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Nach dem dritten Golfkrieg

Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Irak

Von Barik Schuber*

Die irakische Volkswirtschaft von heute trägt ein schweres Erbe. Politische Turbulenzen seit 1958, die Militarisierung der Wirtschaft nach1980 (Krieg gegen den Iran), insgesamt drei Kriege und schließlich das 13 Jahre anhaltende umfassende Wirtschaftsembargo haben auf die Wirtschaftsstruktur und folglich für die Lebensgrundlagen der Bevölkerung verheerende Folgen gehabt. Die hinterlassenen Schäden beschränken sich nicht nur auf die durch Kriege zerstörte oder durch Missmanagement vernachlässigte Basisinfrastruktur, sondern erstrecken sich auch auf die wichtigsten Produktionsfaktoren des Landes: die menschlichen und natürlichen Ressourcen. Dazu zählen insbesondere die Auswanderung von qualifizierten Arbeitskräften und der Anstieg der Analphabetenrate sowie die Umweltzerstörung.

Ein Blick auf die gegenwärtige Wirtschaftsstruktur des Landes ergibt ein düsteres Bild und vermittelt einen ersten Eindruck von den anstehenden Aufgaben beim Wiederaufbau des Landes.

Einkommen und Beschäftigung

Das Fehlen von Wirtschaftsstatistiken im Allgemeinen und Einkommensstatistiken im Besonderen zwingen die Irakforscher dazu, auf Annäherungsgrößen und Hilfsindikatoren zurückzugreifen. So kann das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das allgemein als Indikator für die Wirtschaftsleistung eines Landes anerkannt ist, auch als Hilfsindikator für das Niveau des Volkseinkommens herangezogen werden. Nach den Angaben eines neuen Berichtes der Weltbank (Oktober 2003) wird das Volumen des BIP zu laufenden Preisen im Jahr 2003 auf maximal 16 Mrd. US$ geschätzt. Dementsprechend ist das BIP pro Kopf im selben Jahr, was in etwa dem Pro- Kopf Einkommen entsprechen würde, auf maximal 610 US$ zu schätzen. [1] Zum Vergleich betrug das BIP in den Jahren 1980 und 1990 fast 48 bzw. 49 Mrd. US$. Entsprechend lag das BIP pro Kopf fünf bzw. vier Mal höher als heute.

Selbst unter Berücksichtigung der ungleichen Einkommensverteilung [2] gilt der statistische Durchschnitt "BIP pro Kopf" als zulässiger Indikator für den Entwicklungsstand eines Landes im internationalen Vergleich. Nach den Maßstäben aller internationalen Entwicklungsorganisationen ist der Irak mit einem Pro-Kopf Einkommen von weniger als 2 US$ pro Tag als ein armes Entwicklungsland zu kategorisieren. Nach Schätzungen der UN-Organisation FAO vom September 2003 sind mehr als 13 Millionen Iraker (etwa 50% der Bevölkerung) absolut arm und von der Verteilung von Nahrungsmittelrationen abhängig. Der Anteil der unterernährten Menschen stieg von 7% im Jahr 1990 auf 27% im Jahr 2001.

Ansätze zu einer Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten des irakischen Mittelstandes sind nach dem Sturz des alten Regimes sichtbar geworden. Die amerikanisch- britische Zivilverwaltung (Coalition Provisional Authority - CPA) hat in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres die Gehälter aller Staatsbediensteten im Vergleich zur Vorkriegszeit kräftig angehoben und eine neue Gehaltstabelle für Anfang 2004 angekündigt.[3] Nach wie vor liegen die Gehälter für irakische Staatsbedienstete deutlich unter dem Niveau in den Nachbarländern.

Die irakische Bevölkerung wird derzeit auf ca. 27,1 Millionen Personen geschätzt,[4] wovon 42% unter 14 Jahre alt sind. Etwa 77% der Iraker leben in den Städten und 23% auf dem Lande. Die jährliche Zuwachsrate der Bevölkerung betrug nach Angaben der Weltbank im Jahre 1970 noch 3,2%, sank aber im Jahre 2000 auf 2%.[5]

Aktuelle Statistiken über die Erwerbsbevölkerung (Labour Force) im Irak liegen nicht vor. Die verfügbare Schätzung der FAO [6] bezieht sich auf das Jahr 2000. Aufgrund dieser Schätzung wird eine Erwerbsquote (Labour force participation rate) von 27,6% angenommen. Nach der Extrapolationsmethode dürfte sich die Zahl der Erwerbsbevölkerung gegenwärtig um 7,5 Mio. bewegen, wovon über 50% arbeitslos sind.

Die Mehrheit der Beschäftigten (ca. 2 Mio.) arbeitet im Privatsektor, die wenigsten allerdings in einem formellen Angestelltenverhältnis. Die meisten sind entweder Tagelöhner und/oder fliegende Händler im informellen Sektor, im Regelfall unterbezahlt und unter schweren Arbeitsbedingungen leidend. Lediglich 40% der Beschäftigten - ca. 1,5 Mio. Menschen - arbeiten nach den Kriterien der Weltbank im formellen Sektor.[7].Dazu zählen die ca. 1 Mio. Staatsbediensteten und die etwa 500.000 Beschäftigten in den 192 staatlichen Unternehmen.

Währungsverfall und Inflation

Die Antwort des Regimes von Saddam Husain auf das Wirtschaftsembargo von 1990 war u.a. eine skandalöse Geld- und Fiskalpolitik, die bewußt inflationäre Tendenzen mit drastischen Umverteilungseffekten zu Lasten der mittleren und unteren Einkommensempfänger in Kauf nahm. Der Staatshaushalt wurde nach dem Beginn des Krieges gegen Iran 1980 nicht mehr veröffentlicht und galt als ein Staatsgeheimnis. Diese Praxis wurde auch während des Embargos in den 90er Jahrenbeibehalten, um die Struktur der Staatsausgaben und deren Prioritäten zugunsten von Militärausgaben, Luxus- und Prestigeprojekten zu verschleiern.

Die Ausgaben für das Bildungs- und Gesundheitswesen wurden so gering wie möglich gehalten. Schulen und Krankenhäuser wurden direkt und indirekt aufgefordert, sich selbst durch neuartige Gebühren bzw. Bestechungsgelder zu finanzieren. Die Korruption, die zuvor im Irak kaum vorhanden war, verbreitete sich nun wie eine Seuche im ganzen Staatssektor. Staatsbedienstete verlangen heute noch von den Bürgern unverhüllt eine "Gebühr" für eine selbstverständliche Dienstleistung des Staates.

Der irakischen Zentralbank wurde verwehrt, eine unabhängige Geldpolitik zu verfolgen. Das Haushaltsdefizit wurde durch die Notenpresse finanziert. Diese arbeitete Tag und Nacht u.a. in den Privathäusern des herrschenden Clans. Die nach 1990 neugedrukkten Geldscheine "Saddams Dinar" verloren nicht nur an Glanz gegenüber dem alten "Swiss Dinar", sondern auch drastisch an Wert gegenüber ausländischen Währungen. Anfang der 80er Jahre war ein Irakischer Dinar (ID) 3,33 US$ wert, zehn Jahre später aber weniger als 0,5 Cent. Zur Zeit bewegt sich der Wechselkurs für 1 US$ um 1500 ID, nachdem er im vergangenen November noch bei ca. 2000 ID lag.

Viele irakische Ökonomen empfinden es als eine Schmach, daß erst die fremde Besatzung der irakischen Zentralbank seine Hoheit über die Geldpolitik zurückgegeben hat, um die Geldwertstabilität zu gewährleisten.

Die Situation im Bildungs- und Gesundheitswesen

Bis zum ersten Golfkrieg (1980-1988) galten für manche Beobachter die Bildungs- und Gesundheitssektoren im Irak als Musterbeispiele für Modernisierung in der Region. Die spätere Entwicklung hat aber gezeigt, daß beide Sektoren keine besondere Priorität in der Entwicklungsstrategie und Wirtschaftspolitik des "laizistischen" Baath-Regimes hatten. In Wirklichkeit ermöglichte der Anstieg der Öleinnahmen von ca. 1 Mrd. US$ im Jahre 1972 auf ca. 8 Mrd. US$ im Jahre 1975 einen Anstieg der Staatsausgaben für die beiden Sektoren und somit eine vorübergehende Verbesserung der sozialen Situation der Iraker, die aber weit unter dem Niveau der benachbarten arabischen Ölländern blieb. Verfügbare soziale Indikatoren widerlegen die Legende vom modernen Musterstaat im Nahen Osten und belegen eine dramatische Degradierung der Bildungs- und Gesundheitssituation der Iraker während der vergangenen drei Jahrzehnte. [8] Zweifelsohne trug das Embargo zu einer Verschärfung der Situation bei, ursächlich für die Degradierung waren aber Mißmanagement, falsche Prioritätensetzung der irakischen Wirtschaftspolitik sowie die skrupellose Habgier der Staatsklasse. Die Entwicklung in anderen Ländern, die auch von Embargos betroffen waren, wie z.B. Iran und Kuba, belegen diese Schlußfolgerung.

Der Anteil der Erwachsenen (über 15 Jahre alt), die lesen und schreiben können, ging von 65,2% im Jahre 1980 auf 44,1% im Jahre 2000 zurück. Im Zeitraum von 1980-1998 sank die Zahl der Schulen von 9.460 auf 7.572, demgegenüber stieg aber die Zahl der Prunkpaläste und monumentaler Moscheen sichtlich an. Grundschulen mit einer Kapazität von 700 Schülern müssen tatsächlich bis zu 4500 Kinder aufnehmen. Der Anteil der eingeschulten Kinder in Grundschulen ging von 99% auf 80% und in Mittelschulen von 47% auf 31% im selben Zeitraum zurück. Mehr als ein Viertel der eingeschulten Kinder, insbesondere Mädchen und Kinder in ländlichen Gegenden, erschienen nicht zum Unterricht, offensichtlich um der Familie beim wirtschaftlichen Überleben zu helfen. Die katastrophale Situation im irakischen Gesundheitssektor ist für jeden Landeskenner augenscheinlich. Das Ausmaß der Katastrophe kann durch die verfügbaren Indikatoren nicht in vollem Umfang wiedergegeben werden. Die äußerst spärlichen Daten können lediglich Anhaltspunkte dafür geben. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Iraker ging von 62,0 Jahren in 1980 auf 58,7 Jahre in 1997 zurück und liegt damit deutlich unter dem Durchschnitt der Region (MENA) von 66,8 Jahren. Die Sterblichkeitsrate der Kinder unter 5 Jahren stieg von 50 pro 1000 im Jahre 1990 auf 113 pro 1000 Kinder im Jahre 2001, im Vergleich zu einer Rate von 33/1000 in Jordanien und von 107/1000 im Jemen. Die Sterblichkeit der Neugeborenen lag im Jahre 1997 bei 10,4 pro 1000 Lebendgeburten im Vergleich zu 7 pro 1000 in der Region.

Während der vergangenen 20 Jahre wurde im Gesundheitssektor kaum investiert mit der Folge, daß die Ausstattung der öffentlichen Krankenhäuser verwahrloste. Das Budget des Gesundheitsministeriums wurde während der 90er Jahre um 90% gekürzt. Die Staatsausgaben für Gesundheit sanken auf schätzungsweise 50 Cent pro Kopf der Bevölkerung im Jahr. Medizinische Versorgung konnte sich nur noch die schmale Schicht der Staatsklasse und der Neureichen in den privaten Kliniken und Arztpraxen oder im benachbarten Jordanien leisten. Von den vorhandenen 240 öffentlichen Krankenhäusern und 1200 Kliniken ist nur ein Drittel einigermaßen funktionstüchtig. Etwa 12% der Krankenhäuser wurden durch den Krieg im letzten Jahr beschädigt und 7% ausgeplündert. Mehr als 30% der Zentren für Familienplanung wurden zerstört und 15% der Mutter-Kind Stationen geschlossen. Die zwei wichtigsten Laboratorien des Landes in Bagdad und Basra wurden zerstört. Die Ausrüstungen und das Mobiliar des Instituts für Impfstoffe und Seren wurden geplündert.[9]

Der irakische Staatshaushalt 2004 stellt 1 Mrd. US$ für den Gesundheitssektor zur Verfügung. Für dieses Jahr schätzt die Weltbank einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von 500 Mio. US$, um notwendige Instandsetzungsarbeiten zu tätigen. In den Jahren 2005-2007 werden zu den voraussichtlich verfügbaren staatlichen Mitteln von 3 Mrd. US$ weitere zusätzliche Gelder in der Größenordnung von 1,1 Mrd. US$ benötigt. Der öffentliche Gesundheitssektor hat in dem Zeitraum 2004-07 insgesamt einen Finanzierungsbedarf von knapp 5,6 Mrd. US$, wovon 4 Mrd. US$ vom Staatshaushalt aufgebracht werden könnten. Der Rest von 1,6 Mrd. US$ ist als Finanzierungslücke zu betrachten, die durch ausländische Hilfen geschlossen werden muß.[10]

Auslandsverschuldung

Als Saddam Husain im Juli 1979 sich zum alleinigen Herrscher des Irak aufschwang, war der Irak frei von langfristigen Schulden und verfügte gar über Devisenreserven in der Höhe von 36 Mrd. US$. Pro Kopf der Bevölkerung gilt der Irak heute nach übereinstimmender Beurteilung vieler Experten als das höchstverschuldete Land der Welt.

Die Hauptkategorie der irakischen Auslandschulden bezieht sich auf bilaterale Schulden, die während des 1. Golfkrieges in den 80er Jahren zustande kamen. Da eine rechtsverbindliche internationale Feststellung der Höhe dieser Schulden nicht existierte, und der Irak darüber nicht berichtete, beruhen die verschiedenen Schätzungen auf den Angaben der Gläubiger. Die Schätzungen schwanken zwischen 94,6 Mrd. US$ und 154,2 US$.[11] Die meisten Irak-Beobachter, so auch die Weltbank, sprechen von ca. 120 Mrd. US$. Davon entfallen auf die Mitglieder des Pariser Clubs ca. 43 Mrd. US$ inklusive 21 Mrd. US$ Zinseszinsen aus der Zeit des Embargos, als der Irak seine Schulden nicht bediente. Auf die Golfstaaten Saudi-Arabien, Kuwait und die VAE entfallen Forderungen von insgesamt 49 Mrd. US$, die eindeutig zur Finanzierung des Krieges von Saddam Husain gegen den Iran gewährt wurden, und daher schon seit 1990 umstritten sind, weil unklar ist, ob es sich um Kredite oder Hilfe handelte. Die Forderungen von sonstigen Staaten werden auf insgesamt 16 Mrd. US$ geschätzt. Private Banken und Geschäftsleute kommen nur auf 14 Mrd. US$.

Die Forderungen Deutschlands belaufen sich auf insgesamt 3,9 Mrd. EUR, wovon 1,6 Mrd. EUR aus Hermesbürgschaften und Forderungen der ehemaligen DDR stammen. Die übrigen 2,3 Mrd. EUR werden mit Ansprüchen aus aufgelaufenen Zinsen begründet. Es ist nicht klar, inwieweit Exporte deutscher Firmen, die vor 1990 Waffen an den Irak lieferten und deren Zahl auf 80 geschätzt wird, von Hermesbürgschaften abgedeckt waren.[12] Dies ist von großer Bedeutung für die Frage, inwieweit die deutschen Forderungen legitim oder illegitim sind.

Die zweite Kategorie umfasst die Reparationsforderungen an den Irak, die nach dem zweiten Golfkrieg von 1991 an die United Nations Claims Commission (UNCC) mit einem gesamten Volumen von 348 Mrd. US$ eingereicht wurden. Von den bisher bearbeiteten Anträgen mit einer gesamten Entschädigungsforderung von 253 Mrd. US$ wurden bis Dezember 2003 48 Mrd. US$ tatsächlich anerkannt, wovon bisher 18 Mrd. US$ im Rahmen des "Oil for Food" Programms aus den irakischen Erdöleinnahmen abgezweigt und an die Antragssteller ausgezahlt wurden. Den Restbetrag von 30 Mrd. US$ wird der Irak zahlen müssen, da es sich offensichtlich um einen völkerrechtlich verbindlichen Titel handelt. Hinzu kommen gemäß einer Hochrechnung von ‹Erlassjahr.de› weitere 47 Mrd. US$, die die UNCC bei den noch nicht bearbeiteten Entschädigungsanträgen in einer Gesamthöhe von 95 Mrd. US$ sehr wahrscheinlich als berechtigt anerkennen wird. Somit ist mit einer zusätzlichen Belastung von 77 Mrd. US$ als Entschädigung für den zweiten Golfkrieg zu rechnen. Die Rechnung für den zweiten Golfkrieg würde sich auf insgesamt 95 Mrd. US$ belaufen.

Außerdem muss damit gerechnet werden, dass der Iran Reparationsforderung aufgrund des ersten Golfkrieges (1980-1988) im Umfang von 100-200 Mrd. US$ stellen wird, wenn der Zeitpunkt dazu politisch opportun erscheint. Denn immerhin besitzt der Iran ein von Saddam Husain unterschriebenes Dokument aus dem Jahr 1990, in dem er die irakische Schuld am Ausbruch des Krieges gegen den Iran anerkannt hatte.

Die dritte Kategorie umfasst Forderungen aus nicht abgesicherten Handelsgeschäften und aus rechtswirksamen Verträgen, insbesondere mit russischen Firmen, die nicht erfüllt wurden. Abweichend von einigen überhöhten Schätzungen von ca. 57 Mrd. US$ nennt ‹Jubileeiraq.org› einen wesentlich niedrigeren Betrag von 11 Mrd. US$, der eher realistisch sein dürfte.

Auch wenn diese Einschätzung des Volumens der irakischen Auslandsschulden nach konservativen Kriterien erfolgte, so bedeutet bereits die Summe von über 200 Mrd. US$ eine enorme Belastung für die irakische Volkswirtschaft und stellt ein wesentliches Hindernis für den Wiederaufbau dar. Dies wird deutlich, wenn Auslandsschulden in Relation zu der erwarteten Wirtschaftsleistung und Einnahmen aus dem Erdölexport gesetzt werden. Den optimistischen Schätzungen der Weltbank zu Folge ist mit einem Anstieg des irakischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im laufenden Jahr auf 17-22 Mrd. US$ zu rechnen. Die Einnahmen aus dem Erdölexport werden ebenso optimistisch auf 12 Mrd. US$ geschätzt.[13] Somit entsprechen die Auslandsschulden Iraks dem Zehn- bis Zwanzigfachen des BIP bzw. der Exporteinnahmen. Außer Erdöl verfügt der Irak über keine nennenswerten Exportprodukte; außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Hälfte des Lebensmittelbedarfs importiert werden muss.

Die außerordentliche Belastung der Auslandschulden für die zukünftige Entwicklung der irakischen Wirtschaft wird inzwischen von Weltbank-Chef Wolfensohn eingesehen, der den Erlaß von zwei Dritteln der Schulden ähnlich wie im Falle Jugoslawien nach dem Sturz von Milosewich gefordert hat. Es wird damit gerechnet, daß die Mitglieder des Pariser Clubs bei ihren Beratungen im Laufe diese Jahres der Forderung nachkommen werden, zumal es sich bei der Hälfte der Forderung um Zinseszinsen handelt, die fast ausschließlich nach 1991 anfielen, als der Irak keine Hoheit mehr über seine Öleinnahmen hatte. Hinzu kommt die Tatsache, daß irakische Guthaben bei ausländischen Banken nach der Verhängung des Embargos eingefroren wurden, ohne dafür Zinsen gut zu schreiben.

Illegitime Schulden

Die Iraker und mit ihnen auch eine wachsende Zahl von internationalen Organisationen halten die Schulden Iraks insgesamt für illegitim und/oder für verabscheuungswürdig (odious debt). Diese Einschätzung stützt sich auf die folgenden Argumente: [14]
  • Das irakische Volk hat der Kreditaufnahme nicht zugestimmt, da diese weder von einer legitimierten Regierung rechtsgültig unterschrieben noch von einem verfassungsmäßigen Parlament ratifiziert wurde. Kritik an der Regierung war bei Todesstrafe verboten.
  • Das irakische Volk hatte von den Krediten keinen Nutzen. Die Kredite wurden direkt oder indirekt zur Finanzierung des Krieges gegen den Iran und zur Aufrechterhaltung des Unterdrückungsapparates von Saddam Husain verwendet. Unter anderem wird auf den Einsatz von Giftgas gegen die eigene Bevölkerung verwiesen.
  • Die Kreditgeber haben vom fehlenden Nutzen und der fehlenden Zustimmung der Bevölkerung zur Kreditaufnahme gewußt. Als Beispiel wird die Finanzierung der Chemiefabrik Falluja 2 durch einen britischen Exportkredit angeführt.
Die Iraker fordern die restlose Streichung aller Schulden, die während des Regimes Saddam Husains zustande kamen und keinen nachweisbaren Nutzen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes brachten. Der Verband deutscher Nichtregierungsorganisationen ‹Erlassjahr.de› fordert, dass die existierenden Entschuldungsverfahren durch ein "faires und transparentes Schiedsverfahren " ersetzt werden. Dies bedeutet, daß die Entscheidung darüber, was der Schuldner künftig und in welchem Zeitraum zahlen muß, weder vom Schuldner noch vom Gläubiger, sondern von einer neutralen Instanz gefällt wird.[15]

Fußnoten
  1. United Nations/World Bank: Joint Needs Assessment. Report October 2003, S. 59
  2. Nach den Schätzungen des irakischen Wirtschaftswissenschaftlers Dr. Shakir Latif entfällt 61% des Volkseinkommens auf 3% der Bevölkerung, und 79% auf 20%, sodass die restlichen 80% der Bevölkerung lediglich 21% des Volkseinkommens auf sich vereinigen. Vgl. Dr. Shakir Latif: Die Militärausgaben als zentrales Ziel in der Fiskalpolitik des modernen irakischen Staates. In: Studien über die Irakische Volkswirtschaft. Iraqi Economic Forum, London 2002, Seite 11. Arabisch
  3. Laut Weltbank 1,3-1,5 Mio. Staatsbedienstete, darunter 500.000 Mitarbeiter von staatlichen Unternehmen. Vgl.: World Bank, Ebenda
  4. United Nations/World Bank: Joint Needs Assessment. Report October 2003, p. 59
  5. World Bank Data Sheet for Iraq. As of March 2003.
  6. Muhammd Ali Zainy, The Iraqi economy, past, present and future options, London, 2003, S. 311.
  7. World Bank Report (October 2003), S. 18
  8. World Bank: Data Sheet for Iraq. As of March 2003 und Report No. 27602: Interim Strategy Note of the World Bank Group for Iraq, January 14, 2004
  9. United Nation/World Bank: Joint Iraq Needs Assessment, Working Paper Health, October 2003, S. 9
  10. Ebenda, S. 16. Ohne private Ausgaben für Gesundheitsversorgung. Diese werden von der selben Quelle für die Jahre 2004-07 auf 2,3 Mrd. US$ geschätzt.
  11. Eine gute Übersicht über den aktuellen Stand der irakischen Schulden liefern die britische NGO Jubileeiraq (www.jubileeiraq.org/debt_today.htm) und der deutsche NGO-Verband Erlassjahr (www.erlassjahr.de)
  12. Vgl. dazu Antje Queck: Die illigitmen Schulden des Iraks. In: Erlassjahr e.V. (Hrsg.), Handbuch Illegitime Schulden, Düsseldorf 2003, S. 27.
  13. World Bank: Report No. 27602, Interim Strategy Note of the World Bank Group for Iraq. January 14, 2004. S.4
  14. Vgl. www.erlassjahr.de und www.jubileeiraq.org sowie Antje Queck, Ebenda
  15. Erlassjahr hat eigne Vorstellung von der neutralen Instanz entwickelt. Siehe dazu: Jürgen Kaiser: Nicht nur Recht haben, sondern Recht kriegen. In Handbuch Illegitime Schulden. Ebenda, S. 48.
* Irakischer Wirtschaftswissenschaftler, z.Zt. tätig als entwicklungspolitischer Berater, bschuber@iraq-dc.com.


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 37, April 2004

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Siehe auch:
Ein Jahr nach dem Krieg: "Die Not der einfachen Iraker ist größer denn je"
Presseerklärung von Caritas international und eine Analyse der Situation im Irak (18. März 2004)


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