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"Kernpunkte" für die Nachkriegsordnung: - "Ein Irak nach iranischem Vorbild wird nicht zugelassen"

Ein Namensartikel von Donald H. Rumsfeld im Wall Street Journal

Im Folgenden dokumentieren wir einen hoch interessanten Namensartikel von US-Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld, der erstmals in The Wall Street Journal vom 27. Mai 2003 erschien ("Rumsfeld Offers Guidelines for Helping Iraq Build a Free Society"). Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte durch den Amerika Dienst. Hervorhebungen durch uns.

Vor kurzem bin ich aus Bagdad zurückgekehrt, wo ich mit den Soldaten zusammengetroffen bin, die den Irak befreit haben. Ungeachtet der Todesschwadrone und Sandstürme legten sie hunderte von Meilen zurück, um die Tore Bagdads in weniger als zwei Wochen zu erreichen und das Regime von Saddam Hussein in weniger als einem Monat zu stürzen - eine bemerkenswerte Leistung.

Aber ebenso bemerkenswert wie ihre Leistungen ist all das, was nicht geschehen ist. Weil der Kriegsplan so schnell umgesetzt wurde, hat das Regime seine Nachbarn nicht mit SCUD-Raketen angegriffen; die meisten irakischen Ölfelder wurden nicht zerstört, und eine Umweltkatastrophe wurde verhindert; strategisch wichtige Brücken, Straßen und Eisenbahnlinien wurden gesichert; Dämme wurden nicht zerstört; Dörfer nicht überflutet; die Infrastruktur des Landes ist im Großen und Ganzen intakt; es gab keine großen Flüchtlingsströme, die sich über die Grenzen hinweg in die Nachbarländer ergossen, und die Koalition hat große Anstrengungen unternommen, um gleichermaßen das Leben unschuldiger Zivilisten und die Heiligen Stätten zu schützen.

Diese Leistungen haben eine solides Fundament geschaffen, auf dem der Frieden aufgebaut werden kann. Im Gegensatz zu Europa nach dem Zweiten Weltkrieg müssen die Iraker ihr Land weitgehend nicht aus den Trümmern des Krieges wiederaufbauen, auch wenn sie ihr Land und ihre Gesellschaft nach Jahrzehnten der Diktatur wiederaufbauen müssen.

Natürlich gibt es im Irak noch Schwierigkeiten - Verbrechen, Inflation, Gasleitungen, Arbeitslosigkeit. Aber es überrascht nicht, dass es solche Schwierigkeiten gibt. Keine Nation, die den Übergang von der Tyrannei zu einer freien Gesellschaft vollzogen hat, ist immun gegen die Schwierigkeiten und Herausforderungen dieses Weges - nicht einmal unsere eigene.

Die Jahre nach unserem Unabhängigkeitskrieg brachten großes Chaos und Verwirrung mit sich. Es gab Volkserhebungen wir die den Aufstand Shays, bei dem der Mob Gerichts- und Regierungsgebäude angriff. Da es keine stabile Währung und in den einzelnen Bundesstaaten unterschiedliche Währungen gab, herrschte eine zunehmende Inflation. Es gab regionale Spannungen zwischen dem Handel treibenden Neuengland und dem landwirtschaftlich geprägten Süden. Es gab Plünderungen und Verbrechen und keine organisierte Polizei. Es gab Anhänger des ehemaligen Regimes, deren Schicksal beschlossen werden musste. Unsere ersten Bemühungen um eine Regierungscharta - die Artikel der Konföderation - scheiterten kläglich, und es erforderte acht Jahre kontroverser Debatten, bevor wir schließlich unsere Verfassung verabschiedeten und unseren ersten Präsidenten vereidigten. Und im Gegensatz zum irakischen Volk sahen wir uns nicht der zusätzlichen Herausforderung gegenüber, uns vom Trauma der jahrzehntelangen brutalen Herrschaft eines Diktators wie Saddam Hussein erholen zu müssen.

Es geht um Folgendes: Seit der Befreiung des Irak sind erst sieben Wochen vergangen - und es gibt Herausforderungen. Thomas Jefferson hat einmal gesagt: "Wir können nicht erwarten, während des Übergangs vom Despotismus zur Freiheit auf weiche Kissen gebettet zu sein." Er erforderte Zeit und Geduld, aber am Ende haben unsere Gründerväter es richtig gemacht - und wir hoffen, dass das irakische Volk es mit der Zeit auch richtig machen wird.

Wir haben ein Interesse am Erfolg dieses Übergangs. Denn wenn der Irak - mit seiner Größe, seinen Fähigkeiten und Ressourcen - den Weg zu einer repräsentativen Demokratie beschreitet, könnte das dramatische Auswirkungen auf die Region und die Welt haben. Es ist denkbar, dass der Irak als Modell dienen könnte - als Beweis, dass ein gemäßigter muslimischer Staat im Kampf gegen den Extremismus gewinnen kann, der heute in der muslimischen Welt stattfindet.

Wir haben uns verpflichtet, dem irakischen Volk auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft behilflich zu sein. Wir haben kein amerikanisches "Patentrezept", das wir aufzwingen wollen. Die Iraker werden herausfinden, wie man eine freie Nation in einer solchen Weise aufbaut, dass sie ihre einzigartige Kultur und ihre einzigartigen Traditionen widerspiegelt.

Präsident Bush hat umfassende Grundsätze dargelegt, die entscheidend sind, wenn die Abkehr des Irak von der Tyrannei Erfolg haben soll: Der Irak soll ein ungeteiltes Land sein, das keine Terroristen unterstützt, weder seine Nachbarn noch die Welt mit Massenvernichtungswaffen oder seine ethnischen Minderheiten mit Terror und Unterdrückung bedroht; ein Land mit einer Regierung, die Minderheiten achtet und schützt, seinem Volk mit einer freien Marktwirtschaft Chancen und mit einer unabhängigen Gerichtsbarkeit Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit bietet.

Dies sind die Kernpunkte, die die internationale Gemeinschaft freier Nationen untermauern. Die Koalition wird Iraker aussuchen, die diese Kernpunkte unterstützen und die eine Rolle bei der Gestaltung der Zukunft ihres Landes übernehmen möchten. Diejenigen, die diese Kernpunkte ablehnen - deren Agenda darin besteht, Saddam Husseins Tyrannei durch eine andere Form der Diktatur zu ersetzen - werden bekämpft.

Während wir darauf hinarbeiten, den Irakern beim Aufbau einer freien Gesellschaft behilflich zu sein, möchte ich einige der Richtlinien nennen, denen unsere Koalition folgt:

* Sicherstellung der Autorität. Unser Ziel ist, den Irakern so bald wie möglich eine funktionsfähige politische Autorität zu übertragen. Die Übergangsregierung der Koalition trägt die Verantwortung, das Machtvakuum in einem Land zu füllen, das seit Jahrzehnten eine Diktatur war, indem sie die Autorität im Land sicherstellt. Das wird sie tun. Sie wird keine selbsternannten "Führer" dulden.

* Gewährleistung der Sicherheit. Zu den unmittelbaren Zielen zählen die Wiederherstellung von Recht und Ordnung für das irakische Volk und die Gewährleistung unerlässlicher Dienstleistungen. Die Koalition stellt irakische Polizisten ein und bildet sie aus und ist zum Einsatz von Gewalt bereit, um gegebenenfalls die Ordnung durchzusetzen - denn ohne Ordnung wird wenig möglich sein.

* Verpflichtung zu bleiben; Verpflichtung zu gehen. Die Koalition wird im Irak so viele Sicherheitskräfte wie nötig und so lange wie notwendig belassen, um die gesetzten Ziele zu erreichen - und nicht länger. Es haben bereits 39 Nationen Stabilisierungstruppen oder andere benötigte Unterstützung für die Nachkriegsbemühungen angeboten, und die Zahl wächst. Gemeinsam versuchen die Koalitionsländer, ein sicheres Umfeld zu schaffen, damit die Iraker mit der Zeit die Führung in ihrem Land übernehmen können.

* Verbesserung der Lebensumstände unter Einbeziehung der Iraker. Die Koalition arbeitet mit Hochdruck an der Verbesserung der Lebensumstände des irakischen Volkes. Die Versorgung mit Elektrizität im Norden und Süden ist bereits besser als in den vergangenen 12 Jahren, und die Stromversorgung in Bagdad wird besser, wenn auch langsam. Die Koalition arbeitet daran, schnelle und sichtbare Ergebnisse bei anderen elementaren öffentlichen Dienstleistungen zu erzielen. Die Koalition arbeitet darauf hin, das irakische Volk so schnell wie möglich einzubinden und Irakern Führungsrollen bei den Wiederaufbaubemühungen zu übertragen - denn sie sind für die Gestaltung der Zukunft ihres Landes verantwortlich.

* Unterstützung von Irakern, die ebenfalls das Ziel eines freien und gemäßigten Iraks verfolgen. Bei der personellen Besetzung von Ministerien und anderer Positionen mit Irakern arbeitet die Koalition darauf hin, hilfsbereite Iraker so früh wie möglich einzubinden, damit irakische Stimmen dem irakischen Volk die Ziele und die Zielrichtung erklären können. Nur wenn Iraker eingebunden werden, Verantwortung tragen, erklären und ihre Mitbürger führen, wird sich eine breite öffentliche Unterstützung entwickeln, die für die Sicherheit von essenzieller Bedeutung ist.

* Entbaathifizierung. Die Koalition wird mit progressiven Irakern zusammenarbeiten und aktiv gegen die alten Kräfte des Regimes vorgehen - Führer der Baath-Partei, die Elitetruppe Fedajin Saddam und andere Unterdrückungsapparate - und deutlich machen, dass die letzten Reste von Saddams Regime beseitigt werden.

* Verbrecher der Gerichtsbarkeit überstellen. Diejenigen, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, werden verfolgt und vor Gericht gebracht werden. Es werden Verfahren eingeführt, um die Mitglieder von Organisationen, die die Ausführenden der Unterdrückung durch das Regime waren, festzunehmen und zu enttarnen. Entbaathifizierung mag zu einer gewissen Ineffizienz führen, ist aber entscheidend für die Beseitigung der überall herrschenden Angst in der irakischen Gesellschaft.

* Wiederherstellung des sozialen Gefüges. Der Irak muss Wege finden, die Wunden zu heilen, die Vertreter der Baath-Partei der Gesellschaft zugefügt haben. Die Erfahrungen Osteuropas und anderer Länder könnten Eingang in diesen Prozess finden.

* Besitzansprüche. Zur friedlichen Regelung von Besitzansprüchen werden entsprechende Verfahren eingeführt.

* Begünstigung der Marktwirtschaft. Entscheidungen werden keine stalinistischen Kommandosysteme, sondern marktwirtschaftliche Systeme begünstigen und solche Aktivitäten fördern, die zum Beginn eines Diversifizierungsprozesses in der irakischen Wirtschaft über das Ölgeschäft hinaus führen. Die Koalition wird zur Privatisierung staatseigener Unternehmen ermutigen.

* Öl. Die Übergangsregierung der Koalition wird einen auf Transparenz aufgebauten Plan für die irakische Ölindustrie entwickeln. Der irakische Ölreichtum wird zum Nutzen des irakischen Volkes verwendet und vermarktet werden.

* Verträge - Förderung der Erholung des Irak. Wo immer möglich werden Verträge für Arbeiten im Irak an jene gehen, die irakische Arbeitnehmer einsetzen und an die Länder vergeben, die die Befreiung des irakischen Volkes unterstützten, damit ein Beitrag zur verstärkten regionalen Wirtschaftstätigkeit geleistet und die wirtschaftliche Erholung des Iraks und der Region beschleunigt wird.

* Die internationale Gemeinschaft. Die Hilfe anderer Länder und internationaler Organisationen, darunter die Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen, ist begrüßenswert. Sie können eine wichtige Rolle übernehmen. Die Übergangsregierung der Koalition wird gemeinsam mit ihnen an einer Bündelung der Anstrengungen arbeiten.

* Irakische Nachbarländer: Unterstützung, aber kein Eingreifen. Unterstützung durch irakische Nachbarländer ist willkommen. Umgekehrt wird ein Eingreifen im Irak durch seine Nachbarländer oder ihre Bevollmächtigten - einschließlich jener, deren Ziel es ist, den Irak nach iranischem Vorbild zu gestalten - weder akzeptiert noch zugelassen.

* Vorrangige Geldquellen. Bei der Unterstützung des irakischen Volks übernehmen die Vereinigten Staaten ihren Part, sollten aber nicht als alleiniger Geldgeber betrachtet werden. Das amerikanische Volk hat bereits einen beträchtlichen Beitrag zur Befreiung des Irak geleistet und ist bereit, sich an den Wiederaufbaubemühungen zu beteiligen. Im Hinblick auf die benötigten Geldmittel wird die Koalition - bevor sie auf den amerikanischen Steuerzahler zukommt - zunächst im Irak befindliche Geldmittel des irakischen Regimes, irakische Gelder aus dem Programm "Öl für Nahrungsmittel" der Vereinten Nationen sowie beschlagnahmte eingefrorene Vermögenswerte des irakischen Regimes in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern verwenden und sich an internationale Geber aus der ganzen Welt wenden, von denen viele bereits Hilfe leisten.

* Mögliche Kurskorrekturen auf dem Weg zur Demokratie. Der Übergang zur Demokratie erfordert Zeit und wird nicht immer reibungslos vonstatten gehen. In Mittel- und Osteuropa hat der Prozess Zeit erfordert, ist aber erfolgreich. Versuche, Fehlschläge und Experimente werden Teil dieses Prozesses sein. Es wird nicht perfekt sein. Man sollte mit notwendig werdenden Kurskorrekturen rechnen. Sollen sie zum Erfolg führen, erfordern diese Bemühungen die Geduld aller Beteiligten.

* Geduld und Achtung für den einmaligen Charakter des Irak. Über das ultimative politische Ergebnis entscheidet das irakische Volk auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit, Minderheitsrechten, persönlicher Freiheit und repräsentativer Demokratie. Man sollte nicht erwarten, dass im Irak andere Systeme eins zu eins umgesetzt werden können.

Die Iraker haben die historische Chance zum Aufbau einer freien Zivilgesellschaft. Der Weg in die Zukunft ist schwierig, aber die Koalition ist entschlossen, den Irakern zum Erfolg zu verhelfen. In dem Maße wie die Iraker die Verantwortung in ihrem Land übernehmen, Institutionen der Selbstverwaltung entwickeln und ihren Platz als verantwortliche Mitglieder der internationalen Gemeinschaft wieder einnehmen, hat die Welt ein neues Vorbild für den erfolgreichen Übergang von der Tyrannei zu Selbstvertrauen - und einen neuen Verbündeten im globalen Krieg gegen den Terror und im Kampf für Freiheit und Mäßigung in der muslimischen Welt.

Übersetzung: Amerika Dienst

Originaltext: Rumsfeld Offers Guidelines for Helping Iraq Build a Free Society (siehe http://usinfo.state.gov)


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