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Tragisch, vermeidbar, gewollt?

Über die Hintergründe des Beschusses der italienischen Jornalistin Giuliana Sgrena gehen die Meinungen weit auseinander

Die wesentlichen Fakten, soweit sie von den Nachrichtenagenturen gemeldet werden, haben wir in unserer Irak-Chronik geschildert. Was bleibt, ist ein sehr großer Rest an Vermutungen, Verdächtigungen, Beschwichtigungen und Spurenbeseitigungen. Wir werden diesen Rest in Kürze nicht aufklären können. In der Medienlandschaft präsentieren sich aber genügend Interpretationsversuche, die es Wert sind, dokumentiert zu werden. Daher im Folgenden ein paar Auszüge aus Pressekommentaren, die sich mit dem spektakulären Befreiungsfall der Geisel Giuliana Sgrena befassen.

Wir beginnen mit einem Kommentar von Christian Ultsch aus der Wiener "Presse". Er möchte jeglischen "absurden Verschwörungstheorien" vorbauen:

Die Freilassung der italienischen Journalistin Giuliana Sgrena aus iraki scher Geiselhaft hätte kaum dramatischer und tragischer verlaufen können. Erst überschäumende Freude über die Rückkehr Sgrenas, dann zornige Trauer über die tödlichen US-Schüsse, die ihren Begleiter, den Geheimdienstbeamten Nicola Calipari, auf dem Weg zum Flughafen von Bagdad trafen. Kein Wunder, dass die Emotionen in Italien hochgehen.
Einigen scheint die Gefühlsaufwallung allerdings den Verstand zu trüben. Den USA zu unterstellen, dass sie Sgrena töten wollten, ist schlicht und einfach absurd. Welches Interesse sollten die Amerikaner daran gehabt haben? Es kann doch niemand ernsthaft glauben, dass sie bewusst die Beziehungen zu einem ihrer treuesten europäischen Verbündeten im Irak aufs Spiel setzen wollten, bloß um ihre Ablehnung gegen Lösegeldzahlungen zu dokumentieren. Es mag zutreffen, dass die US-Soldaten an der Straßensperre, anders als von den USA behauptet, ohne Vorwarnung das Feuer auf Sgrenas Auto eröffneten. Doch das verdeutlicht einmal mehr, wie blank gescheuert die Nerven der GIs im Irak sind. Alles andere ist Verschwörungstheorie, zu der Anti-Amerikaner bekanntlich ein besonderes Liebesverhältnis haben.

Die Presse, 7. März 2005

Olaf Standke scheint darauf die richtige Antwort geben zu wollen. In seinem Kommentar ("Unwörter und Untaten") heißt es:

Die Kriegssprache ist voller beschönigender Absurditäten, »friendly fire« eine davon. Der Vorgang hinter der Worthülse gehört zum Besatzungsalltag in Irak. Gestern folgte dem italienischen Geheimdienstmann Calipari, der nach der Befreiung der entführten Journalistin Giuliana Sgrena im alles andere als freundlichen Feuer seiner US-Verbündeten starb, ein bulgarischer Soldat. Er wird kaum Schlagzeilen machen. Anders der Fall Sgrena, der für das Weiße Haus lediglich ein »Unfall« ist. Dabei verleiht die endlose Kette schamloser Washingtoner Kriegslügen inzwischen jeder Verschwörungstheorie die Chance der Möglichkeit.
Aber selbst wenn es dieses Mal wirklich keinen Masterplan gegeben haben sollte – auch wild um sich ballernde GIs konterkarieren alle Sonntagsreden des US-Präsidenten über die Entwicklung Iraks hin zur Beispiel-Demokratie für eine ganze Region. Und sogar Bush-Freunden in Italien sollte langsam aufgehen, dass der Preis des vorgeblichen »Friedenseinsatzes« im Zweistromland täglich steigt. Allen voran für die irakische Zivilbevölkerung, die nicht nur Opfer terroristischer Anschläge, sondern immer wieder auch überforderter Besatzungssoldaten an den vielen Checkpoints des Landes wird. Dafür haben die Militärs das Unwort »Kollateralschaden« erfunden.

Aus: Neues Deutschland, 8. März 2005

Einen "Triumph der Entführer" vermag Stefan Kornelius, der Kommentator der "Süddeutschen Zeitung", in den mysteriösen Vorkommnissen zu sehen. Der Schaden, den das unbedachte (?) Handeln der amerikanischen Soldaten angerichtet hat, ist jedenfalls immens - wo doch nach den Wahlen und nach dem Bush-Besuch in Europa alles sich so gut angelassen hatte:

(...) Nur wenige Schicksale fesseln die Aufmerksamkeit der Welt, weil ihre Geschichte sinnbildlich steht für einen wichtigen Ausschnitt aus diesem Krieg, und weil ihr Leid den alltäglichen Horror von Krieg und Terror sichtbar macht.
Da war die britische Hilfs-Aktivistin Margaret Hassan, deren Tod zeigen sollte, dass selbst die beste Absicht und die engste Verbindung zum Land nicht schützen können vor der Willkür des Terrors. Da waren der Amerikaner Eugene Armstrong oder der Brite Kenneth Bigley, deren per Video verbreitete Enthauptung Schock und Übelkeit in bis dahin ungeahntem Ausmaß auslöste.
Und da ist nun das Schicksal der Italienerin Giuliana Sgrena, deren Entführung einen wichtigen Koalitionspartner der USA in Zweifel über das Engagement im Irak und in innenpolitische Turbulenzen stürzen sollte. (...)
Sgrenas Entführer wollten mit Hilfe der dramatischen Appelle der Journalistin in Italien eine Stimmung für den Abzug der Italiener anheizen. Das ist ihnen nicht geglückt, weil die Regierung Berlusconi standhaft blieb.
Am Ende war die Geisel offenbar mit einer ordentlichen Summe Lösegeld zu befreien - vielleicht weil die Entführer gemerkt haben, dass die öffentliche Empörung abstumpft angesichts einer Flut an empörungswürdigen Bildern und Nachrichten.
Für diese Entführer wird es ein unerwarteter Triumph sein, dass nun die Amerikaner selbst dem Ziel der Terroristen gedient haben. Der Tod des Geheimdienstlers Calipari und die Umstände des Beschusses der gerade befreiten Journalistin durch amerikanische Soldaten werden den USA zumindest in Europa politischen Schaden zufügen und in Italien die Abzugsdebatte erneut anfachen.
(...)
Sgrena und ihr Umfeld raunen konspirativ und lassen bewusst den Eindruck aufkommen, es handele sich um einen gezielten Mordversuch. Ein glaubhaftes Motiv bleiben sie schuldig. Das US-Militär wird hingegen auf eine Verkettung unglücklicher Umstände hinweisen - unerfahrene Soldaten, die angespannte Atmosphäre in der Nacht, das schnelle Auto, der Mangel an Information.
(...)
Jenseits aller konspirativen und volkspsychologischen Stimmungen bleibt ein politischer Schaden, wie er noch durch keine andere Entführung verursacht wurde.
Washingtons wollte nach den erfolgreichen Wahlen das eigene Profil im Land reduzieren und die Bühne stärker den Irakern und der internationalen Gemeinschaft überlassen. Bushs Besuch in Europa sollte, unter anderem, diesen Strategiewechsel vorbereiten und auch die feindselige Stimmung ihm und seiner Regierung gegenüber ein wenig brechen.
All dies hat durch den Beschuss von Bagdad gelitten; aufzuhalten ist es aber nicht. Denn (...): Am 16. März soll endlich das neue Parlament zusammentreten und die Regierung die Arbeit aufnehmen. Nur sie können ein Klima schaffen, in dem eine Wiederholung des Falles Sgrena unwahrscheinlich wird.

Süddeutsche Zeitung, 7. März 2005

Arno Widmann von der "Berliner Zeitung" dreht den Spieß wieder um - aber auf eine sehr findige Weise: Gerade wenn es kein Mordanschlag auf die italienische Journalistin war, ist der Vorfall noch viel beunruhigender: Denn was machen die Jungs erst, "wenn das Militär sich unbeobachtet weiß", fragt Widmann. Auszüge aus dem Kommentar ("Sgrenas Irrtum?"):

(...) Misstrauen gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht ist angebracht. Wer systematisch die eigenen Gesetze bricht und etwa dafür sorgt, dass Gefangene in Drittländern - zart ausgedrückt - Verhörmethoden ausgesetzt werden, die kein US-Gericht zulassen würde, der darf sich nicht wundern, dass man ihm auch zutraut, an der alten Kalte-Kriegs-Politik der Ermordung unliebsamer Gegner festzuhalten. Giuliana Sgrenas Beschuldigungen, die US-Armee habe es gezielt auf sie abgesehen, werden also erst einmal vieler Orts auf offene Ohren stoßen. Bisher freilich hat sie nicht nur keinen Beweis dafür gebracht, sie hat es noch nicht einmal plausibel begründet. Weder wird uns ein Motiv genannt, noch erklärt sie uns, warum die USA es so gemacht haben, wo sie sehr leicht irakische Truppen oder an den Straßen postierte Scharfschützen hätten die Schmutzarbeit machen lassen können. Das ist der plausible - weil mit jeder Schlechtigkeit rechnende - Einwand des italienischen Geheimdienstes gegen die Verschwörungstheorien von Giuliana Sgrena.
(...) Der US-Regierung lag und liegt offenbar nichts daran, ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Sie wird ihre Gründe dafür haben. Aber sie darf sich nicht darüber wundern, wenn die so oft von ihr düpierte Öffentlichkeit ihr dann die aller schlimmsten Gründe unterstellt. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass eine US-Regierung jemanden umgebracht hätte.
Wer die Lage im Irak einigermaßen kalt betrachtet, der könnte allerdings leicht zu dem zynisch klingenden Schluss kommen: Leider sei das Geschehen auf der Autostraße siebenhundert Meter vor dem Flughafen von Bagdad tatsächlich ein Zufall, ein Versehen, ein Unglücksfall. So widerrechtlich, unmoralisch und unverzeihlich ein Anschlag wäre, er wäre doch immerhin fast geglückt. Die US-Truppen hätten ihre Effizienz gezeigt. Wenn aber die Schüsse auf den Wagen von Giuliana Sgrena ein Versehen waren, dann bestätigt das den Verdacht, dass die US-Truppen nicht in der Lage sind, für die Sicherheit der Bürger des Landes zu sorgen. Sie können - so müsste man sagen - allenfalls gerade noch ihre eigene Verteidigung organisieren. Für die Durchführung einer Aktion wie der des italienischen Geheimdienstes seien sie völlig ungeeignet. Das wäre das wirklich Erschreckende. Wenn die US-Armee tatsächlich unfähig gewesen wäre, eine mit dem italienischen Geheimdienst abgesprochene Aktion zu einem guten Ende zu führen, hätte sie sich als völlig unprofessionell erwiesen. (...)
Dabei ist das nichts im Vergleich zu der militärpolitischen, gesellschaftlichen Aufgabe, den Irak in einen Staat, einen Rechtsstaat gar zu verwandeln. Wenn tatsächlich der eine US-Posten nicht weiß, was der andere tut, dann kann man sich schwer vorstellen, wie die USA den Irak befrieden wollen. Zumal es bei dieser Aktion ja von vornherein klar war, dass sie in der ganzen Welt beobachtet werden würde. Wie geht es erst zu, wenn das Militär sich unbeobachtet weiß? Gerade wer nicht glaubt, dass die US-Armee es auf Giuliana Sgrena abgesehen hatte, hat allen Grund sich Sorgen zu machen um das Engagement im Irak.

Aus: Berliner Zeitung, 7. März 2005

Die Frankfurter Rundschau überschreibt ihren Kommentar von Roman Arens mit "Entlarvte Lüge". Nur: Welches die Lüge und was deren Entlarvung sein sollen, bleibt doch mehr oder weniger im Dunkeln.

Es wird vermutlich nie völlig geklärt, ob die Todesschützen von Bagdad sich nur irrten, sich im Einverständnis mit ihrer Führung wähnten oder gezielt gegen das Auto mit der Giuliana Sgrena vorgingen. Auch im mildesten Fall sind die politischen Folgen erheblich.
Mit Nicola Calipari, der schon mehrere Geiseln aus Irak geholt hatte, ist ein Ideal von Mut, Schlauheit und Humanität getroffen worden. (...) Die italienischen Truppen sind - entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis und wohl auch der Verfassung - Teil des US-Besatzungskrieges. Sie werden zudem wie Vasallen behandelt, was für die empfindliche Seele schwer erträglich ist und böse Erinnerungen weckt.
Was ist mit den US-Piloten, die aus Jux unter einer Seilbahn im norditalienischen Cermis durchflogen und 1998 zwanzig Wintersportler in den Tod rissen? Der italienischen Gerichtsbarkeit entzogen und später in den USA freigesprochen. Was ist mit dem Flugzeug, das 1980 bei Ustica mit 81 Menschen an Bord wahrscheinlich von US-Bombern abgeschossen wurde?
Für Berlusconi wird es schwerer, seine Irak-Politik zu verteidigen. Und in der Opposition bekommen die Auftrieb, die einen sofortigen Truppenrückzug verlangen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 7. März 2005

Im Berliner "Tagesspiegel" ("Ein Ende mit Schrecken") bleiben die wesentlichen Fragen auch unbeantwortet. Statt dessen wird schon einmal andeutungsweise der Versuch gemacht, an der Integrität der entführten und befreiten Journalistin zu zweifel:

(...) Aus einem individuellem Martyrium, das schon bald durch die öffentliche Aufmerksamkeit mehr war als nur das, ist nun endgültig ein Politikum geworden. Um die Beziehungen zu Italien nicht weiter zu belasten, aber auch um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen, sollten die Amerikaner sich unverzüglich an eine „restlose Aufklärung“ des Zwischenfalls machen, wie es Verteidigungsminister Donald Rumsfeld versprochen hat. Kommunikationsprobleme oder grobe Nachlässigkeit: Je länger die Versionen so weit auseinander klaffen, desto schneller steigt der Unmut, in Italien auch über die eigene militärische Präsenz im Irak. Dass Sgrena für ihren Vorwurf, sie sei „Zielscheibe“ der Amerikaner gewesen, sogar die eigenen Entführer als Zeugen ins Feld führt, mag den schrecklichen Erfahrungen der letzten Tagen geschuldet sein. Der italienische Geheimdienst hat diese Version jedenfalls bereits zurückgewiesen.

Aus: Der Tagesspiegel, 7. März 2005

Der Wiener "Standard" thematisiert in dem Kommentar von Gerhard Mumelter ("Ein Schlag für den Bush-Freund") die unangenheme Situation, in die der Vorfall die iralienische Regierung gebracht hat. Immerhin war Silvio Berlusconi bis dato "Bushs devotester Freund".

(...) Statt die Befreiung der Journalistin Giuliana Sgrena als politische Entlastung angesichts schlechter Umfragewerte zu feiern, musste der Premier in Rom ohnmächtig zusehen, wie um Mitternacht der in die Trikolore gehüllte Sarg von Nicola Calipari aus einer Militärmaschine gehievt wurde - erschossen von den amerikanischen Verbündeten. Wütend zitierte der Premier den amerikanischen Botschafter in den Chigi-Palast und forderte Aufklärung. (...)
(...) Nie versäumte es Italiens Premier, seine "völlige Übereinstimmung" mit George W. Bush zu unterstreichen. Dass er statt der erwarteten politischen Gegenleistung nun die Folgen einer möglichen Fehlleistung der US-Truppen ausbaden muss, setzt den italienische Premier gleich mehrfach unter Druck. Die Demonstranten vor der US-Botschaft in Rom zeigten am Wochenende, wie wach antiamerikanische Gefühle in Italien noch immer sind. Beim Parteitag der Kommunisten in Venedig beschuldigte Kommunistenchef Fausto Bertinotti den Premier, als "Knecht der USA" zu agieren.
(...)
Der für seine Nähe zu den USA bekannte siebenmalige Premierminister Giulio Andreotti empfahl Berlusconi bereits einen raschen Abzug der 3000 italienischen Soldaten. Bobo Craxi, Sohn des früheren sozialistischen Premiers Bettino Craxi, meldete sich mit einem Vergleich zu Wort, der schon zeigt, wie groß nun die Empörung über Washington ist. Berlusconi solle in der Frage des Truppenrückzugs dasselbe Rückgrat zeigen wie seinerzeit Craxi, meinte der Sohn, ein auf der Liste des Rechtsbündnisses gewählter Abgeordneter: Bettino Craxi hatte 1985 die Auslieferung der Entführer des Kreuzfahrtschiffs "Achille Lauro" an die USA abgelehnt.

Aus: DER STANDARD, 7. März 2005


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