Nach dem dritten Golfkrieg
Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Irak
Von Barik Schuber*
Die irakische Volkswirtschaft
von heute trägt ein schweres
Erbe. Politische Turbulenzen seit
1958, die Militarisierung der
Wirtschaft nach1980 (Krieg
gegen den Iran), insgesamt drei
Kriege und schließlich das
13 Jahre anhaltende umfassende
Wirtschaftsembargo haben
auf die Wirtschaftsstruktur und
folglich für die Lebensgrundlagen
der Bevölkerung verheerende
Folgen gehabt. Die
hinterlassenen Schäden beschränken
sich nicht nur auf die
durch Kriege zerstörte oder
durch Missmanagement vernachlässigte
Basisinfrastruktur,
sondern erstrecken sich auch
auf die wichtigsten Produktionsfaktoren
des Landes: die
menschlichen und natürlichen
Ressourcen. Dazu zählen insbesondere
die Auswanderung von
qualifizierten Arbeitskräften und
der Anstieg der Analphabetenrate
sowie die Umweltzerstörung.
Ein Blick auf die gegenwärtige Wirtschaftsstruktur
des Landes ergibt ein düsteres Bild
und vermittelt einen ersten Eindruck von
den anstehenden Aufgaben beim Wiederaufbau
des Landes.
Einkommen und Beschäftigung
Das Fehlen von Wirtschaftsstatistiken im Allgemeinen
und Einkommensstatistiken im Besonderen
zwingen die Irakforscher dazu, auf
Annäherungsgrößen und Hilfsindikatoren
zurückzugreifen. So kann das Bruttoinlandsprodukt
(BIP), das allgemein als Indikator
für die Wirtschaftsleistung eines Landes
anerkannt ist, auch als Hilfsindikator für das
Niveau des Volkseinkommens herangezogen
werden. Nach den Angaben eines neuen
Berichtes der Weltbank (Oktober 2003) wird
das Volumen des BIP zu laufenden Preisen
im Jahr 2003 auf maximal 16 Mrd. US$
geschätzt. Dementsprechend ist das BIP pro
Kopf im selben Jahr, was in etwa dem Pro-
Kopf Einkommen entsprechen würde, auf
maximal 610 US$ zu schätzen. [1] Zum Vergleich
betrug das BIP in den Jahren 1980
und 1990 fast 48 bzw. 49 Mrd. US$. Entsprechend
lag das BIP pro Kopf fünf bzw. vier
Mal höher als heute.
Selbst unter Berücksichtigung der ungleichen
Einkommensverteilung [2] gilt der statistische
Durchschnitt "BIP pro Kopf" als zulässiger
Indikator für den Entwicklungsstand eines
Landes im internationalen Vergleich. Nach
den Maßstäben aller internationalen Entwicklungsorganisationen
ist der Irak mit
einem Pro-Kopf Einkommen von weniger als
2 US$ pro Tag als ein armes Entwicklungsland
zu kategorisieren. Nach Schätzungen
der UN-Organisation FAO vom September
2003 sind mehr als 13 Millionen Iraker (etwa
50% der Bevölkerung) absolut arm und von
der Verteilung von Nahrungsmittelrationen
abhängig. Der Anteil der unterernährten
Menschen stieg von 7% im Jahr 1990 auf
27% im Jahr 2001.
Ansätze zu einer Verschiebung der Einkommensverteilung
zugunsten des irakischen
Mittelstandes sind nach dem Sturz des alten
Regimes sichtbar geworden. Die amerikanisch-
britische Zivilverwaltung (Coalition
Provisional Authority - CPA) hat in der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahres die
Gehälter aller Staatsbediensteten im Vergleich
zur Vorkriegszeit kräftig angehoben
und eine neue Gehaltstabelle für Anfang
2004 angekündigt.[3] Nach wie vor liegen die
Gehälter für irakische Staatsbedienstete
deutlich unter dem Niveau in den Nachbarländern.
Die irakische Bevölkerung wird derzeit auf
ca. 27,1 Millionen Personen geschätzt,[4] wovon
42% unter 14 Jahre alt sind. Etwa 77%
der Iraker leben in den Städten und 23% auf
dem Lande. Die jährliche Zuwachsrate der
Bevölkerung betrug nach Angaben der Weltbank
im Jahre 1970 noch 3,2%, sank aber im
Jahre 2000 auf 2%.[5]
Aktuelle Statistiken über die Erwerbsbevölkerung
(Labour Force) im Irak liegen nicht
vor. Die verfügbare Schätzung der FAO [6] bezieht
sich auf das Jahr 2000. Aufgrund dieser
Schätzung wird eine Erwerbsquote (Labour
force participation rate) von 27,6% angenommen.
Nach der Extrapolationsmethode
dürfte sich die Zahl der Erwerbsbevölkerung
gegenwärtig um 7,5 Mio. bewegen, wovon
über 50% arbeitslos sind.
Die Mehrheit der Beschäftigten (ca. 2 Mio.)
arbeitet im Privatsektor, die wenigsten allerdings
in einem formellen Angestelltenverhältnis.
Die meisten sind entweder Tagelöhner
und/oder fliegende Händler im informellen
Sektor, im Regelfall unterbezahlt und
unter schweren Arbeitsbedingungen leidend.
Lediglich 40% der Beschäftigten - ca. 1,5
Mio. Menschen - arbeiten nach den Kriterien
der Weltbank im formellen Sektor.[7].Dazu zählen
die ca. 1 Mio. Staatsbediensteten und die
etwa 500.000 Beschäftigten in den 192 staatlichen
Unternehmen.
Währungsverfall und Inflation
Die Antwort des Regimes von Saddam Husain auf das
Wirtschaftsembargo von 1990 war u.a. eine
skandalöse Geld- und Fiskalpolitik, die bewußt
inflationäre Tendenzen mit drastischen
Umverteilungseffekten zu Lasten der mittleren
und unteren Einkommensempfänger in
Kauf nahm. Der Staatshaushalt wurde nach
dem Beginn des Krieges gegen Iran 1980
nicht mehr veröffentlicht und galt als ein
Staatsgeheimnis. Diese Praxis wurde auch
während des Embargos in den 90er Jahrenbeibehalten,
um die Struktur der Staatsausgaben
und deren Prioritäten zugunsten von
Militärausgaben, Luxus- und Prestigeprojekten
zu verschleiern.
Die Ausgaben für das Bildungs- und Gesundheitswesen
wurden so gering wie möglich
gehalten. Schulen und Krankenhäuser wurden
direkt und indirekt aufgefordert, sich
selbst durch neuartige Gebühren bzw. Bestechungsgelder
zu finanzieren. Die Korruption,
die zuvor im Irak kaum vorhanden war, verbreitete
sich nun wie eine Seuche im ganzen
Staatssektor. Staatsbedienstete verlangen
heute noch von den Bürgern unverhüllt eine
"Gebühr" für eine selbstverständliche Dienstleistung
des Staates.
Der irakischen Zentralbank wurde verwehrt,
eine unabhängige Geldpolitik zu verfolgen.
Das Haushaltsdefizit wurde durch die Notenpresse
finanziert. Diese arbeitete Tag und
Nacht u.a. in den Privathäusern des herrschenden
Clans. Die nach 1990 neugedrukkten
Geldscheine "Saddams Dinar" verloren
nicht nur an Glanz gegenüber dem alten
"Swiss Dinar", sondern auch drastisch an
Wert gegenüber ausländischen Währungen.
Anfang der 80er Jahre war ein Irakischer
Dinar (ID) 3,33 US$ wert, zehn Jahre später
aber weniger als 0,5 Cent. Zur Zeit bewegt
sich der Wechselkurs für 1 US$ um 1500 ID,
nachdem er im vergangenen November noch
bei ca. 2000 ID lag.
Viele irakische Ökonomen empfinden es als
eine Schmach, daß erst die fremde Besatzung
der irakischen Zentralbank seine Hoheit
über die Geldpolitik zurückgegeben hat,
um die Geldwertstabilität zu gewährleisten.
Die Situation im Bildungs- und
Gesundheitswesen
Bis zum ersten Golfkrieg (1980-1988) galten für manche Beobachter
die Bildungs- und Gesundheitssektoren
im Irak als Musterbeispiele für Modernisierung
in der Region. Die spätere Entwicklung
hat aber gezeigt, daß beide Sektoren
keine besondere Priorität in der Entwicklungsstrategie
und Wirtschaftspolitik des
"laizistischen" Baath-Regimes hatten. In
Wirklichkeit ermöglichte der Anstieg der
Öleinnahmen von ca. 1 Mrd. US$ im Jahre
1972 auf ca. 8 Mrd. US$ im Jahre 1975 einen
Anstieg der Staatsausgaben für die beiden
Sektoren und somit eine vorübergehende
Verbesserung der sozialen Situation der Iraker,
die aber weit unter dem Niveau der
benachbarten arabischen Ölländern blieb.
Verfügbare soziale Indikatoren widerlegen
die Legende vom modernen Musterstaat im
Nahen Osten und belegen eine dramatische
Degradierung der Bildungs- und Gesundheitssituation
der Iraker während der vergangenen
drei Jahrzehnte. [8] Zweifelsohne
trug das Embargo zu einer Verschärfung der
Situation bei, ursächlich für die Degradierung
waren aber Mißmanagement, falsche
Prioritätensetzung der irakischen Wirtschaftspolitik
sowie die skrupellose Habgier
der Staatsklasse. Die Entwicklung in anderen
Ländern, die auch von Embargos betroffen
waren, wie z.B. Iran und Kuba, belegen
diese Schlußfolgerung.
Der Anteil der Erwachsenen (über 15 Jahre
alt), die lesen und schreiben können, ging
von 65,2% im Jahre 1980 auf 44,1% im Jahre
2000 zurück. Im Zeitraum von 1980-1998
sank die Zahl der Schulen von 9.460 auf
7.572, demgegenüber stieg aber die Zahl der
Prunkpaläste und monumentaler Moscheen
sichtlich an. Grundschulen mit einer Kapazität
von 700 Schülern müssen tatsächlich
bis zu 4500 Kinder aufnehmen. Der Anteil
der eingeschulten Kinder in Grundschulen
ging von 99% auf 80% und in Mittelschulen
von 47% auf 31% im selben Zeitraum zurück.
Mehr als ein Viertel der eingeschulten
Kinder, insbesondere Mädchen und Kinder in
ländlichen Gegenden, erschienen nicht zum
Unterricht, offensichtlich um der Familie
beim wirtschaftlichen Überleben zu helfen.
Die katastrophale Situation im irakischen
Gesundheitssektor ist für jeden Landeskenner
augenscheinlich. Das Ausmaß der Katastrophe
kann durch die verfügbaren Indikatoren
nicht in vollem Umfang wiedergegeben
werden. Die äußerst spärlichen Daten können
lediglich Anhaltspunkte dafür geben.
Die durchschnittliche Lebenserwartung der
Iraker ging von 62,0 Jahren in 1980 auf 58,7
Jahre in 1997 zurück und liegt damit deutlich
unter dem Durchschnitt der Region
(MENA) von 66,8 Jahren. Die Sterblichkeitsrate
der Kinder unter 5 Jahren stieg von 50
pro 1000 im Jahre 1990 auf 113 pro 1000
Kinder im Jahre 2001, im Vergleich zu einer
Rate von 33/1000 in Jordanien und von
107/1000 im Jemen. Die Sterblichkeit der
Neugeborenen lag im Jahre 1997 bei 10,4
pro 1000 Lebendgeburten im Vergleich zu 7
pro 1000 in der Region.
Während der vergangenen 20 Jahre wurde
im Gesundheitssektor kaum investiert mit
der Folge, daß die Ausstattung der öffentlichen
Krankenhäuser verwahrloste. Das
Budget des Gesundheitsministeriums wurde
während der 90er Jahre um 90% gekürzt.
Die Staatsausgaben für Gesundheit sanken
auf schätzungsweise 50 Cent pro Kopf der
Bevölkerung im Jahr. Medizinische Versorgung
konnte sich nur noch die schmale
Schicht der Staatsklasse und der Neureichen
in den privaten Kliniken und Arztpraxen
oder im benachbarten Jordanien leisten.
Von den vorhandenen 240 öffentlichen Krankenhäusern
und 1200 Kliniken ist nur ein
Drittel einigermaßen funktionstüchtig. Etwa
12% der Krankenhäuser wurden durch den
Krieg im letzten Jahr beschädigt und 7%
ausgeplündert. Mehr als 30% der Zentren für
Familienplanung wurden zerstört und 15%
der Mutter-Kind Stationen geschlossen. Die
zwei wichtigsten Laboratorien des Landes in
Bagdad und Basra wurden zerstört. Die Ausrüstungen
und das Mobiliar des Instituts für
Impfstoffe und Seren wurden geplündert.[9]
Der irakische Staatshaushalt 2004 stellt
1 Mrd. US$ für den Gesundheitssektor zur
Verfügung. Für dieses Jahr schätzt die Weltbank
einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf
von 500 Mio. US$, um notwendige Instandsetzungsarbeiten
zu tätigen. In den Jahren
2005-2007 werden zu den voraussichtlich
verfügbaren staatlichen Mitteln von 3 Mrd.
US$ weitere zusätzliche Gelder in der Größenordnung
von 1,1 Mrd. US$ benötigt. Der
öffentliche Gesundheitssektor hat in dem
Zeitraum 2004-07 insgesamt einen Finanzierungsbedarf
von knapp 5,6 Mrd. US$, wovon
4 Mrd. US$ vom Staatshaushalt aufgebracht
werden könnten. Der Rest von 1,6 Mrd. US$
ist als Finanzierungslücke zu betrachten, die
durch ausländische Hilfen geschlossen werden
muß.[10]
Auslandsverschuldung
Als Saddam Husain im Juli 1979 sich zum alleinigen Herrscher
des Irak aufschwang, war der Irak frei von
langfristigen Schulden und verfügte gar über
Devisenreserven in der Höhe von 36 Mrd.
US$. Pro Kopf der Bevölkerung gilt der Irak
heute nach übereinstimmender Beurteilung
vieler Experten als das höchstverschuldete
Land der Welt.
Die Hauptkategorie der irakischen Auslandschulden
bezieht sich auf bilaterale Schulden,
die während des 1. Golfkrieges in den 80er
Jahren zustande kamen. Da eine rechtsverbindliche
internationale Feststellung der
Höhe dieser Schulden nicht existierte, und
der Irak darüber nicht berichtete, beruhen
die verschiedenen Schätzungen auf den
Angaben der Gläubiger. Die Schätzungen
schwanken zwischen 94,6 Mrd. US$ und
154,2 US$.[11] Die meisten Irak-Beobachter, so
auch die Weltbank, sprechen von ca. 120 Mrd.
US$. Davon entfallen auf die Mitglieder des
Pariser Clubs ca. 43 Mrd. US$ inklusive
21 Mrd. US$ Zinseszinsen aus der Zeit des
Embargos, als der Irak seine Schulden nicht
bediente. Auf die Golfstaaten Saudi-Arabien,
Kuwait und die VAE entfallen Forderungen
von insgesamt 49 Mrd. US$, die eindeutig zur
Finanzierung des Krieges von Saddam Husain
gegen den Iran gewährt wurden, und daher
schon seit 1990 umstritten sind, weil unklar
ist, ob es sich um Kredite oder Hilfe handelte.
Die Forderungen von sonstigen Staaten
werden auf insgesamt 16 Mrd. US$ geschätzt.
Private Banken und Geschäftsleute kommen
nur auf 14 Mrd. US$.
Die Forderungen Deutschlands belaufen sich
auf insgesamt 3,9 Mrd. EUR, wovon 1,6 Mrd.
EUR aus Hermesbürgschaften und Forderungen
der ehemaligen DDR stammen. Die übrigen
2,3 Mrd. EUR werden mit Ansprüchen
aus aufgelaufenen Zinsen begründet. Es ist
nicht klar, inwieweit Exporte deutscher
Firmen, die vor 1990 Waffen an den Irak lieferten
und deren Zahl auf 80 geschätzt wird,
von Hermesbürgschaften abgedeckt waren.[12] Dies ist von großer Bedeutung für die Frage,
inwieweit die deutschen Forderungen legitim
oder illegitim sind.
Die zweite Kategorie umfasst die Reparationsforderungen
an den Irak, die nach dem zweiten Golfkrieg von 1991 an die United
Nations Claims Commission (UNCC) mit
einem gesamten Volumen von 348 Mrd. US$
eingereicht wurden. Von den bisher bearbeiteten
Anträgen mit einer gesamten Entschädigungsforderung
von 253 Mrd. US$ wurden
bis Dezember 2003 48 Mrd. US$ tatsächlich
anerkannt, wovon bisher 18 Mrd. US$ im
Rahmen des "Oil for Food" Programms aus
den irakischen Erdöleinnahmen abgezweigt
und an die Antragssteller ausgezahlt wurden.
Den Restbetrag von 30 Mrd. US$ wird
der Irak zahlen müssen, da es sich offensichtlich
um einen völkerrechtlich verbindlichen
Titel handelt. Hinzu kommen gemäß
einer Hochrechnung von ‹Erlassjahr.de› weitere
47 Mrd. US$, die die UNCC bei den noch
nicht bearbeiteten Entschädigungsanträgen
in einer Gesamthöhe von 95 Mrd. US$ sehr
wahrscheinlich als berechtigt anerkennen
wird. Somit ist mit einer zusätzlichen Belastung
von 77 Mrd. US$ als Entschädigung für
den zweiten Golfkrieg zu rechnen. Die Rechnung
für den zweiten Golfkrieg würde sich
auf insgesamt 95 Mrd. US$ belaufen.
Außerdem muss damit gerechnet werden,
dass der Iran Reparationsforderung aufgrund
des ersten Golfkrieges (1980-1988) im
Umfang von 100-200 Mrd. US$ stellen wird,
wenn der Zeitpunkt dazu politisch opportun
erscheint. Denn immerhin besitzt der Iran
ein von Saddam Husain unterschriebenes
Dokument aus dem Jahr 1990, in dem er die
irakische Schuld am Ausbruch des Krieges
gegen den Iran anerkannt hatte.
Die dritte Kategorie umfasst Forderungen
aus nicht abgesicherten Handelsgeschäften
und aus rechtswirksamen Verträgen, insbesondere
mit russischen Firmen, die nicht
erfüllt wurden. Abweichend von einigen
überhöhten Schätzungen von ca. 57 Mrd.
US$ nennt ‹Jubileeiraq.org› einen wesentlich
niedrigeren Betrag von 11 Mrd. US$, der
eher realistisch sein dürfte.
Auch wenn diese Einschätzung des Volumens
der irakischen Auslandsschulden nach
konservativen Kriterien erfolgte, so bedeutet
bereits die Summe von über 200 Mrd. US$
eine enorme Belastung für die irakische
Volkswirtschaft und stellt ein wesentliches
Hindernis für den Wiederaufbau dar. Dies
wird deutlich, wenn Auslandsschulden in
Relation zu der erwarteten Wirtschaftsleistung
und Einnahmen aus dem Erdölexport
gesetzt werden. Den optimistischen Schätzungen
der Weltbank zu Folge ist mit einem
Anstieg des irakischen Bruttoinlandsprodukts
(BIP) im laufenden Jahr auf 17-22
Mrd. US$ zu rechnen. Die Einnahmen aus
dem Erdölexport werden ebenso optimistisch
auf 12 Mrd. US$ geschätzt.[13] Somit entsprechen
die Auslandsschulden Iraks dem Zehn- bis
Zwanzigfachen des BIP bzw. der Exporteinnahmen.
Außer Erdöl verfügt der Irak
über keine nennenswerten Exportprodukte;
außerdem ist zu berücksichtigen, dass die
Hälfte des Lebensmittelbedarfs importiert
werden muss.
Die außerordentliche Belastung der Auslandschulden
für die zukünftige Entwicklung der
irakischen Wirtschaft wird inzwischen von
Weltbank-Chef Wolfensohn eingesehen, der
den Erlaß von zwei Dritteln der Schulden
ähnlich wie im Falle Jugoslawien nach dem
Sturz von Milosewich gefordert hat. Es wird
damit gerechnet, daß die Mitglieder des Pariser
Clubs bei ihren Beratungen im Laufe diese
Jahres der Forderung nachkommen werden,
zumal es sich bei der Hälfte der Forderung
um Zinseszinsen handelt, die fast ausschließlich
nach 1991 anfielen, als der Irak
keine Hoheit mehr über seine Öleinnahmen
hatte. Hinzu kommt die Tatsache, daß irakische
Guthaben bei ausländischen Banken
nach der Verhängung des Embargos eingefroren
wurden, ohne dafür Zinsen gut zu
schreiben.
Illegitime Schulden
Die Iraker und mit
ihnen auch eine wachsende Zahl von internationalen
Organisationen halten die Schulden
Iraks insgesamt für illegitim und/oder
für verabscheuungswürdig (odious debt).
Diese Einschätzung stützt sich auf die folgenden
Argumente: [14]
-
Das irakische Volk hat der Kreditaufnahme
nicht zugestimmt, da diese weder
von einer legitimierten Regierung rechtsgültig
unterschrieben noch von einem
verfassungsmäßigen Parlament ratifiziert
wurde. Kritik an der Regierung war bei
Todesstrafe verboten.
- Das irakische Volk hatte von den Krediten
keinen Nutzen. Die Kredite wurden
direkt oder indirekt zur Finanzierung des
Krieges gegen den Iran und zur Aufrechterhaltung
des Unterdrückungsapparates
von Saddam Husain verwendet. Unter
anderem wird auf den Einsatz von Giftgas
gegen die eigene Bevölkerung verwiesen.
- Die Kreditgeber haben vom fehlenden
Nutzen und der fehlenden Zustimmung
der Bevölkerung zur Kreditaufnahme
gewußt. Als Beispiel wird die Finanzierung
der Chemiefabrik Falluja 2 durch
einen britischen Exportkredit angeführt.
Die Iraker fordern die restlose Streichung
aller Schulden, die während des Regimes
Saddam Husains zustande kamen und keinen
nachweisbaren Nutzen für die wirtschaftliche
Entwicklung des Landes brachten.
Der Verband deutscher Nichtregierungsorganisationen
‹Erlassjahr.de› fordert, dass
die existierenden Entschuldungsverfahren
durch ein "faires und transparentes Schiedsverfahren
" ersetzt werden. Dies bedeutet,
daß die Entscheidung darüber, was der
Schuldner künftig und in welchem Zeitraum
zahlen muß, weder vom Schuldner noch
vom Gläubiger, sondern von einer neutralen
Instanz gefällt wird.[15]
Fußnoten -
United Nations/World Bank: Joint Needs Assessment.
Report October 2003, S. 59
- Nach den Schätzungen des irakischen Wirtschaftswissenschaftlers
Dr. Shakir Latif entfällt 61% des Volkseinkommens
auf 3% der Bevölkerung, und 79% auf 20%, sodass
die restlichen 80% der Bevölkerung lediglich 21% des
Volkseinkommens auf sich vereinigen. Vgl. Dr. Shakir
Latif: Die Militärausgaben als zentrales Ziel in der Fiskalpolitik
des modernen irakischen Staates. In: Studien über
die Irakische Volkswirtschaft. Iraqi Economic Forum, London
2002, Seite 11. Arabisch
- Laut Weltbank 1,3-1,5 Mio. Staatsbedienstete, darunter
500.000 Mitarbeiter von staatlichen Unternehmen. Vgl.:
World Bank, Ebenda
- United Nations/World Bank: Joint Needs Assessment.
Report October 2003, p. 59
- World Bank Data Sheet for Iraq. As of March 2003.
- Muhammd Ali Zainy, The Iraqi economy, past, present
and future options, London, 2003, S. 311.
- World Bank Report (October 2003), S. 18
- World Bank: Data Sheet for Iraq. As of March 2003 und
Report No. 27602: Interim Strategy Note of the World
Bank Group for Iraq, January 14, 2004
- United Nation/World Bank: Joint Iraq Needs Assessment,
Working Paper Health, October 2003, S. 9
- Ebenda, S. 16. Ohne private Ausgaben für Gesundheitsversorgung.
Diese werden von der selben Quelle für die
Jahre 2004-07 auf 2,3 Mrd. US$ geschätzt.
- Eine gute Übersicht über den aktuellen Stand der irakischen
Schulden liefern die britische NGO Jubileeiraq
(www.jubileeiraq.org/debt_today.htm) und der deutsche
NGO-Verband Erlassjahr (www.erlassjahr.de)
- Vgl. dazu Antje Queck: Die illigitmen Schulden des Iraks.
In: Erlassjahr e.V. (Hrsg.), Handbuch Illegitime Schulden,
Düsseldorf 2003, S. 27.
- World Bank: Report No. 27602, Interim Strategy Note of
the World Bank Group for Iraq. January 14, 2004. S.4
- Vgl. www.erlassjahr.de und www.jubileeiraq.org sowie
Antje Queck, Ebenda
- Erlassjahr hat eigne Vorstellung von der neutralen Instanz
entwickelt. Siehe dazu: Jürgen Kaiser: Nicht nur Recht
haben, sondern Recht kriegen. In Handbuch Illegitime
Schulden. Ebenda, S. 48.
* Irakischer Wirtschaftswissenschaftler, z.Zt. tätig als entwicklungspolitischer
Berater, bschuber@iraq-dc.com.
Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 37, April 2004
Die Zeitschrift inamo erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
Redaktion inamo
Dahlmannstr. 31
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(Tel.: 030/86421845; e-mail:
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Siehe auch:
Ein Jahr nach dem Krieg: "Die Not der einfachen Iraker ist größer denn je"
Presseerklärung von Caritas international und eine Analyse der Situation im Irak (18. März 2004)
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