die sie früher anstandslos teilte? Was
hat sich für Schröder und Fischer verändert gegenüber der deutschen
Kriegsbeteiligung gegen den Irak 1991, gegen Jugoslawien 1999 und
Afghanistan 2001, die Bundeskanzler Gerhard Schröder noch 2002 als
»Enttabuisierung des Militärischen« feierte? Warum hat das »Nein«
der Bundesregierung weder mit der Wiederentdeckung des Völkerrechts
noch mit dem Erschrecken über die »eigentlichen« Kriegsziele der US-
Alliierten zu tun?
Teil 2: Die Rolle Deutschlands
Über »Krieg und Frieden« entscheidet nicht der Irak, sondern der
Ausgang der Interessenkollision zwischen den US-Alliierten (allen
voran den USA und Großbritannien) und europäischen Staaten (Frankreich, Deutschland, Rußland).
Was im US-alliierten Krieg in und um Afghanistan gelungen ist,
den Zugriff auf strategische Ressourcen politisch und militärisch
(ab-) zusichern, mißlang im Irak gänzlich. Auch die nach dem Krieg
verhängten Wirtschaftssanktionen brachten nicht den erwünschten
Regimewechsel, d.h. den Zugriff auf die zweitgrößten Ölreserven der
Welt. Unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie eines Krieges war und
ist also der derzeitige Zustand eine einzige Pleite. Mehr noch:
Pflegten die USA und Großbritannien, wie viele andere europäische
Staaten bis 1991 auch, mit dem Irak hervorragende Geschäftsbeziehungen, so sind die Konsortialführer dieses Krieges seit 1991
völlig aus dem Spiel. Aber nicht alle ehemaligen Verbündeten im
Irak-Krieg 1991 schreiben eine so schlechte Handelsbilanz des
Krieges.
Krieg muß sich rechnen
Während die USA und Großbritannien ihre Anstrengungen darauf verwendeten, die Wirtschaft des Iraks zu strangulieren und weiter Krieg
zu führen, nutzten einige europäische Staaten die Gelegenheit, das
absehbare Scheitern der US-Militärstrategie in lukrative Wirtschaftsabkommen umzusetzen: »Die Nase vorn haben derzeit eindeutig die
Europäer und die Russen. Um die Erschließung der beiden gigantischen
Felder von Madschnun und Nahr Umar in den Marschlanden nordwestlich
von Basra bemüht sich der französische TotalFinaElf-Konzern, für
das West-Kurna-Feld hat der russische Ölriese Lukoil ein Abkommen
geschlossen. Shell interessiert sich für das Ratawi-Feld, Eni
aus Italien und Repsol aus Spanien haben Verträge für Nassirija.«
(Spiegel 43/2002) »Das zwischen Rußland und dem Irak [2002 ] vereinbarte Kooperationsabkommen hat (...) ein Volumen von etwa 40
Milliarden Dollar. Rußland liefert dem Irak dafür in einem Zeitraum
von fünf Jahren Ausrüstung und Unterstützung für die Bereiche
Ölindustrie, Chemieproduktion, Bewässerung, Eisenbahn sowie Verkehrs und Kommunikationsprojekte.« (Konkret 10/2002) »Vorverträge
zur Ausbeutung nahezu aller bekannter Ölfelder hat Bagdad in den
vergangenen Jahren mit führenden nichtamerikanischen Ölmultis
unterzeichnet. Sie würden in 19 Ölfeldern insgesamt 38 Milliarden
Dollar investieren.« (FAZ, 2.12.2002)
All diese im Status der Vorverträge abgeschlossenen Wirtschaftsabkommen
würden über kurz oder lang zum Zuge kommen - wenn nicht ein Krieg der
US-Alliierten diesen Plänen einen Strich durch die Rechnung macht: die
militärische Variante einer »feindlichen Übernahme«. Wie nüchtern sich
ein Krieg rechnen muß - im Gegensatz zur rechten und linken Kriegsbefürwortungsprosa - weiß die FAZ: »Gewiß ist, daß im Irak bald der
Startschuß zu einer Ölbonanza fallen wird, wie sie die Ölmultis lange
nicht erlebt haben. Offen bleiben bisher viele Fragen [...] Werden
die Ölgesellschaften aus Rußland, Frankreich und Japan ihre Verträge
umsetzen können, oder müssen sie ihren Platz den amerikanischen
Ölkonzernen räumen?« (2.12.2002)
Eine große Rochade auf dem Schachbrett der ausgelobten Ölbonanza
scheint Rußland bereits vollzogen zu haben: »Bagdad hat dem russischen
Ölgiganten den Vertrag zur zukünftigen Ausbeutung des Ölfelds Qurna
West gekündigt ... [Dieser Schritt] war die Quittung dafür, daß Lukoil
Verhandlungen mit den Amerikanern führte, um sich für den Fall des
Falles abzusichern und die Zusage von Washington zu erhalten, man
werde auch nach einem Sturz Saddam Husseins die eigenen Interessen
im Irak wahren können.« Mittlerweile führe der russische Ölkonzern
Verhandlungen mit den USA ȟber die Finanzierung der irakischen
Opposition«. (FAZ, 18.12.2002)
Man kann fleißig und sich ereifernd darüber spekulieren, ob die UN-
Waffeninspektoren im Irak Massenvernichtungswaffen finden (sollen)
oder nicht. Die Entscheidung über Krieg oder Frieden wird zwischen
dem militärischen »Ja« der USA und Großbritanniens und dem wirtschaftlichen und politischen »Nein« Frankreichs, Deutschlands und Rußlands
fallen. Die UN-Resolution 1441 ist nicht mehr als eine Bühne, hinter
der diese unterschiedlichen Machtinteressen ausgetragen werden.
Währenddessen laufen die Kriegsvorbereitung der US-Alliierten auf
Hochtouren.
Pentagon-Planern zufolge werden die Kriegsvorbereitungen Ende Januar
abgeschlossen sein, was sich auf wunderbare Weise mit dem Abgabetermin
des UN-Waffeninspektorenberichts deckt. Über 60.000 US-Soldaten
befinden sich bereits im Kriegsgebiet. 20.000 bis 30.000 britische
Soldaten plant die Regierung Blair in den Krieg zu schicken. Fast
täglich werden Kriegsziele in und um die von den US-Alliierten selbst
geschaffene Flugverbotszone bombardiert und zerstört.
In den Köpfen der politischen und militärischen Think-Tanks ist der
Krieg bereits gewonnen. Sie streiten sich nur noch über die ihnen
passendste Nachkriegsordnung: Mal ist von einem Protektorat mit
einem US-General an der Spitze die Rede, mal von den USA gecoachten
Oppositionsgruppen, mal von der Wiederherstellung der irakischen
Monarchie, mal von einem einheimischen Diktator, der seine Gönner
nie vergißt.
Schröders Nein zum Irak-Krieg
»Letzte Woche traf sich der Führer des Iraqi Nation Congress mit
Beauftragten dreier amerikanischer Ölgesellschaften zu Verhandlungen,
wer was bekommt, wenn die USA die Macht übernommen haben. Das würde
bedeuten, daß die Verträge, die Rußland und Frankreich mit Saddam
Hussein geschlossen haben, gecancelt würden.« (Guardian, 5.11.2002).
Für all diejenigen, die dieser nicht dementierten Zeitungsnotiz
mißtrauen, sei eine weitere Meldung angefügt. Am 14.12.2002 trafen
sich in London 350 Delegierte der irakischen Opposition, um ihre
Vorstellungen von einer Nachkriegsordnung kundzutun. Als »Beobachter«
nahm US-Botschafter Khalizad teil. »Präsident Bush hatte den
Botschafter in Afghanistan zum 'Gesandten für die Freien Iraker'
ernannt.« (FAZ, 14.12.2002) Manche mögen es für einen Zufall halten,
andere für eine gelungene Verbindung: Bevor der US-Präsident George
W. Bush Zalmay Khalizad zum US-Sonderbotschafter in Afghanistan
machte, war selbiger als Unternehmensberater des US-Ölkonzerns
Unocal tätig, der seit Mitte der 90er Jahre an einer von den USA
favorisierten großen Pipeline vom Kaspischen Meer zum Persischen
Golf arbeitet. Wie der Zufall so spielt, soll diese Pipeline
mitten durch Afghanistan führen.
Die meisten Kommentatoren des Wahlkampfes 2002 waren sich darin
einig, daß es dieses Mal ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen
dem Regierungslager von SPD und Grünen und der CDU/CSU- und FDP-
Opposition geben würde. Mögliches Zünglein an der Waage spielte
das Abschneiden der PDS, die sich - angesichts der Regierungsbeteiligung im Berliner Senat - im wesentlichen nur noch als
Antikriegspartei von den anderen Parteien unterschied. Mitten in
diesen ungewissen Ausgang platzte die Wahlkampfaussage von Bundeskanzler Gerhard Schröder, daß sich eine künftige Bundesregierung
von SPD und Grünen an einem Krieg gegen den Irak nicht beteiligen
wird. Die Aufregung war groß, und die Frage, was damit im Detail
gemeint sein könnte, provozierte allseitiges Rätselraten. Viele
vermuteten, daß dieses »Nein« nur einem Alleingang der USA und
Großbritanniens gelte, wohinter sich lediglich ein »Ja« zu einem
UN-mandatierten Krieg verberge, worin auch die Interessen anderer
Großmächte Berücksichtigung fänden.
Zur Überraschung vieler schloß Bundeskanzler Gerhard Schröder noch im
Wahlkampfgetümmel auch dieses Hintertürchen: Eine Kriegsbeteiligung
Deutschlands käme auch im Falle eines UN-Mandats nicht in Frage. Viele
Kriegsgegner trauen diesem Frieden nicht. Doch auch nach dem Wahlsieg
blieben die meisten Stellungnahmen von Schröder und Fischer im Rahmen
gemachter Wahlkampfaussagen. Auch wenn jetzt vor und hinter den
Kulissen heftig über das Maß der »passiven Hilfestellungen« (Überflugrechte, Nutzung der militärischen Infrastruktur etc.) gestritten
wird, irritiert das hartnäckig gehaltene »Nein« mehr als das eigentlich erwartete »Ja«.
Die Gefahr, bei künftigen Antikriegsdemonstrationen nicht nur gegen
den Kriegskurs der Bush-Administration, sondern zugleich für die
Außenpolitik der Bundesregierung zu demonstrieren, ist groß. Was
manche erschreckt, beflügelt andere. So z.B. Micha Brumlik, Direktor
des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocausts,
der als Redner auf einer Friedensdemonstration an der US-Air-Base
Rhein-Main am 3.10.2002 dazu aufrief, gegen einen »völkerrechtswidrigen Angriff der USA« auf die Straße zu gehen, um damit neben
besagter deutscher Außenpolitik »für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland« einzutreten. (1991 trat Micha Brumlik als
Befürworter des US-alliierten Krieges gegen den Irak auf. Damals
beschwor er die »pax americana« (FR, 7.2.1991), der er heute in
Gestalt des »Kriegskurses der Bush-Administration« die Gegnerschaft
erklärt.)
Vermutlich halten sich Erleichterung und Verunsicherung in großen
Teilen der Friedens- und Antikriegsbewegung die Waage: Soll man
(immer noch) gegen oder (jetzt) besser mit der Bundesregierung
zusammen gegen diesen Krieg demonstrieren?
Muß man jetzt der Bundesregierung den Rücken stärken? Ist der
friedenspolitische Aufruf, die Bundesregierung »beim Wort zu
nehmen« ein geschickter Schachzug oder Ausdruck eines politischen
Gedächtnisschwundes? Für welches zukünftige »Ja« steht das
»Nein« in diesem (Einzel-)Fall?
Die vorgeschobenen Gründe
Es gibt einige Gründe, welche die Bundesregierung für ihr Nein
anbietet. Und es gibt Teile der Friedensbewegung, die der »rot-
grünen« Bundesregierung so gerne glauben möchten - selbst dann,
wenn diese Gründe nicht einmal der ersten Nachfrage stand halten.
Grund Nr. 1: Die Bundesrepublik Deutschland beteilige sich nicht
an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.
Es ist gerade einmal drei Jahre her, da beteiligte sich die
rot-grüne Regierung an einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien.
Dieser Krieg wurde nicht einmal dem Anschein nach mit einem
völkerrechtlichen Mandat versehen.
Grund Nr. 2: Die USA gäben als Kriegsgrund die Entwaffnung
des irakischen Regimes vor. Tatsächlich ginge es ihnen um
die Beseitigung einer unliebsamen Regierung.
Die Geschichte des ersten US-alliierten Krieges gegen den Irak 1991
liefert Dutzende von Beweisen, die belegen, daß es in diesem Krieg
nicht um die »Befreiung« Kuwaits ging. Die Beteiligung Deutschlands
an diesem Krieg wurde weder während noch nach dem Krieg in Zweifel
gezogen.
Auch im Falle der militärischen Beteiligung Deutschlands am Krieg
gegen Jugoslawien 1999 belegen die Fakten, daß mit diesem Krieg
kein »Völkermord« , kein »drohendes Auschwitz« verhindert werden
sollte. Das eigentliche Ziel war die Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien, »die Übernahme der Verantwortung für seinen
'Hinterhof'«. (Von Belgrad nach Brüssel, FR-Kommentar, 20.10.2000)
Grund Nr. 3: Die Bundesregierung beteilige sich an keinem Krieg,
der gegen das Grundgesetz verstößt und die Bundeswehr zu etwas
anderem einsetzt, als zur territorialen Verteidigung.
Beide vorangegangenen Kriege, an denen sich die »rot-grüne« Bundesregierung militärisch beteiligte, verstießen von A bis Z gegen das
Grundgesetz. Mehr noch: Was im Fall des Angriffskrieges gegen Jugoslawien als »Ausnahme« verstanden werden sollte, soll nun der Normalfall werden. Mit der angekündigten Neufassung der Bundeswehrrichtlinien
erhält der Verfassungsbruch den Rang einer außenpolitischen Direktive:
»Jeder weiß, daß die Landesverteidigung auf absehbare Zeit keine Rolle
mehr spielt.« (Angelika Beer, Verteidigungsexpertin der Grünen, FR,
7.12.2002) Zukünftig gelte es, so der neue Verteidigungsminister Peter
Struck (SPD), deutsche Interessen »weit vor unseren Grenzen«, z. B. am
Hindukusch, auch militärisch durchzusetzen.
Das »Nein« im Einzelfall des Irak steht für ein künftiges »Ja« zu
einer Kriegspolitik, die aus dem Schatten kostspieliger internationaler Verpflichtungen heraustritt, und - wie jede andere imperiale
Macht auch - militärische Ausgaben mit zu erwartenden Gewinnen
»gegenfinanziert«.
Wenn also die USA und Großbritannien mit diesem angekündigten Krieg
dieselben Ziele verfolgen, an deren militärischer Durchsetzung sich
Deutschland in den letzten zwei Kriegen beteiligte, dann sind weder
ein weiterer Verfassungsbruch noch ein abermaliger Verstoß gegen
internationales Recht für das jetzige »Nein« ausschlaggebend. Es
sind nicht die Kriegsziele, die sich geändert haben, sondern die
Rolle Deutschlands. Bis 1989 fanden sich die jeweiligen Bundesregierungen mit »sekundären Hilfestellungen« ab. Sie stellten den USA
(und Großbritannien) die militärische Infrastruktur zur Verfügung
und deckten mit Diplomatie, Scheckbuch und Wirtschaftshilfen den
politischen Rückraum ab. Eine direkte militärische Beteiligung war
weder innenpolitisch noch gegenüber den einstigen Siegermächten
durchzusetzen.
Mit der Einheit Deutschlands, dem Zusammenbruch des sowjetischen
Machtsystems samt Militärbündnis und der Neubestimmung der NATO fiel
die Zuteilung als vorderster Frontstaat gegen die »kommunistische
Gefahr« weg. Gleichzeitig erklärten Regierung und Opposition die
militärische Abstinenz (»Nie wieder Auschwitz - Nie wieder Krieg«)
für abgegolten und überholt: »Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik ist unwiederbringbar vorbei.« (Bundeskanzler Gerhard
Schröder, FR, 19.8.2002)
Tunlichst vermied man es in dieser Gewöhnungs- und Einschulungsphase,
sich an Kampfeinsätzen zu beteiligen. Man verabscheute das Wort
Krieg und redete lieber von friedenssichernden und friedensstiftenden
Maßnahmen. Step by Step wurde die Dosis Krieg erhöht: »Seit dem rot-
grünen Wahlsieg 1998 - damals waren gut 2.000 Soldaten in Bosnien
und knapp ein Dutzend bei der UNO-Mission in Georgien stationiert -
hat sich das Bundeswehrengagement im Ausland praktisch verfünffacht
[...]« (Spiegel, 11.3.2002) Die Phase der internationalen Einsätze
wurde eingeläutet und das Erlangen »außenpolitischer Normalität«
gefeiert. »Mittlerweile stellt die Bundeswehr nach den USA das zweitgrößte Truppenkontingent in internationalen Einsätzen.« (Gerhard
Schröder, FR,19.8.2002)
Das letzte Tabu gebrochen
Auch in dieser Phase der »Enttabuisierung des Militärischen« vermied
man es, die Kriegsbeteiligung mit eigenen Interessen und Machtansprüchen in Verbindung zu bringen. Man begnügte sich militärisch mit
einer Nebenrolle, die mit einer Hauptrolle in Sachen Nation Building
versüßt wurde. Der Einstand als zukünftiger Global Player hat man
sich etwas kosten lassen: »Die Kosten für die Auslandseinsätze der
Bundeswehr belaufen sich in diesem Jahr auf etwa 1,6 Milliarden
Euro [...] Damit hätten sich die Kosten für Auslandseinsätze seit
Amtsantritt der Schröder/Fischer-Regierung 1998 nahezu verzehnfacht,
kritisierte Petra Pau (PDS).« (FR, 7.12.2002)
Von nun an muß sich eine Kriegsbeteiligung rechnen: »Auch mal Nein
sagen. Das heißt nicht, jegliches militärisches Engagement per se
abzulehnen [...] Das heißt: Das eigene Interesse an der jeweiligen
Militäroperation zu definieren. Daran hat es in der Vergangenheit
doch erheblich gehapert. Paradox genug: Je stärker dieses Deutschland
militärisch wird, desto überzeugender wird ein Nein im Einzelfall
wirken.« (FR 7.12. 2002)
Es wird nicht lange dauern und das »eigene Interesse an der jeweiligen
Militäroperation« wird die Kommentarspalte regierungsfreundlicher
Medien verlassen und ganz selbstverständlich Eingang in regierungsamtliche Erklärungen finden. Dafür muß das noch bestehende Tabu
gegenüber einem Krieg, der des Profits wegen geführt wird, gebrochen
werden. Doch wer - wie der SPD-Verteidigungsminister Peter Struck -
angesichts eines durchgeknallten Sportfliegers über Frankfurt das
Grundgesetz ändern will, um die Bundeswehr auch im Innern einsetzen zu
können, wird sich mit dem letzten Tabu nicht mehr all zu schwer tun.
Alles spricht dafür, daß zur Wahrung eigener Interessen kein deutscher
Sonderweg eingeschlagen, sondern eine europäische Lösung gefunden
wird: der Aufbau einer militärisch eigenständig operierenden Interventionsarmee, deren Einsatzfähigkeit auf das Jahr 2004 vorverlegt
wurde.
* Wolf Wetzel veröffentlichte zuletzt das Buch »Krieg ist Frieden.
Über Bagdad, Srebrenica, Kabul nach ...«, Unrast-Verlag, Münster
2002
Aus: junge Welt, 21./22.01.2003
Zurück zur Irak-Seite
Zur Nahost-Seite
Zurück zur Homepage