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Neuauszählung in Bagdad

Regierungsbildung nach März-Wahl weiter verzögert

Von Karin Leukefeld, Sulaimaniya *

Die irakische Wahlkommission hat am Montag (3. Mai) mit der von Regierungschef Nuri al-Maliki geforderten Neuauszählung der Stimmzettel aus Bagdad begonnen.

Zwei Monate nach den irakischen Parlamentswahlen am 7. März wird die Bestätigung des Wahlergebnisses durch zwei juristische Verfahren weiter verhindert. Eines befasst sich mit dem nachträglichen Ausschluss von rund 60 Kandidaten wegen ihrer angeblichen Nähe zur Baath-Partei, die in Irak seit 2003 verboten ist. Die Betroffenen hatten bei den Wahlen Tausende von Stimmen erhalten, zwei von ihnen wurden ins Parlament gewählt.

Das andere Verfahren ist die manuelle Neuauszählung von rund 2,5 Millionen Stimmzetteln in Bagdad, die am Montag begonnen hat. Gefordert worden war die Neuauszählung von der Koalition für den Rechtsstaat des amtierenden Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, die am 7. März mit 89 Mandaten den zweiten Platz belegte. Platz eins hatten der frühere Premier Ijad Allawi und seine Liste Al-Irakia mit 91 Mandaten belegt. Maliki hatte das Ergebnis umgehend angezweifelt und Beschwerde eingelegt. Die Wahlkommission glaubt, dass ein neues Ergebnis in zwei Wochen vorliegen kann. Maliki hat dem ursprünglichen Ergebnis zufolge in der Hauptstadt 26 Mandate, Allawi 24 Mandate errungen.

Allawi wandte sich nach Bekanntwerden der Entscheidung zur Neuauszählung in der vergangenen Woche in einem offenen Brief an die Vereinten Nationen und an die Arabische Liga. Er warnte davor, dass politische Einflussnahme durch Gerichtsentscheidungen das Land destabilisieren könnte. Da Irak nach internationalem Recht unter Kapitel VII der UN-Charta regiert werde, wolle man die Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates, die EU, die Organisation der Islamischen Konferenz und die Arabische Liga auffordern, »von ihrem moralischen und legalen Recht Gebrauch zu machen, den politischen Prozess in Irak vor allem Unrecht zu schützen und eine Übergangsregierung zu bilden, die Neuwahlen frei von politischer Manipulation ausrichtet«.

Vertreter von Malikis Rechtsstaatsallianz zeigten sich gestern schon wenige Minuten, nachdem die ersten Urnen geöffnet worden waren, skeptisch. Ölminister Hussein al-Schahristani sagte, die Wahlkommission habe sich geweigert, die Wählerregister mit der Zahl der Stimmzettel pro Urne abzugleichen. Damit werde die Neuauszählung der Stimmen von Hand unglaubwürdig.

Mehr als 300 Beschwerden waren nach den Wahlen eingegangen, die Neuauszählung in Bagdad ist aber bisher die einzige, die vom zuständigen Gericht zugelassen wurde. Die Kurdistan-Allianz geht derweil davon aus, dass ihrer Forderung nach Neuauszählung in den Provinzen Ninive und Tamim (Kirkuk) ebenfalls stattgegeben wird. Salam Abdullah, Vertreter der Demokratischen Partei Kurdistans in Sulaimaniya sagte gegenüber der Autorin, die Ergebnisse in beiden Provinzen seien völlig unrealistisch, denn sowohl in Kirkuk als auch in Ninive seien die Kurden in der Mehrheit. In Kirkuk hatte Al-Irakia überraschend die Hälfte der zwölf Mandate gewonnen, in Ninive sogar mehr als die Kurdistan-Allianz.

Auch wenn die Regierungsbildung in Bagdad damit weiter hinausgeschoben würde, sei eine Neuauszählung unabdingbar, erklärte Abdullah. Präferenzen für die eine oder andere arabische Partei habe man nicht, allerdings wollten die Kurden wieder hohe Posten in der Regierung erhalten. Man gehe mit jener Partei, die ihre Forderungen erfülle: ein Referendum über die Zukunft von Kirkuk, 17 Prozent des irakischen Haushalts direkt zahlbar an die kurdische Regionalregierung und freie Hand beim Abschluss von Verträgen mit internationalen Ölkonsortien.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Mai 2010


Irakischer Machtpoker

Von Roland Etzel **

Fast genau zwei Monate ist es her, seit die Iraker über ein neues Parlament abstimmten. Welche der rivalisierenden Machtgruppen dieses Votum am Ende an die Macht spülen wird, steht noch nicht fest; allerdings hat Ministerpräsident Maliki jetzt ein Bündnis gebastelt, das zur Regierungsbildung reichen könnte. Wie immer das Resultat am Ende aussehen wird, es dürfte Ernüchterung hervorrufen. Sachthemen spielten bei den Nachwahlsondierungen kaum eine Rolle, um so mehr Clan- und Religionszugehörigkeit. Die Parteiführer machten überhaupt keinen Hehl aus ihrer Auffassung, dass sie Koalitionspoker als Geben und Nehmen fetter irakischer Pfründen verstehen und führten das auch ungeniert vor. Wenigstens in diesem Punkt scheinen sie wesentlichen Erscheinungsformen gelebter westlicher Demokratie endlich nahe gekommen.

Das Schicksal jedweder irakischer Regierung ist dennoch vollkommen offen, wenn nämlich mit einem tatsächlich beginnenden Abzug der US-Truppen das Hauen und Stechen um die Macht so richtig beginnt. Dann steht auch der Zusammenhalt des Staates auf dem Spiel. Ein säkular orientierter Ministerpräsident wie Ex-Premier Allawi, dessen Partei vielleicht deshalb die meisten Stimmen erhielt, wäre da möglicherweise von Vorteil gewesen. Aber Allawi ist gerade ausgebootet worden.

** Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2010 (Kommentar)


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