"Aber wir sind alle Iraker"
Ein Versuch, die Stimmung von Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten zu ergründen
Von Rainer Rupp
Eine »Rebellion in den Herzen« sagt der
katholische Bischof
von Bagdad für den Fall eines neuen
Irak-Krieges der USA
voraus.
Er stammt in gerader Linie vom Propheten
Mohammed ab. Ein
großer, Ehrfurcht gebietender Mann mit
sorgsam getrimmtem Bart
erwartete mich, als ich in den Nebenraum der
großen Moschee von
Basra trat. Imam Abdul Redah al Mussawi ist
der religiöse Führer
der irakischen Schiiten, die im Süden des
Landes die Mehrheit der
Bevölkerung stellen. Gegen Ende der Operation
»Wüstensturm«,
des 1991 von den USA angeführten Krieges gegen Irak, war die Großstadt
Basra heiß umkämpft
worden. Schiitische Separatisten, die den Süden Iraks mit dem von
schiitischen Ajatollahs regierten Iran
vereinigen wollten, hatten im Vertrauen auf die von den USA zugesagte
Unterstützung revoltiert. Als die
Hilfe Washingtons auf Druck Saudi-Arabiens jedoch ausblieb, wurde der
schiitische Aufstand von
Saddam Husseins Republikanischen Garden blutig niedergekämpft. Teile
ganzer Stadtviertel wurden
zerstört, teilweise auch die Moschee, um die sich der Widerstand damals
konzentrierte.
Schiitische Erfahrungen
Die sichtbaren Spuren dieser Kämpfe sind längst beseitigt, aber wie es
in den Köpfen der Schiiten
aussieht, ist derzeit Gegenstand eifriger Spekulationen. Werden etwa 10
000 schiitische Kämpfer
erneut zu den Waffen greifen, um den geplanten USA-Angriff gegen Irak zu
unterstützen, wie sich das
Washington erhofft, oder werden sie sich in Anbetracht ihrer schlechten
Erfahrungen mit den »Partnern«
zurückhalten, zumal ihr Vorbild Iran von Washington inzwischen zur
»Achse des Bösen« gezählt wird?
Gespräche mit Schiiten in Bagdad und Basra vermitteln den Eindruck, als
ob sie – konfrontiert mit
dem drohenden Überfall der US-Amerikaner – wie die meisten anderen
Iraker reagieren würden,
nämlich als Patrioten, die entschlossen scheinen, ihr Land mit der Waffe
in der Hand zu verteidigen.
Letzteres wurde auch im Gespräch mit dem Imam von Basra deutlich.
Eine Aufteilung der irakischen Bevölkerung in Schiiten und andere ließ
er nicht zu. Auf die Frage, ob die
Schiiten, insbesondere auch im iranisch-irakischen Krieg, nicht mehr als
alle anderen gelitten hätten,
entgegnete er, dass »alle Menschen in Irak durch den Krieg sehr gelitten
und viel verloren haben,
sowohl physisch als auch psychisch«. Die Schuld am Krieg wollte der Imam
weder bei Iran noch bei
Irak suchen, denn der Krieg sei »von außen entfacht und geschürt«
worden. Mir fielen dabei Henry
Kissingers Worte ein, der seinerzeit bedauert hatte, dass »es in diesem
Krieg keine zwei Verlierer
gab«.
Für den Fall, dass die US-Amerikaner einen neuen Krieg anfangen,
erwartet der Imam, dass die
»gesamte islamische und arabische Welt sich auf die Seite Iraks schlagen
wird«. Auch in seinem
Gottvertrauen ließ er sich nicht erschüttern: »Zwar haben die
Vereinigten Staaten eine fantastische
Technologie, aber wir haben unseren Glauben in Allah.« Auf die Frage,
wie die Position der Schiiten
wäre, antwortete Imam Mussawi vorwurfsvoll: »Die Schiiten sind Teil der
irakischen Bevölkerung. Warum
machen Sie diese Unterscheidung zwischen Schiiten und Irakern? Es gibt
da keine Unterscheidung.
Die irakische Bevölkerung setzt sich aus Menschen zusammen, die aus
unterschiedlichen Religionen
und ethnischen Gruppen stammen, aber wir sind alle Iraker. Die Identität
eines jeden ist durch seinen
Pass bestimmt, durch seine Zugehörigkeit zur Nation der Iraker.«
Genau dieses Argument sollte ich eine Woche später in der Synagoge von
Bagdad bei einem Gespräch
mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der auf etwa 60 zumeist ältere
Menschen
zusammengeschrumpften jüdische Gemeinde hören.
Mein Interesse an Gesprächen mit Vertretern religiöser und ethnischer
Minderheiten war von dem
Gedanken getragen, dass man in diesen Kreisen wohl den besten Eindruck
von der Stimmung der
»anders Denkenden«, von ihrer Behandlung und ihren Freiräumen gewinnen
würde.
Auf der Krebsstation im Kinderkrankenhaus von Basra nahm mich eine junge
Ärztin beiseite und stellte
sich in gutem Englisch als irakische Christin vor. Nein, eine
Diskriminierung erfahre sie weder am
Arbeitsplatz noch an ihrem Wohnort. Allerdings habe sie sich als
Christin – und mit ihr viele andere
Christen ihrer Gemeinde – die Selbstverpflichtung auferlegt, den
»anderen Menschen« in Bezug auf
Hilfeleistung und Dienst am Nächsten ein Vorbild zu sein. Die Einladung,
zur Sonntagsmesse in ihre
Kirche zu kommen, nahm ich an. In Irak, mit seinen knapp über 20
Millionen Einwohnern, soll es noch
insgesamt 800 000 Christen verschiedener Glaubensrichtungen geben.
Ein schweres Gewitter zog sich über Basra zusammen, als ich anderntags
die chaldäisch-katholische
Kirche besuchte. Ventilatoren konnten die schwüle Hitze im Inneren kaum
lindern. Trotzdem war die
Kirche voll, zumeist von Frauen, die teils im modernen europäischen Stil
gekleidet waren. Der
Gottesdienst fand auf Arabisch statt, gebetet wurde zu »Allah«, dem
einzigen Gott, zu dem auch die
Muslime beten. Im Vorgarten der Kirche spielten derweil unter Aufsicht
eines Gemeindemitglieds die
Kinder, die offensichtlich nicht zum Gottesdienst gezwungen wurden.
Im Vorgarten fand nach der Messe auch das Gespräch mit dem Bischof der
Gemeinde statt, der sich
sehr über das Interesse freute. Nein, eine Diskriminierung gebe es
nicht. Die chaldäische Kirche sei
eine staatlich anerkannte Kirche und hätte die gleichen Rechte und
Pflichten wie alle anderen
Glaubensgemeinschaften Iraks. Allerdings beklagte er die gegen das Land
verhängten Sanktionen, die
die Menschen zu ersticken drohten. Unterstützung komme jedoch von der
deutschen Hilfsorganisation
»Kirche in Not«.
Die desolate wirtschaftliche Lage sei auch der Hauptgrund für das
Schrumpfen seiner Kirchengemeinde,
denn viele Gemeindemitglieder seien ausgewandert, nach Europa, Amerika
oder in andere arabische
Länder, dorthin, wo man bereits Verwandte hatte. Der bescheidene
Wohlstand der Gemeinde beruhe
zum größten Teil auf den Geldüberweisungen der Auswanderer, deren Erfolg
im Ausland durch die gute
Ausbildung der Christen begünstigt werde. Wie bei allen Minderheiten
üblich, legt man offensichtlich
auch in den christlichen Gemeinden Iraks großen Wert auf die Ausbildung
der Kinder.
Auch der römisch-katholische Bischof von Bagdad beklagte sich darüber,
dass seine Gemeinde auf
lediglich 5000 Seelen geschrumpft ist. Vor dem Golfkrieg habe sie noch
einige Zehntausende gezählt,
wobei es sich jedoch zu einem guten Teil um in Irak wohnende, aus dem
Westen stammende
Ausländer gehandelt hatte. Aber auch die einheimischen Gemeindeglieder
seien größtenteils
ausgewandert. Sie hätten Verwandte überall auf der Welt, erklärte der
vom Vatikan eingesetzte
Erzbischof von Bagdad, der aus Libanon stammende Monsignore Schlemann.
Die Frage nach der freien
Religionsausübung bejahte der Bischof, mit der Einschränkung: »Unsere
Freiheit ist ›intra muros‹«, also
innerhalb der Mauern des Kirchenanwesens. Religiöse Prozessionen durch
die Straßen der Stadt seien
nicht zugelassen.
Das Embarge trifft alle
Ob er im Verhalten der muslimischen Bevölkerung gegenüber den Christen
Veränderungen festgestellt
habe, wollte ich wissen, denn schließlich gingen die Kriegsdrohungen
gegen Irak von den christlichen
Nationen USA und Großbritannien aus. Der Bischof winkte ab. In der
Geschichte Iraks habe es »noch
nie Religionskriege« gegeben. Auch religiös bedingte Zusammenstöße seien
»extrem selten« gewesen.
Aber er wollte nicht ausschließen, dass »so was mal passieren« könnte.
In Tageszeitungen tauchten
einzelne Beiträge auf, die ihn mit Sorge erfüllten, wie der Artikel, der
dem Papst vorwarf, die Zionisten in
Israel zu unterstützen.
Die Christen seien vom Embargo ebenso betroffen wie der Rest der
Bevölkerung. Es habe in »doppelter
Hinsicht eine verheerende Auswirkung auf die Menschen«. Da seien nicht
nur die schlimmen
wirtschaftlichen Folgen, sondern auch die psychologischen, die einer
»Erniedrigung der gesamten
Bevölkerung« gleichkämen. Dennoch wisse man, dass die Sanktionen nicht
der christlichen
Bevölkerung der USA zuzuschreiben sind, sondern der Regierung, »die aus
politischen und
geostrategischen Gründen nicht zu Kompromissen mit Irak bereit ist«.
An einen bevorstehenden Krieg wollte der Bischof lieber »nicht denken«.
Er sinnierte: »Viele Menschen
haben Kinder und sie erinnern sich genau an die 40 Bombentage und
-nächte des ersten
Bush-Krieges«, wie er den Golfkrieg nannte. Zu einem möglichen zweiten
Bush-Krieg fügte er sorgenvoll
hinzu: »Wenn diese kaltblütig geplante Aggression tatsächlich über die
Menschen losbricht, wird das
eine Rebellion in ihren Herzen auslösen.« Es müsse doch »andere
Möglichkeiten geben, den Konflikt
zu lösen«.
Aus: Neues Deutschland, 10. Juli 2002
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