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"Bush will Abhaengigkeit von Riad reduzieren"

Krieg, Terror und Kampf ums Oel

Interview mit mit Clemens Ronnefeldt*

Frage: Nach den Erklaerungen von US-Politikern in den letzten Tagen gilt als wahrscheinlich, dass US-Praesident Bush in naechster Zeit militaerisch gegen den Irak vorgeht. Steht ein Angriff fuer Sie in einem direkten Zusammenhang mit dem 11. September und zum Beispiel der Furcht vor Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddam Husseins? Oder ist das nur die "offizielle Begleitmusik" fuer einen Feldzug, der sich unter dem Stichwort "Gefahrenabwehr" besser verkaufen laesst?

Zunaechst ist festzustellen: In den letzten Wochen ist in den USA ein heftiger Streit zwischen Kriegsbefuerwortern und Kriegsgegnern entbrannt, der laengst nicht entschieden ist. Mit seiner juengsten Rede vor Kriegsveteranen in Nashville hat Vizepraesident Dick Cheney noch einmal vehement dafuer plaediert, "die Schlacht zum Feind zu tragen". Dennoch hat die Gruppe der entschiedenen Kriegsbefuerworter, der neben ihm auch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz sowie Condoleezza Rice, Richard Perle und Tom Delay angehoeren, erheblichen Gegenwind bekommen.

F: Weshalb diese Opposition?

Weil ein Irak-Krieg teuer und mit groesseren Verlusten der eigenen Seite verbunden waere, stellen sich die Vereinigten US-Stabschefs gegen die zivilen Falken in der Regierung und befuerworten, wenn ueberhaupt, einen Krieg hoechstens im naechsten Jahr.
Brent Scowcroft, Sicherheitsberater von Praesident Bush senior im Golfkrieg 1991, sieht die Gefahr eines apokalyptischen Endkampfes. Zbigniew Brzezinski, unter Praesident Carter Sicherheitsberater und Vertreter einer einflussreichen Denkschule, sieht das internationale System und die Rolle der USA darin auf dem Spiel stehend. Henry Kissinger schrieb, dass die Abloesung einer fremden Regierung das gesamte System des Westfaelischen Friedens von 1648 in Frage stelle. Richard Armey, Mehrheitsfuehrer von Bushs eigener Partei im Repraesentantenhaus, kann keinen ueberzeugenden Grund fuer einen Angriff auf den Irak erkennen.
Schliesslich ist auch Aussenminister Colin Powell wieder aufgetaucht und unterstuetzt die neu gefundene gemeinsame Haltung der Europaeer, eine diplomatische Loesung der Irak-Frage ueber die Wiederzulassung von UN-Inspektoren zu suchen. Damit fiel er seinem Vizepraesidenten Cheney direkt in den Ruecken.
Auch die Zustimmung der US-Bevoelkerung zu einem Krieg ist seit Dezember 2001 nach einer aktuellen CNN-Umfrage von 70 Prozent auf 51 Prozent gesunken. Den Militaereinsatz von Bodentruppen mit den dabei zu riskierenden nennenswerten Verlusten unterstuetzen nur noch 40 Prozent der Befragten.

F: Die Diskussion der letzten Tagen scheint aber in eine andere Richtung zugehen: Danach geht es darum, die Gefahr, die vom Irak ausgeht, der Oeffentlichkeit oder auch den sich gegen einen Krieg aussprechenden Verbuendeten vor Augen zu fuehren, so Mitglieder der Bush-Administration. Und der britische Premier Tony Blair hat angekuendigt, neue Beweise fuer die Existenz von Massenvernichtungswaffen oder dergleichen vorlegen zu wollen.

Ich sehe auch keinen Grund fuer Entwarnung. Wesley Clark, Ex-Oberbefehlshaber der NATO in Europa, schaetzt die Wahrscheinlichkeit eines US-Irak-Feldzuges im naechsten Jahr auf 70 Prozent.
Andererseits: Auch wenn die US-Regierung derzeit versucht, einen Zusammenhang zwischen Al Qaida, dem 11. September 2001 und der Unterstuetzung des internationalen Terrorismus durch die irakische Fuehrung zu konstruieren: Alle mir bekannten serioesen Studien koennen einen solchen direkten Zusammenhang nicht erkennen.
Unbeantwortet bleibt bisher auch die Frage, wie die irakische Fuehrung, selbst wenn sie noch ueber chemische oder biologische Restbestaende verfuegen sollte, diese ohne Traegersysteme als konkrete Bedrohung der Vereinigten Staaten, Europas oder ihrer Nachbarn einsetzen koennte.

F: Womit noch nicht die Frage nach den Gruenden eines solchen Krieges beantwortet ist. Es hat den Anschein, als ginge es der US-Regierung darum, das Regime in Bagdad zu stuerzen, koste es, was es wolle.

Dafuer gibt es mehrere Gruende. Dazu gehoeren fuer mich die Oelvorraete Iraks, die Ankurbelung der US-Wirtschaft durch enorme Ruestungsprogramme in Zeiten der Rezession oder die Vollendung des Werkes von Praesident Bush senior im Golfkrieg 1991 durch dessen Sohn. Auch die geopolitischen Verlockungen in der erdoelreichsten Region der Erde durch Einflussnahme auf neue Pipelinefuehrungen fallen mir ein. Insbesondere Iran wuerde bei einem Wechsel in Bagdad in die Zange genommen werden, da in Kabul bereits eine US-freundliche Regierung eingesetzt wurde.
Nach den Enron- und Worldcom-Konkursen stehen Vizepraesident Cheney als ehemaliger Chef des weltweit groessten Oelindustriezulieferers Halliburton wie auch George W. Bush als ehemaliger Top-Manager des Oeldienstleistungsunternehmens Harken Oil wegen Bilanzfaelschungen und Verwicklungen in Insidergeschaefte in der oeffentlichen Kritik – und vor den Kongress-Zwischenwahlen im November 2002 unter enormem Druck. Es waere nicht das erste Mal, dass sich ein in Bedraengnis geratener US-Praesident durch einen aussenpolitischen Feldzug innenpolitisch Luft zu verschaffen hofft.
Deswegen halte ich es fuer enorm wichtig, gerade in den naechsten Wochen den oeffentlichen Protest anwachsen zu lassen und die kriegskritischen Kraefte in den USA wie auch in Europa zu staerken.

F: Es laesst sich leicht aufzeigen, dass der 11. 9. im Grunde Katalysator fuer viele Entwicklungen ist, die bereits seit Jahren im Gange sind. Dazu gehoert, dass die Militaers ihre Stellung festigen konnten und die Militarisierung der Aussenpolitik weiter voranschreitet. Dennoch greift eine Analyse, die beispielsweise den USA eine allein aufs Militaerische gestuetzte Aussenpolitik vorwirft, wie das zu Beginn des Jahres bemerkenswerterweise der CDU-Politiker Karl Lamers kritisiert hat, ja offenkundig zu kurz.

In der Tat sind derzeit die militaerischen wie auch die wirtschaftlichen Faktoren insbesondere in den USA kaum noch zu trennen und verstaerken sich wechselseitig. Die Geschwindigkeit, mit der die Militarisierung der Aussenpolitik voranschreitet, ist atemberaubend. Ich moechte nur einige Beispiele nennen:
Anfang Juni 2002 verlangte Praesident Bush in einer programmatischen Rede vor Absolventen der US-Militaerakademie West Point, jederzeit bereit zu sein, um ohne Zeitverlust in jeder dunklen Ecke der Welt zuschlagen zu koennen. Der "Krieg gegen den Terror" wuerde nicht in der Defensive gewonnen, die Schlacht muesse auf dem Boden der Feinde gefuehrt werden. In dieser Deutlichkeit hatte das vor George W. Bush wohl noch kein US-Praesident formuliert.
Seine Worte werden derzeit von verschiedenen grundlegenden US-Militaerstrategien in konkrete Planung umgesetzt, was – wie Sie in Ihrer Frage bemerkten – zu einer beispiellosen Zuspitzung der Militarisierung von Aussenpolitik fuehrt.
Die Welt wird augenblicklich neu aufgeteilt. Es wird zum ersten Mal in der Geschichte keinen Winkel der Erde mehr geben, der nicht unter einem der regionalen Militaeroberkommandos der USA steht. Fuer die Verteidigung Nordamerikas wird ein militaerisches Oberkommando voellig neu eingerichtet. Die Zustaendigkeit des Oberkommandos Europa, dem bereits jetzt der groesste Teil Afrikas untersteht, wird kuenftig erstmals auch den ehemaligen Konkurrenten Russland umfassen, zum Pazifischen Oberkommando kommt die Antarktis hinzu.
Unveraendert bleiben die Zustaendigkeiten fuer Mittel- und Suedamerika sowie fuer Nordostafrika, Persischer Golf, Zentralasien und Pakistan.
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F: Das ist die militaerische Seite, dennoch: Aus dem, was Sie eingangs gesagt haben, laesst sich die These ableiten, dass ohne einen Blick auf die US-Wirtschaft die derzeitige Militaerpolitik der US-Regierung nicht zu verstehen ist.

Das ist richtig: Obwohl die USA weltweit rund die Haelfte aller Auslandsdirektinvestitionen taetigen, sieht es in der Gesamtschau derzeit sehr duester aus. Winfried Wolf wird zum Glueck nicht muede, immer wieder auf die Grunddaten der US-Wirtschaft hinzuweisen. Nach fuenf Jahren Haushaltsueberschuss wird das am 30. September 2002 endende US-Wirtschaftsjahr mit einem Minus von 165 Milliarden US-Dollar schliessen. Die per Gesetz auf 5590 Milliarden Dollar festgelegte Obergrenze fuer die oeffentliche Verschuldung musste im Juni 2002 – mit Verweis auf hoehere Gewalt – angehoben werden. Die Schulden der privaten Haushalte liegen aktuell bei 108 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, was einen Spitzenwert innerhalb der OECD-Staaten darstellt. Das Nettovermoegen der privaten Haushalte, bereinigt um die Inflation, sank von einem Spitzenwert im ersten Quartal 2000 bis zu seinem vorlaeufigen Tiefpunkt im dritten Quartal 2001 um zirka 400 Milliarden Dollar. Wegen der weltweiten Konjunkturschwaeche und der Abwertung des Dollars vergroesserte sich das US-Leistungsbilanzdefizit im ersten Quartal 2002 auf ein Rekordminus von 112 Milliarden Dollar. Schon seit vielen Jahren krankt die US-Wirtschaft daran, dass sie unverhaeltnismaessig mehr Waren importiert als exportiert.
Japanische Anleger halten rund ein Drittel aller US-Staatsanleihen. Haelt die Krise in Japan weiter an und wird dieses Kapital in Zukunft entweder an der asiatischen Heimatfront oder im zunehmend lukrativeren Euroland angelegt, geraet die US-Wirtschaft noch tiefer ins Trudeln.
Wer sich dies alles nuechtern vor Augen haelt, kommt wohl nicht um die Erkenntnis umhin, dass die Vereinigten Staaten ein wirtschaftlicher Koloss auf toenernen Fuessen sind.

F: Vor einigen Monaten wurde von offizieller Seite verkuendet, es sei gelungen, Afghanistan weitgehend zu befrieden, die politischen Zustaende haetten sich stabilisiert. In letzter Zeit ist unter anderem von Bundeskanzler Gerhard Schroeder zu hoeren, der Krieg sei noch lange nicht gewonnen, was dem zunaechst gezeichneten Bild widerspricht. Steht vor diesem Hintergrund der Krieg in Afghanistan und der moeglicherweise bevorstehende Feldzug gegen den Irak fuer zukuenftige Szenarien, zu denen es dann auch gehoert, eine "Einstimmung der Oeffentlichkeit" auf einen "viele Jahre dauernden Feldzug" (Bush) vorzunehmen – als Abkehr von zeitlich befristeten Militaerinterventionen?

Bezeichnend fuer die Intensitaet des bisherigen Krieges in Afghanistan ist, dass dort offensichtlich solche Mengen von Munition, insbesondere von Praezisionswaffen, verschossen worden sind, dass die erforderlichen Mindestmengen fuer einen Angriff auf den Irak trotz Rund-um-die-Uhr Produktion im Drei-Schicht-Betrieb erst jetzt wieder allmaehlich zur Verfuegung stehen.
Ein anderer Aspekt ist ebenfalls wichtig: Wurde im Vorfeld der Bombardierung Afghanistans noch der Versuch gemacht, durch die Ausrufung des NATO-Buendnisfalles und der Einbeziehung der UNO die Voelkerrechtswidrigkeit des konkreten Vorgehens zu kaschieren, stehen wir nun vor dem drohenden Irak-Krieg vor einem neuen Phaenomen: dem voellig willkuerlichen Praeventivkrieg. Joerg Fisch, renommierter Geschichtsprofessor an der Universitaet in Zuerich, bezeichnete in der Weltwoche den drohenden Irak-Krieg als verbotenen Angriffskrieg und als internationales Verbrechen. Dem ist nichts hinzuzufuegen. Was dies fuer jeden einzelnen Soldaten bedeutet, wuerde er sich an diesem Krieg beteiligen, brauche ich wohl kaum naeher auszufuehren.
Beim Blick nach vorn muessen wir feststellen: Irak verfuegt nachweislich ueber die zweitgroessten Erdoelreserven der Erde, moeglicherweise sogar ueber die groessten. Wenn es der US-Regierung gelingen sollte, ein US-freundliches Regime in Bagdad zu installieren, wuerde im Anschluss daran sicherlich die Oelproduktion Iraks enorm angehoben werden. Dies wuerde die derzeit noch unangefochten dominierende Rolle Saudi-Arabiens auf dem Oelmarkt erheblich schwaechen.
Es ist unverkennbar, dass die – uebrigens wie keine zuvor mit der Erdoelindustrie personell verbundene – US-Regierung die Reduzierung ihrer Abhaengigkeit von Riad anstrebt. In gleichem Masse, wie sich die USA von ihrem bisherigen Hauptversorger Saudi-Arabien unabhaengiger machen moechte, strebt sie als Ersatz russische Oellieferungen an.
Mit den Stationierungen von US-Soldaten in Afghanistan, Pakistan, Kirgisien und Usbekistan sowie den dazugehoerigen Militaerstuetzpunkten hat sich die US-Regierung hervorragende Ausgangsbedingungen fuer noch zu erwartende Verteilungskaempfe mit China, Indien, Russland oder Iran um Oel und Gas geschaffen.

* Clemens Ronnefeldt ist Autor des in diesem Jahr in zweiter Auflage erschienenen Buches "Die neue NATO, Irak und Jugoslawien" und arbeitet als Referent fuer Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versoehnungsbundes. Der Versoehnungsbund hat weltweit rund 100.000 Mitglieder und Beobachterstatus bei der UNO.

Das Interview wurde veröffentlicht in der Wochenendausgabe der jungen Welt vom 7. September 2002


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