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Irak vor neuen Wahlen

Hintergrund. Statt einer Stabilisierung nach sieben Jahren Besatzung demonstriert der neue Urnengang die Brüchigkeit des von den USA installierten Regimes

Von Joachim Guilliard *

Sieht man von spektakulären Ereignissen, wie den Bombenanschlägen im Bagdader Regierungsviertel, ab, ist der Irak aus den Schlagzeilen verschwunden. Offiziell ist das Ende der Besatzung nun eingeleitet. Bis 2012 sollen alle Besatzungstruppen das Land verlassen haben. Immer mehr setzt sich hierzulande der Eindruck durch, der Irak sei auf dem Weg zur Normalität.

Die am 7. März stattfindenden Parlamentswahlen gelten dabei als letzter entscheidender Schritt für die Konsolidierung der von den USA angestrebten Nachkriegsordnung. Tatsächlich zeigte der Wahlprozeß immer deutlicher deren negative Züge: staatliche Repression, Terror, territoriale Konflikte, Einmischung von außen und schließlich auch der eklatante Mißbrauch staatlicher Institutionen.

Nach wie vor finden diese Wahlen unter Besatzungsbedingungen statt und können schon deswegen weder fair noch frei sein. Ein beträchtlicher Teil der Opposition ist von vornherein ausgeschlossen.

Besatzung und Diktatur

Entgegen dem vorherrschenden Bild ist der Krieg im Irak noch lange nicht zu Ende. Die militärischen Auseinandersetzungen sind zwar stark zurückgegangen. Viele Städte gleichen nun aber düsteren Festungen. Bagdad beispielsweise sei »ein Hochsicherheitsgefängnis mit 1000 Betonmauern, 1000 Schießtürmen und 1000 schwerbewaffneten Checkpoints«, so Jürgen Todenhöfer, der die Stadt im vergangenen Herbst besuchte. Noch immer gibt es in der total militarisierten Hauptstadt pro Tag über zehn »militärische Zwischenfälle«: Angriffe irakischer Widerstandskämpfer auf US-Truppen, Operationen von Besatzungssoldaten und Gewalttaten diverser Milizen und Terrorgruppen.

Auch unter Obama setzt die Besatzungsmacht auf ihren neuen starken Mann im Irak, den Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki. Dieser, als Kompromißkandidat ohne Hausmacht ins Amt gekommen, hat im Laufe des letzten Jahres seine Machtposition stark ausbauen können. Sukzessive besetzte er – am Parlament vorbei – Schlüsselpositionen in Regierung, Verwaltung, Polizei und Militär mit Getreuen aus seiner Partei oder seinem Familienclan.

Mit US-Hilfe hatte er sich zudem einen eigenen Geheimdienst und mächtige militärische Spezialeinheiten zugelegt. Diese von »Green Berets« ausgebildeten 4500 Mann starken »Iraq Special Operations Forces« (ISOF) operieren völlig verdeckt – unter Malikis Oberbefehl und unter Aufsicht der US-Armee, aber ohne sonstige Kontrolle irakischer Institutionen. Die neuen Todesschwadrone gelten mittlerweile als schlagkräftigste Truppe des Landes.[1]

Viele Beamte, Geistliche und Politiker im Irak, so der britische Guardian im April letzten Jahres, sprechen von einer neuen Diktatur und vergleichen Maliki bereits mit Saddam Hussein. Sechs Jahre nach Kriegsbeginn würde das Land nach ziemlich vertrauten Linien aufgebaut, so das Fazit der Zeitung: »Konzentration von Macht, schattenhafte Geheimdienste und Korruption.«[2]

Auch andere Zeitungen charakterisieren den »neuen Irak« immer öfter als Polizeistaat. So kritisch diese Berichte auch die irakische Seite beleuchten, die Rolle der Besatzer wird völlig ausblendet. Geflissentlich wird übersehen, daß diese immer noch durch unzählige »Berater« ihren Einfluß in allen wesentlichen Bereichen ausüben und die riesige Botschaftsfestung im Zentrum Bagdads das eigentliche Machtzentrum im Irak darstellt. Besatzung und »Polizeistaat« sind nur zwei Seiten einer Medaille.

Neue Kräfteverhältnisse

Rein äußerlich hat sich an den Bedingungen seit den ersten Urnengängen 2005 nicht viel geändert. Nach wie vor steht das Land unter Besatzung und ist die legale Basis eine widersprüchliche Verfassung mit zweifelhafter Legitimität. Geändert haben sich jedoch die Kräfteverhältnisse. Hatte 2005 die Besatzungsmacht noch die Fäden in der Hand, so sanken ihre Einflußmöglichkeiten in dem Maße, wie die verbündeten Parteien ihre Position im Staat ausbauen konnten. Aufgrund deren engen Beziehungen zum Iran wuchs auch dessen Einfluß massiv. Gleichzeitig wuchs in der Bevölkerung auch die Stimmung gegen Besatzung, Sektierertum und religiös motivierte Gewalt. In allen Bereichen entstand eine starke nationalistische Opposition, der sich auch viele einstige US-Verbündete wie der erste Interimspremier und Ex-CIA-Mitarbeiter Ijad Allawi anschlossen.

An sich hätten die Wahlen bis spätestens Januar stattfinden müssen. Monatelange Auseinandersetzungen um ein neues, faireres Wahlgesetz verhinderten dies. Die Kurdenparteien widersetzten sich schließlich erfolgreich einem speziellen Quotensystem für das umkämpfte Kirkuk und die schiitischen Regierungsparteien dem Verbot der Wahlwerbung in Moscheen und mit den Bildern der angesehenen Großajatollahs, durch die sie im religiös-konservativen Lager punkten können. Erst durch Einsatz seines Vetorechtes konnte der sunnitische Vizepräsident Tariq Al-Hashemi eine bessere Repräsentation der zwei Millionen irakischen Flüchtlinge im Ausland erreichen.

Wahlbündnisse

Da das irakische Wahlsystem große Listenverbindungen bevorzugt, war die Formierung der Wahlblöcke zunächst geprägt von den Bemühungen, möglichst breite Koalitionen zu bilden. Zeitweise schien jeder mit jedem zu verhandeln. So bemühte sich Regierungschef Maliki, sein neues nationalistisches Profil durch Bündnisse mit säkularen arabischen Nationalisten wie der Irakischen Nationalen Front von Salah Al-Mutlak zu stärken.

Die meisten Versuche scheiterten, ein überraschender Deal jedoch hielt: Der prominente Geistliche Muqtada Al-Sadr und seine Bewegung schlossen sich mit ihrem Erzrivalen, dem Obersten Islamischen Rat (ISCI), zusammen und führen gemeinsam eine neue Liste schiitischer Parteien an, die »Irakisch-Nationale Allianz (INA). Geschmiedet wurde dieses Wahlbündnis der an sich verfeindeten Kräfte in Teheran, unter aktiver Vermittlung hochrangiger iranischer Politiker.

Insgesamt kristallisierten sich fünf größere Bündnisse heraus. Neben der INA tritt erneut die kurdische Allianz aus PUK und KDP an. Maliki und seine schiitische Dawa-Partei sind aus der schiitischen Einheitsliste ausgeschert und führen eine eigene Liste, die »Rechtsstaatskoalition«, an. Diese gibt sich konfessionsübergreifend und hat sich durch Verbündete aus dem Stammeslager ein gewisses nationalistisches Profil verschafft.

Das vierte große Listenbündnis, die »Allianz für die irakische Einheit«, ist gleichfalls gemäßigt nationalistisch und nicht konfessionell oder völkisch. Hier handelt es sich um Gegner Malikis, die fest innerhalb des von den Besatzern geschaffenen Rahmens stehen. Programmatisch unterscheiden sie sich von ihm kaum, die meisten Kandidaten sind jedoch eindeutig säkular orientierte Politiker. Führende Persönlichkeiten sind Innenminister Jawad Al-Bulani und Scheich Ahmed Abu Risha, einer der Stammesführer an der Spitze des »Anbar Erweckungsrates« und Mitinitiator der Bündnisse sunnitischer Stammesmilizen mit den Besatzern.

Schließlich vereinigten sich noch die Parteien des Exinterimspremiers Ijad Allawi und die von Salih Al-Mutlak geführte Irakische Nationale Front (Al-Hiwar) zur »Irakischen Nationalen Bewegung« (Al-Irakia). Dieser ungleichen Allianz zwischen dem einstigen US-Verbündeten und der entschiedensten nationalistischen Opposition im Parlament, schlossen sich noch weitere prominente, säkulare, schiitische und sunnitische Politiker an, darunter Vizepräsident Tariq Al-Hashemi und der stellvertretende Ministerpräsident Rafea Al-Issawi, die von der Islamischen Partei überwechselten, der einzigen sunnitischen Partei in der Regierung. Da die Al-Irakia am eindeutigsten säkular, nationalistisch und gegen die Besatzung gerichtet ist, werden ihr gute Chancen eingeräumt.

Regierungsgegner ausgeschlossen

Die kommenden Wahlen werden der vierte landesweite Urnengang seit Kriegsbeginn 2003 sein. Die Erfahrung mit den bisherigen sei für die Iraker sehr durchwachsen gewesen, meint die transatlantische Denkfabrik International Crisis Group (ICG) in ihrer aktuellen Analyse zu den Wahlen im März. Dies ist äußerst milde ausgedrückt: Tatsächlich waren alle geprägt von Repression, Wählereinschüchterung und massivem Wahlbetrug.[3]

Die diesjährige Abstimmung begann gleich mit einem Eklat: Mitte Januar verkündete die »Irakische unabhängige Wahlkommission« (IHEC) den Ausschluß von 511 Kandidaten und 15 Parteien wegen angeblicher Nähe zur verbotenen Baath-Partei. Unter den Betroffenen sind viele führende Persönlichkeiten der Opposition, darunter auch die prominenten Politiker Salih Al-Mutlak und Zafer Al-Ani von der Al-Irakia. »Unter normalen Umständen würde dies schon genügen, um die Wahlen zu diskreditieren«, so die ICG.

Initiiert wurde der Bann vom »Komitee für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht«, das noch auf die Entbaathifizierungsverordnung des einstigen US-Statthalters im Irak Paul Bremer zurückgeht. Dieses sollte für die Säuberung aller öffentlichen Einrichtungen, Staatsbetriebe etc. von Funktionären der Baath-Partei sorgen. 2008 verabschiedete das Parlament dafür zwar ein eigenes Gesetz, konnte sich aber nicht über die Zusammensetzung des neuen Komitees einigen. So führten der von Bremer eingesetzte einstige Liebling der Neokonservativen, Ahmed Chalabi, und sein Kumpan Ali Al-Lami ihre Geschäfte einfach weiter. Obwohl Chalabis Komitee ohne Rechtsgrundlage operiert, erkannte die Wahlkommission dessen Entscheidung ohne weiteres an. Die Vorwürfe selbst blieben geheim. Über die Hintergründe muß man nicht rätseln: Chalabi und Al-Lami sind gleichzeitig auch Spitzenkandidaten der schiitischen Allianz INA, und die Mitglieder der IHEC stehen ebenfalls ausnahmslos den Regierungspartien nahe.

Die US-Regierung setzte alle Hebel in Bewegung, um diese allzu plumpe Ausschaltung aussichtsreicher Gegner wieder rückgängig machen, blieb jedoch erfolglos. Der zur Überprüfung der Fälle eingesetzte Appellationsausschuß wollte zunächst den Einsprüchen der Ausgeschlossenen stattgeben, revidierte seine Entscheidung jedoch aufgrund massiven Drucks von Maliki eine Woche später wieder. Nur knapp 50 Kandidaten wurden am Ende doch noch zugelassen.

Im Falle der Nationalen Front Al-Mutlaks blieb praktisch die gesamte Partei ausgeschlossen, immerhin die fünftstärkste Fraktion im aktuellen Parlament. Ihm selbst droht Gefängnis, da er bewaffnete Widerstandsgruppen finanziell unterstützt haben soll. Es lägen Geständnisse von Gefangenen vor, die dies belegen würden. Tatsächlich wurden vor einigen Monaten mehrere seiner Leibwächter festgenommen. Der Verdacht Mutlaks, daß sie oder andere Gefangene durch Folter zu belastenden Aussagen gezwungen wurden, liegt nahe.

Letzter Ausweg Wahlmanipulation

In den Medien war schnell wieder vom Aufleben konfessioneller Konflikte die Rede. Tatsächlich zeigt die Liste der Ausgeschlossenen deutlich, daß überwiegend säkulare, nationalistische Politiker aller Konfessionen betroffen sind, neben 72 Kandidaten der Al-Irakia z. B. auch 67 von der »Allianz für die irakische Einheit« des Innenministers Bolani. Und obgleich die Initiative von Chalabi, der mittlerweile eng mit Teheran liiert ist, und der schiitischen Einheitsliste ausging, so wurde der Ausschluß von Maliki sofort unterstützt – zum Entsetzen Washingtons und westlicher Beobachter, die eine staatsmännische Haltung ihres Hoffnungsträgers erwartet hatten.

Seine Partei hat in den von ihr kontrollierten Provinzen nun sogar eigene Entbaathifizierungskomitees gegründet, um auf lokaler Ebene mißliebige Politiker und Beamte aus den Ämtern werfen zu können. So nützte es dem prominenten Irakia-Kandidat von Babel, Iskandar Witwit, nichts, daß er zu den wenigen gehört, deren Ausschluß vom Gericht aufgehoben wurde – er wurde dennoch seines Amtes als Vizegouverneur enthoben, alle seine Anordnungen wurden annulliert.

Die schiitischen Regierungsparteien sind sich des schlechten Bildes, das sie international abgeben, sicherlich bewußt. Doch sie hatten, angesichts schwindender Wahlchancen, schlicht Panik bekommen, vermutet der ehemalige irakische Botschafter bei der UNO, Feisal Al-Istrabadi. In der Tat deuten u. a. Meinungsumfragen der britischen und US-amerikanischen Botschaft darauf hin, daß Al-Irakia die Wahlen gewinnen und somit Allawi Regierungschef werden könnte.

Schon die Provinzwahlen im Januar letzten Jahres waren eine bedrohliche Warnung für die Regierungspartien gewesen. Diese zeigten sehr deutlich, wie überdrüssig die meisten Iraker der sektiererischen Politik turbantragender Politiker waren und wie empört über deren miserable Leistungen, ihre Unfähigkeit und Korruption. Sie zeigten ein klares Votum für einen einheitlichen, zentralen Staat und die Wiederbelebung der alten irakischen nationalen Identität.

Zwar hatte vor allem der ISCI massiv an Stimmen verloren. Letztlich waren aber in allen Provinzen die Parteien abgestraft worden, die sie bis dahin regiert hatten. Maliki hatte in den meisten Provinzen im Süden gut abgeschnitten, hatte aber auch nur in Kerbela die Provinzregierung gestellt. Dort verloren sie ebenfalls dramatisch.

Maliki hatte sich durch sein neues Image etwas vom allgemeinen Trend absetzen können: vielen erschien er als neuer starker Mann, der für eine Verbesserung der Sicherheitslage sorgte, den Besatzern ein Abkommen über einen Rückzug abrang und gleichermaßen gegen die schiitische Bewegung Al-Sadrs und Al-Qaida wie auch die territoriale Ansprüche der Kurden vorgeht. Die landesweit erreichten 15 Prozent der Stimmen sind jedoch bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent alles andere als ein sicheres Polster. Sah es zunächst noch so aus, als könnte er seine Position als Mann der Mitte ausbauen, so wurde sein Image im Herbst durch die Serie von verheerenden Anschlägen auf das stark gesicherte Zentrum Bagdads schwer erschüttert. Auch die immer noch katastrophale Versorgungslage wird ihm zunehmend persönlich angelastet.

Neue Hexenjagd

Mit der Debaathisierungskeule konnten schließlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Die schiitischen Parteien schossen damit nicht nur gewichtige Gegner aus dem Rennen, mit der dadurch angeheizten Debatte konnten unangenehme Themen wie das Versagen bei Versorgung und Wiederaufbau, die ungeheure Korruption oder die mangelnde Sicherheit in den Hintergrund gedrängt werden. Säkularismus und arabischer Nationalismus wird dabei einfach mit »Baathismus« gleichgesetzt. Bei einem guten Teil der schiitischen Bevölkerung konnten sie sich einer positiven Resonanz sicher sein, der Haß gegen den Baathismus ist hier noch weit verbreitet.

Die schiitischen Parteien tun seither alles, das Thema in den Schlagzeilen zu halten. Längst geht es nicht nur gegen Kandidaten. Chalabi und Maliki haben eine neue Hexenjagd gegen alle gestartet, die als zu arabisch-nationalistisch erscheinen. Mitte Februar kündigte Al-Lami die Entlassung von Hunderten Polizeibeamten und Armeeoffizieren an, denen bald Tausende folgen würden. Auf der Abschlußliste sind u.a. auch zehn Professoren der Universität von Kerbela und zahlreiche führende Angestellte der South Oil Company. Die Mitarbeiter des zentralen staatlichen Ölkonzerns, dem größten und wichtigsten Unternehmen des Landes, hatten sich in jüngster Zeit vehement gegen den Einstieg ausländischer Konzerne gestellt. Wie bei den frühen Entbaathifizierungswellen sehen sich viele, die vor 2003 ein Amt innehatten oder Mitglied in der Baath-Partei waren, nicht nur der Gefahr ausgesetzt, aufgrund willkürlicher Vorwürfe den Job zu verlieren, sondern auch auf die Liste schiitischer Todesschwadrone zu geraten.

Die Repression gegen oppositionelle Kandidaten und gewählte Politiker begann allerdings nicht erst mit der neuen Debaathisierungskampagne, insbesondere in den mehrheitlich sunnitischen Provinzen ist dies schon lange Praxis. In Diyala z. B., wo sunnitische und säkulare Politiker diesmal die Mehrheit der Sitze im Provinzparlament erlangten, ergingen bald nach den Wahlen im letzten Januar, gegen ein Viertel aller Abgeordnete des Provinzparlaments Haftbefehle wegen angeblicher Kontakte zum Widerstand. Im Dezember hatten die von Maliki befehligten Spezialeinheiten bei mehrtätigen Razzien über 100 Personen aus deren Häusern geschleppt, und Anfang Februar wurde Najim Al-Harbi, der Spitzendkandidat der stärksten sunnitischen Partei von Diyala und populärer Führer der mit den USA verbündeten Awakening-Miliz, festgenommen. An einen regulären Wahlkampf war daher für oppositionelle Gruppen ohnehin nicht zu denken.

»Wie in Afghanistan«

Al-Mutlak und andere Betroffene hatten zunächst einen Boykott der Wahlen proklamiert, diese Ankündigung jedoch bald wieder zurückgenommen. Er wäre ihnen, wie der Wahlboykott der Sunniten 2005, nur auf die eigenen Füße gefallen. Auch 2005 gab es sehr gute Gründe dafür, die Wahlen unter Besatzungsbedingungen abzulehnen. Da sich die internationale Öffentlichkeit aber nicht um die Verweigerung eines Fünftels der Wählerschaft scherte, stellte ihr Boykott die Legitimität der Wahlen kein bißchen in Frage, beraubte sie jedoch ihrer Einflußmöglichkeiten im zunehmend wichtiger werdenden Parlament.

Auch diesmal braucht die Opposition auf internationale Unterstützung nicht zu hoffen, der Protest blieb wie immer blaß. Dabei geht es nicht nur um die fragwürde Praxis der Entbaathifizierung. Die Ereignisse stellen, wie auch die ICG festellte, die Legitimität und Unabhängigkeit der irakischen Wahlkommission generell in Frage sowie deren Fähigkeit, einen korrekten Ablauf der Abstimmung zu garantieren. Damit ist die Glaubwürdigkeit der Wahlen bereits jetzt dahin. Doch »die USA wollen diese Wahlen um jeden Preis, egal ob gut oder schlecht, mit oder ohne Betrug, genauso wie mit Karsai in Afghanistan«, so der unabhängige kurdische Abgeordnete Mahmoud Othman erbittert gegenüber dem Team der ICG.

Besatzer in der Zwickmühle

An Boykott denkt, so die New York Times, trotz der Repression auch in Diyala diesmal keiner. Die Gegner der Besatzung und des von den USA geschaffenen Regimes wollen die Stimmung in der Bevölkerung nutzen, um über die Wahlen das jetzige kurdisch-schiitische Regime zu beseitigen. Sollte dies scheitern, so dürfte die Wut über Wahlmanipulationen und Betrug zu heftigen Protesten führen, die rasch auch eskalieren könnten.

Viele, die sich dann um die Hoffnung betrogen fühlen, ihr Ziel mit politischen Mitteln erreichen zu können, werden es vermutlich nicht bei verbalen Protesten belassen, und der militärische Widerstand wird zunehmen. Schon jetzt haben, so der Eindruck US-amerikanischer Geheimdienste, bewaffneten Gruppen wieder erheblichen Zulauf bekommen.

Die Entwicklung brachte die Besatzungsmacht in ein schwieriges Dilemma. Einerseits setzen sie nach wie vor auf Al-Maliki. Herausforderer Allawi, der bei einem Besuch in Washington Obama für eine alternative Option erwärmen wollte, wurde nicht einmal ins Weiße Haus vorgelassen. Zentraler Punkt ihrer Irak-Strategie ist jedoch auch, oppositionelle sunnitische und säkulare Kräfte durch eine stärkere Beteiligung an der Macht einzubinden und dadurch das neue Regime zu stabilisieren. Dies wiederum ist die Voraussetzung, die Zahl der eigenen Truppen im geplanten Maß verringern zu können. Maliki steuert nun jedoch genau in die andere Richtung, auf Konfrontationskurs.

US-amerikanische Politiker und Militärs machten daher aus ihrem Unmut über Chalabis Coup keinen Hehl. So bezichtigten General Odierno, der Oberkommandierende der Besatzungstruppen, und Botschafter Chris Hill Chalabi öffentlich, im Auftrag des Iran zu agieren. Doch wenn es für die Kompradoren um den nackten Machterhalt geht, schwinden die Einflußmöglichkeiten der Besatzer. Wenn die Obama-Administration das für sie so wichtige Wahlprojekt nicht selbst diskreditieren will, bleibt ihr nichts übrig, als zu versuchen, die Aufregung zu dämpfen.

Insgesamt bewerben sich nun noch 6172 Kandidaten auf den Listen von 165 politischen Gruppen und zwölf Koalitionen um die 325 Parlamentssitze. Diese Zersplitterung begünstigt einerseits die großen Koalitionen, läßt anderseits aber auch keine klaren Mehrheitsverhältnisse erwarten. Auch wenn die Regierungsparteien Sitze einbüßen dürften, könnte dies es den USA noch einmal ermöglichen, eine von Maliki geführte Regierung durchzusetzen, wahrscheinlich erneut im Bündnis mit den Kurdenparteien und ISCI, sowie Al-Sadr und Chalabi. Diese Regierung hätte eine noch geringere Legitimation als die bisherige und stünde in offener Konfrontation zu den säkularen, sunnitischen und nationalistischen Kräften im Lande.

Angesichts der sich zuspitzenden Situation haben die US-Kommandeure offenbar schon ihre Pläne für eine Verlängerung ihrer Truppenpräsenz, über die vereinbarten Termine hinaus, konkretisiert.[4] Von einem vollständigen Abzug waren die führenden Kommandeure nie ausgegangen. Der Spielraum wird nun jedoch durch die massive Truppenerhöhung in Afghanistan zunehmend beschränkt.

Aus diesem Grund konnte auch nicht, wie geplant, die Truppenstärke im Irak bis zu den um mehrere Monate verschobenen Wahlen gehalten werden. Mangels Reserven mußten mehr als 20000 Soldaten früher aus dem Irak abgezogen werden. Laut US-Kommandeur Odierno sollen die noch verbleibenden 96000 in nächster Zeit um weitere 10000 pro Monat reduziert werden.

Sollte sich jedoch, wie zu erwarten, die Bildung einer neuen Regierung wieder über Monate hinziehen, der Unmut über den Wahlausgang in gewalttätige Proteste umschlagen und der militärische Widerstand zunehmen, werden die verbleibenden Truppen kaum ausreichen, die Lage in den Griff zu bekommen. Ein Verbleib über die vereinbarten Termine hinaus wird den Widerstand jedoch erst recht anheizen.

Fußnotenm
  1. Shane Bauer, »Iraq’s New Death Squad«, in: The Nation v. 22.6. 2009 (dt. Übersetzung: »Die schmutzige Brigade von Bagdad«, in: Le Monde diplomatique, 10.7.2009)
  2. »Six years after Saddam Hussein, Nouri al-Maliki tightens his grip on Iraq«, in: The Guardian, 30.4.2009
  3. Iraq’s Uncertain Future: Elections and Beyond, International Crisis Group, Middle East Report N°94, 25.2.2010
  4. »U.S. Will Slow Iraq Pullout If Violence Surges After Vote«, in: Wall Street Journal, 23.2.2010
* Joachim Guilliard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher.

Aus: junge Welt, 6. März 2010



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