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Der demokratische Ajatollah

Ein Porträt von Ali al-Sistani, dessen religiöse Autorität unbestreitbar und dessen politische Ambitionen unergründlich sind

Großajatollah Ali al-Sistani hat jüngst bei der Herstellung des Waffenstillstands in Nadschaf eine außerordentlich wichtige politische Rolle gespielt. Im Folgenden geht die Journalistin und Nahost-Kennerin Karin Leukefeld der Frage nach, ob al-Sistani unter Ausnutzung seiner geistlichen Autorität auch politische Ambitionen verfolgen könnte - vergleichbar den Verhältnissen im Iran.
Der erste Text "Der demokratische Ajatollah" stammt von Ende August 2004; der zweite Text, ein Interview mit Scheich Abdulmehdi Al-Karbalai, einem engen Vertrauten al-Sistanis, ist schon um einiges älter (Februar 2004). Er verdeutlicht eindringlich, dass schon damals die Schiiten und darüber hinaus die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung nichts sehnlicher wünschten als die Beendigung der Besatzung.



Porträt

Der demokratische Ajatollah

Von Karin Leukefeld, Bagdad

Ein irakischer Junge küsst ein Plakat von Ajatollah Sistani Kaum ein Porträt sieht man im Irak heute so häufig wie das des schiitischen Großajatollahs Ali al-Sistani. Selbst im Ölministerium kleben kleine Plakate mit seinem Bild und der Erklärung, warum er allgemeine und freie Wahlen im Irak für so wichtig hält. Die englischsprachige Wochenzeitung "Iraq Today" druckte kürzlich gar ein ganzseitiges Titelfoto des Ajatollahs mit der Überschrift "Demokrat".

In Ermangelung einer überzeugenden irakischen politischen Autorität hat Sistani die Führung der Opposition gegen die Pläne der US-Besatzungsverwaltung übernommen. Zwar trauern auch die Schiiten – wie die Mehrheit der Iraker - der früheren Regierung nicht nach. Doch die Besatzungstruppen lieben sie auch nicht. Deutlich kritisiert Sistani den von den Besatzungsmächten und dem Provisorischen Regierungsrat gemeinsam geplanten Übergabemodus, der Wahlen erst im Jahr 2005 vorsieht. Sistani spricht für die meisten Iraker, wenn er baldige direkte Wahlen für Parlament und Regierung fordert.

Seine religiöse Autorität ist unbestreitbar. Der im ostiranischen Meschhed geborene Ajatollah lebt seit 40 Jahren im Irak. Damals war Nadschaf im Irak noch Zentrum des schiitischen Islam. Doch infolge des Iran-Irak-Krieges und der Schiiten-Verfolgung im Irak hat die Stadt diese Rolle verloren. Sämtliche Religionsschulen mussten schließen, der schiitische Klerus wurde ermordet oder zog sich ins iranische Qom zurück. Jetzt erobert sich Nadschaf langsam seine alte Stellung zurück, der Großajatollah spielt dabei eine wichtige Rolle. Seine klaren Worte für rasche irakische Souveränität verleihen dem alten Mann, der öffentliche Auftritte seit Jahren meidet, große Glaubwürdigkeit. Vertrauen zu religiösen Führern

Dass Sistani nach politischer Macht im Irak strebt, ist unwahrscheinlich. Er hält sich streng an die religiösen Traditionen, wonach die Schiiten politischen Führern und staatlichen Systemen misstrauen. Ihr Wertesystem und die Lebensweise orientieren sich viel mehr an den von vertrauten religiösen Führern vorgegebenen Lehren und Maßstäben.

Diese Tradition wurde zwar von Ajatollah Ruhollah Khomeini mit der Islamischen Revolution in Iran durchbrochen, was aber im Ursprungsland des schiitischen Islam, im Irak, mit großem Misstrauen betrachtet wurde. Zwar halten viele Iraker eine Neueinführung islamischer Regeln in die Gesetzgebung für wünschenswert, doch das iranische Modell einer Islamischen Republik für den Irak findet keine große Zustimmung. So plädiert Ibrahim Al-Jafari, ein geachteter schiitischer Politiker und Vorsitzender der Al-Da’wa Partei, für eine tolerante islamische Regierung. Wichtig sind ihm besonders demokratische Wahlen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Noch hält die schiitische Einheit

Die Schiiten bilden heute die wohl am besten organisierte Gemeinschaft im Irak. Trotz der massiven Verfolgung unter dem früheren Regime von Saddam Hussein waren es die schiitischen Gemeinden, die als erste im Nachkriegschaos funktionierten und, in ihrem Sinne, für Ruhe und Ordnung sorgten. Inzwischen wurde eine Fülle neuer Religionsschulen eröffnet, ehemalige Büros der Baath-Partei wurden in Moscheen umfunktioniert. Die gut organisierten und wohl dosierten öffentlichen Aufmärsche von protestierenden Schiiten im Südirak, in Kerbala, Nadschaf und Bagdad im Januar haben der britisch-amerikanischen Besatzungsmacht gezeigt, welche Macht dahinter steckt.

www.tagesschau.de 25.08.2004

"Wir fürchten, dass die Übergangsregierung bleibt"

Scheich Abdulmehdi Al-Karbalai ist der Vertreter der Al-Sistani-Stiftung in Kerbala. Der gelernte Ingenieur war in den achtziger Jahren zehn Jahre lang inhaftiert, später stand er in Kerbala unter Hausarrest. Al-Karbalai genießt sowohl in der Bevölkerung als auch bei Großayatollah Al-Sistani großes Vertrauen. Manche Medien bezeichnen ihn als "Sprecher" von Al-Sistani, was er selbst jedoch zurückweist. Allerdings vertritt er in seinen Stellungnahmen die Ansicht der Hausa, des Obersten religiösen Rates der Schiiten.

tagesschau.de: Wie stellen Sie sich das politische System des zukünftigen Irak vor, wollen Sie eine islamische Regierung nach dem Vorbild des Iran?

Scheich Abdulmehdi Al-Karbalai: Die ausländische Presse scheint sehr besorgt über die Ideen der Hausa zu sein. Wir haben den Eindruck, dass in der westlichen Welt Angst geschürt wird. Wir wollen keine Islamische Regierung, wie es sie im Iran gibt. Wir streben nach einer Verfassung und Gesetzen, um das Land regierbar zu machen. Dabei soll die islamische Mehrheit unseres Volkes berücksichtigt werden. In allen Bereichen müssen die staatlichen Gesetze mit der islamischen Gesetzgebung harmonisieren.

tagesschau.de: Wie kann so eine "Harmonisierung" aussehen? Soll es eine Mischung von säkularem und religiösem Recht geben?

Al-Karbalai: Ich will ein Beispiel nennen. Als Schiiten haben wir das Recht, unsere religiösen Zeremonien zu praktizieren und entsprechende Institutionen zu formen. Wir haben das Recht, unsere Traditionen in Schulen zu unterrichten. Das war in der Vergangenheit verboten. Aber das heißt nicht, dass wir die Frauen zwingen wollen, in der Öffentlichkeit einen Schleier zu tragen. Wir unterschieden zwischen dem Zwang, dass Frauen einen Schleier tragen müssen oder in der Unterweisung, dass sie es an gewissen Orten tun sollten. Wie zum Beispiel in unseren heiligen Städten Kerbala oder Najaf. An bestimmten Orten müssen Grenzen gezogen werden. Wir wollen die Menschen nicht zu etwas zwingen, wir wollen, dass die Menschen Rechte haben etwas zu tun und sie können wählen.

tagesschau.de: Wie wichtig ist für Sie die geplante Machtübergabe von den Besatzungstruppen an die Iraker?

Al-Karbalai: Die Machtübergabe ist sehr wichtig. Aber noch wichtiger ist die verfassungsgebende Versammlung. Unserer Ansicht nach sollte weder der Provisorische Regierungsrat noch die Besatzungsverwaltung dieses Gremium bestimmen, die Iraker sollen sie wählen. Wenn diese Versammlung sich auf eine Verfassung und ein Grundgesetz geeinigt hat, sollen sie das dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Das Volk muss das letzte Wort über diese Gesetze haben.

tagesschau.de: Die Vereinbarung vom 15. November 2003 zwischen dem Provisorischen Regierungsrat und der Besatzungsverwaltung sieht die Machtübergabe zum 1. Juli 2004 vor, Wahlen soll es Ende 2005 geben. Warum ist Ihnen das zu spät?

Al-Karbalai: Die Macht soll wiederum nur an eine Übergangsregierung gegeben werden, für eine neue Übergangsphase mit neuen Übergangsgesetzen. So ein Gremium ist nicht legitim, weil die Besatzer es bestimmen. Wir befürchten, dass so eine Übergangsregierung den Irak für mehrere Jahre regieren wird, nicht nur von 2004 bis 2005. Genauso befürchten wir, dass eine Übergangsverfassung jahrelang in Kraft bleiben wird. Es können Umstände geschaffen werden, auch durch die Berichterstattung der Medien, die die Leute Wahlen einfach vergessen lässt.

tagesschau.de: Wollen Sie die Wahlen jetzt, weil Sie Macht für die Schiiten sichern wollen?

Al-Karbalai: Weder Al-Sistani noch ich oder andere Saiyids (religiöser Titel für einen Nachfolger des Propheten, die Redaktion) wollen eine politische Rolle spielen. Wenn Sie während der Wahlen hier sind, werden sie mich genau da finden, wo auch die anderen Wähler sind. Was bedeutet Demokratie, worüber die westliche Welt so viel spricht? Es bedeutet, dass die Mehrheit regieren soll, ist es nicht so? Gleichzeitig heißt es nicht, dass die Mehrheit den Minderheiten die Rechte nehmen darf. Die Position der Marjia (die höchsten schiitischen Ayatollahs, die in der Hausa entscheiden, die Redaktion) ist, dass gewählte Personen der Wahrheit verpflichtet sein sollen. Sie müssen Männer und Frauen gleich behandeln, dürfen Minderheiten nicht diskriminieren, nicht die Religionen gegeneinander ausspielen, nicht die Kurden gegen die Araber, nicht die Sunniten gegen die Schiiten, nicht die Armen gegen die Reichen. Ja, wir wollen, dass Schiiten mitentscheiden, aber wir wollen keine Schiiten in der zukünftigen Regierung, die Wohlstand nur den Schiiten geben, den Christen, Kurden, Sunniten aber vorenthalten. Wir wollen, dass ehrliche Menschen gewählt werden, die sich für die Rechte und die Einheit der Iraker einsetzen.

tagesschau.de: Es wird diskutiert, ob die NATO Truppen in den Irak schicken soll. Möchten Sie deutsche Soldaten im Irak haben?

Al-Karbalai: Was ich jetzt sage, ist ausdrücklich meine ganz persönliche Meinung: Ich wünsche mir, dass deutsche Soldaten im Rahmen einer UN-Friedensmission in den Irak kommen, um für die Wahlen Sicherheit zu schaffen, um die Machtübergabe zu gewährleisten und beim Wiederaufbau des Irak zu helfen. Aber das ist natürlich eine Entscheidung der deutschen Regierung, inwieweit sie eine politische Rolle spielen und die Iraker in ihrer Forderung nach einer eigenen Regierung bestärken möchte. Das ist nicht nur eine Frage von Soldaten.

Das Interview führte Karin Leukefeld
www.tagesschau.de 13.02.2004



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