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Das irakische Mosaik zerbricht

Verheerendster Anschlag seit dem Sturz Saddam Husseins im Zweistromland / Scharfe Kritik der kurdischen Regionalführung an Regierung in Bagdad

Von Karin Leukefeld *

Bei einer Brückensprengung nördlich von Bagdad, bei Kämpfen in Bakuba, Morden in Kirkuk und Mossul starben jetzt wieder Hunderte Menschen in Irak. Der Vize-Ölminister wurde samt Mitarbeitern entführt. Der schlimmste Anschlag richtete sich gegen die Religionsgemeinschaft der Jesiden.

Es war am späten Dienstagnachmittag, als der Tanklastzug das Dorf Tal Azir erreichte. Die kleine Siedlung liegt unweit der irakisch-syrischen Grenze, die mehrheitlich kurdischen Einwohner zählen zur Religionsgemeinschaft der Jesiden. Vermutlich hatten die Menschen den Tanklastzug schon sehnlich erwartet, denn Benzin ist heutzutage knapp in Irak. Doch die Ladung war nicht zur Hilfe bestimmt, sie wurde – wie fast gleichzeitig noch weitere Fahrzeuge – gesprengt und riss Dutzende von Menschen in den Tod. Während die Bürgermeister von Sinjar und El Baadsch von vier mit Sprengstoff beladenen Lastwagen sprechen, die in Wohngebieten von El Katanijah und El Adnanijah explodiert seien, nennt die US-Armee fünf Autobomben. Vier seien im Busbahnhof von Katanijah explodiert, eine fünfte weiter südlich.

Zahl der Toten steigt auf 400

Nach den verheerenden Selbstmordanschlägen auf die Religionsgemeinschaft der Jesiden im Nordirak ist die Zahl der Todesopfer auf mindestens 400 gestiegen. Dies gab ein Sprecher des Innenministeriums in Bagdad, Abdul-Karim Chalaf, am Donnerstag bekannt. Bei den vier Bombenexplosionen seien insgesamt zwei Tonnen Sprengstoff eingesetzt worden, fügte Chalaf hinzu. Es war das schwerste Attentat seit Beginn des Irak-Krieges im März 2003.
Nachrichtenagentur AP, 16. August 2007


Der dreißigjährige Khadir Schamu gehört zu den Überlebenden, er stammt aus Tal Azir, wo nach seinen Angaben zwei Autobomben explodiert seien. Er berichtet, wie er und sein Freund von der Wucht der Explosion eines Öltanks in die Luft geschleudert worden seien. Er wisse nicht, was mit seinem Freund geschehen sei. Die Menschen hätten mit Händen nach Überlebenden unter den Trümmern der Häuser gegraben. Man finde nicht viel, nur einzelne menschliche Überreste, sagt Bürgermeister Dachil Kassim aus Sinjar. Die Zahl der Toten steige stündlich.

Zu den ersten Helfern gehörte die US-Armee, die in der Region stationiert ist. Bilder von vermutlich beim Militär »eingebetteten« Fotografen zeigen weinende Menschen, die sich an Särge klammern, und Verletzte, die ins Krankenhaus von Dohuk (Nordirak) eingeliefert werden. Unter den Verbänden sind sie kaum zu erkennen. Die kurdische Regionalbehörde brachte ihre Betroffenheit über den »feigen und barbarischen Akt gegen unschuldige Zivilisten« zum Ausdruck und bedankte sich bei den »multi-nationalen Streitkräften«, die so prompt geholfen hätten, die Verletzten und Überlebenden zu bergen. Khalid Salih, Sprecher der Kurdischen Regionalregierung, machte die Regierung in Bagdad verantwortlich. Deren »Nicht-Handeln und ihre Unfähigkeit, die Bevölkerung zu schützen«, hätten so viel Leid über die jesidischen Familien gebracht. »Wir hätten sicherlich für mehr Sicherheit sorgen können, wenn man uns gelassen hätte«, sagte er gegenüber der britischen BBC. Außerhalb ihrer Provinzen dürfen kurdische Sicherheitskräfte nicht agieren.

Die Jesiden waren in Gefahr, das war spätestens bekannt, seit Flugblätter der Gruppe »Islamischer Staat in Irak« in den Ortschaften aufgetaucht waren, in denen die »anti-islamischen« Einwohner vor Angriffen gewarnt worden waren. Es ist unklar, warum danach der Schutz der Gemeinden weder vom irakischen noch vom US-Militär verstärkt wurde.

Nun suchen Journalisten nach Begründungen, warum es gerade diese tolerante religiöse Minderheit getroffen hat, die seit Generationen im ethnisch-religiösen Mosaik Iraks unauffällig lebte. Wie im kleinen Ort Beschika, an der Straße zwischen Mossul und Erbil, wo sich um den Marktplatz herum friedlich eine Kirche, eine Moschee und schließlich der kegelförmige Turm eines jesidischen Gotteshauses gruppieren. Die Stadt war bekannt dafür, dass dort Muslime, Christen und Jesiden jedes Frühjahr gemeinsam das Neujahrsfest feierten. Doch der irakische Norden bleibt von den konfessionellen Brüchen der irakischen Gesellschaft nicht verschont. Im April wurde bekannt, dass eine junge jesidische Frau von ihrer Familie gesteinigt wurde, weil sie sich in einen Muslim verliebt hatte und zum Islam konvertieren wollte. Die Tötung der jungen Frau löste eine Gewaltwelle unter den involvierten Familien aus. Das zeigt, dass die Gewalt in Irak viele Ursachen hat, persönliche Rache oder auch politische Ambitionen.

Die Jesiden sind vielleicht auch Ziel, weil sie bei dem geplanten Referendum Ende des Jahres mit den Kurden für einen Anschluss Kirkuks an die kurdischen Gebiete stimmen könnten. Wieder andere Stimmen sagen, die Säuberungswelle der US-amerikanischen und irakischen Truppen in Bagdad und Umgebung habe die islamistischen Gruppen der Al Qaida, zu denen auch die Gruppe »Islamischer Staat in Irak« gehören soll, in die südlichen und nördlichen Provinzen vertrieben. Ob man die Urheber des Anschlags auf die Jesiden finden wird, bleibt fraglich. Sicher ist, dass die schon hohe Zahl der Kriegsflüchtlinge aus Irak weiter steigen wird.

Lexikon: Wer sind die Jesiden?

Die Jesiden sind eine Religionsgemeinschaft kurdischer Abstammung, sie leben in den kurdischen Siedlungsgebieten in Irak, Syrien, Türkei und Iran. Der Name wird abgeleitet aus dem persischen Wort »yezdan«, was Schöpfer, Gott bedeutet. Ihre Gesamtzahl geben die Jesiden mit 800 000 an, rund 550 000 sollen in Nordirak leben. Dort befindet sich nahe der Stadt Dohuk ihr religiöses Zentrum »Lalisch«.
Jesiden verstehen sich als religiöse Minderheit unter den mehrheitlich sunnitisch-muslimischen Kurden. Die oft als oppositionell geltenden Jesiden wurden oft verfolgt, rund 40 000 Jesiden bilden heute in Celle (Hannover) die größte jesidische Exilgemeinde. Die jesidische Religion gilt als monotheistisch und hat ihre Wurzeln vermutlich im indisch-persischen Mithraskult, 2000 Jahre vor Christus. Im jesidischen Verhaltenskodex finden sich Elemente des Zoroastrismus, der jüdischen, christlichen und islamischen Religionen.
Die Jesiden gelten als tolerant, nach eigenem Verständnis ist ihre wichtigste Lebensaufgabe, als guter Mensch zu leben, wofür sie von Gott mit den Fähigkeiten zu hören, zu sehen und zu denken bestens ausgestattet wurden. Die religiöse Struktur der Jesiden kennt eine Art Kastensystem, in dem verschiedene Aufgaben verteilt sind. Der Engel Pfau, »Tausi Melek«, der von Gott als Oberhaupt der sieben Engel auserwählt wurde, gilt als Stellvertreter Gottes. Nach ihrem religiösen Verständnis gibt es nicht »Gut« und »Böse«, Licht oder Feuer haben reinigende allmächtige Kraft und spielen eine wichtige Rolle in den religiösen Ritualen. Darum werden sie oft als »Feueranbeter« bezeichnet. (kl)



* Aus: Neues Deutschland, 16. August 2007


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