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Machtkampf in Bagdad voll entbrannt

Amtsführung von Ministerpräsident Maliki ruft immer neue Widersacher auf den Plan

Von Karin Leukefeld *

Kaum haben die USA-Truppen Irak verlassen, liefern sich die Parteien einen offenen Machtkampf: zwischen Vertretern von Schiiten und Sunniten, zwischen Begünstigten des US-Militärs und Zukurzgekommenen, letztlich auch zwischen um Unabhängigkeit Bemühten und Washingtons Vasallen. Das Machtvakuum nutzen Terroristen für blutige Anschläge, denen mehr als 70 Menschen zum Opfer fielen.

Die politische Krise in Irak verschärft sich. Nachdem die Liste Al Irakija aus Protest gegen die Amtsführung von Ministerpräsident Nuri al-Maliki ihre Mitarbeit im Parlament eingestellt hat, fordert nun die Liga der Gerechten die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Die Liga steht dem religiösen Führer Muktada Sadr nahe und stellt den größten Block schiitischer Abgeordneter.

Sadr, langjähriger Kritiker Malikis, hatte durch seine Zustimmung erst dessen Wahl zum Ministerpräsidenten ermöglicht. Bei den Parlamentswahlen im März 2010 hatte Malikis Partei der Rechtsstaatlichkeit hinter der Irakija-Liste nur Platz 2 belegt. Maliki erkannte den Irakia-Wahlsieg aber nicht an und war auch nicht bereit, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Stattdessen erstritt er in monatelangem Tauziehen mit Sadrs Unterstützung seine neuerliche Machtübernahme. Mit Ausnahme des kurdischen Blocks haben die meisten Parteien, die Maliki zur Macht verhalfen, ein religiöses Programm und gehören zur Gruppe der schiitischen Muslime. Deshalb wird seine Regierung häufig als »schiitisch« und die derzeitige Krise als »Machtkampf zwischen Schiiten und Sunniten« beschrieben. Die Liste Al Irakija wird dagegen als »sunnitisch« charakterisiert.

In beiden Blöcken arbeiten allerdings Politiker verschiedener Glaubensrichtungen. Vorsitzender von Al Irakija ist Ijad Allawi - wie Maliki ein Schiit. Anders als der Premier verfolgt Al Irakija jedoch einen säkularen Kurs. Nach Meinung von Beobachtern war es diese Linie, die der Liste 2010 den Wahlsieg brachte.

Kritik richtet sich gegen Malikis Amtsführung und seine Machtfülle. Die Ämter von Verteidigungs-, Sicherheits- und Innenminister hat der misstrauische Premier gar nicht erst besetzt, er kontrolliert diese Bereiche selbst. Vizepremier Saleh al-Mutlak - Al-Irakija-Politiker - kommentierte dies vor Tagen, indem er klagte, die Amerikaner hätten in Irak einen Diktator hinterlassen, der »schlimmer als Saddam Hussein« sei. Maliki leitete daraufhin ein Amtsenthebungsverfahren gegen Mutlak ein.

Auch Vizepräsident Tarek al-Hashemi bekommt den Zorn des Ministerpräsidenten zu spüren. Maliki beschuldigt ihn, mit Todesschwadronen zu kooperieren und Mordanschläge in Auftrag gegeben und finanziert zu haben. Er ließ einen Haftbefehl gegen Hashemi ausstellen.

Todesschwadronen agieren seit 2005 in Irak. Im Januar 2005 berichtete das US-Magazin »Newsweek« von Plänen des Pentagons, mit derartigen paramilitärischen Einheiten gegen Besatzungsgegner vorzugehen. Der Plan wurde bekannt unter dem Namen »Option Salvador«. In den 80er Jahren hatte die CIA Todesschwadronen für verbündete Regierungen in Zentralamerika finanziert.

Hashemi hält sich inzwischen im autonomen Kurdengebiet in Nordirak auf, wo er unter dem persönlichen Schutz des irakischen Präsidenten und Kurdenführers Dschalal Talabani steht. Irakischen Sicherheitskräften ist es nicht gestattet, die Autonomiegebiete zu betreten. Maliki warnte die Kurden jedoch davor, Haschemi fliehen zu lassen, das werde »Probleme geben«. Der Vizepräsident müsse nach Bagdad ausgeliefert werden, um sich vor Gericht zu verantworten. Der Beschuldigte wiederum wirft Maliki vor, ihn und andere Politiker zu verfolgen, um politische Widersacher auszuschalten.

Zu den jüngsten Anschlägen in Bagdad bekannte sich unterdessen eine mutmaßlich Al Qaida nahestehende Gruppe namens »Der islamische Staat Irak«. Sie habe auf Internetseiten die Führung des Landes kritisiert, meldete die Agentur Sumaria News.

Irak 2003-2011 - Zahlen und Fakten

  • Im März 2003 begann der »Operation Iraqi Freedom« genannte Krieg mit der Invasion durch die USA, Großbritannien und verbündete Staaten - ohne Legitimation des UN-Sicherheitsrates. Zur Begründung wurde die Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen angeführt, die nie gefunden wurden.
  • Im Mai 2003 erklärte US-Präsident George W. Bush die »größeren Kampfhandlungen« für beendet. Barack Obama erklärte im August 2010 die Kampfeinsätze der US-Truppen in Irak für komplett abgeschlossen.
  • Auf dem Höhepunkt des Konflikts waren bis zu 171 000 Mann für die Koalitionstruppen im Einsatz, im Frühjahr 2010 noch 65 000 US-Soldaten.
  • Nach Schätzungen gaben die USA mehr als eine Billion US-Dollar (715 Milliarden Euro) für den Irak-Krieg aus.
  • Das Pentagon geht von 4421 getöteten US-Soldaten seit 2003 aus, knapp 32 000 weitere wurden verwundet.
  • Mindestens 9500 irakische Soldaten und Polizisten kamen ums Leben. Mehr als 113 500 irakische Zivilisten wurden getötet.
  • Seit 2003 gab es rund 2300 Terroranschläge. Dabei wurden etwa 21 000 Menschen getötet und mehr als 44 000 verletzt.
dpa/nd



* Aus: neues deutschland, 28. Dezember 2011


Das Zweistromland bleibt ein Schlachtfeld

Obama will die Verantwortung der USA für den Zustand Iraks endgültig loswerden

Von Max Böhnel, New York **


Nach dem offiziellen Abzug der USAArmee aus Irak verschiebt sich die Washingtoner Einflussnahme vom Militär zum Außenamt und zum Auslandsgeheimdienst CIA. Irak wird zum innenpolitischen Thema.

Die US-amerikanische Interventionspolitik in Irak beschränkt sich nach dem Truppenabzug vor zwei Wochen auf Ermahnungen – meint jedenfalls die »New York Times«. Die Gewaltausbrüche in den vergangenen Tagen veranlassten die politische Führung in Washington dazu, die Vertreter der Bagdader Regierungskoalition per Telefon zur friedlichen Beilegung des jüngsten Konflikts aufzurufen. Da sich Präsident Barack Obama auf Weihnachtsurlaub in Hawaii befindet, fällt die Telefondiplomatie Vizepräsident Joseph Biden zu. Er sei seit Tagen in Dauerkontakt mit Vertretern von Schiiten, Sunniten und Kurden, hieß es. Das Weiße Haus hält laut »New York Times« den Kurdenführer Dschalal Talabani am besten geeignet, ein Treffen der zerstrittenen Führungseliten einzuberufen.

Washington hatte noch während des Truppenabzugs dem irakischen Ministerpräsidenten Nuri Kamal al-Maliki zu verstehen gegeben, dass die Regierungskoalition erhalten bleiben müsse. Der Zustand des Bündnisses aus Schiiten, Sunniten und Kurden werde direkte Auswirkungen auf die »Färbung« der bilateralen Wirtschafts-, Sicherheits- und diplomatischen Beziehungen haben, wusste die Zeitung aus Kreisen der US-Regierung zu berichten. Damit machte Washington deutlich, dass man dort Negativschlagzeilen aus Irak vermeiden will.

Laut offizieller Lesart – von Präsident Barack Obama am 14. Dezember in seiner Abzugsrede verkündet – befindet sich Irak jetzt in den Händen der Iraker. Die USA hätten keine Absicht, noch einmal Truppen ins Zweistromland zu entsenden. Bei dieser Haltung werde man bleiben, »selbst wenn Irak im Bürgerkrieg versinkt «, bekräftigten Regierungsvertreter gegenüber Massenmedien in den vergangenen Tagen.

Dabei behalten sich die USA auch nach dem offiziellen Abzug ihrer Truppen eine beträchtliche Personalpräsenz in Irak vor. Ein »Office of Security Cooperation«, im Bagdader Botschaftskomplex untergebracht und bis zu 200 Mann stark, wird das irakische Militär trainieren. Und die Botschaft selbst wird die größte »diplomatische « Mission der Welt sein. Von ihren 16 000 Angestellten sind allerdings die wenigsten Diplomaten, ein erheblicher Teil besteht dagegen aus Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste. Nach Beobachtern wird eine der wichtigsten Aufgaben dieser Botschaft darin bestehen, die iranische Einflussnahme auf Irak zu bekämpfen. Irak bleibe als »Schlachtfeld« zwischen Iran und den USA bestehen, hieß es im Internetmagazin »Salon«.

Die Verantwortung für die »Sicherheit « verschiebt sich nach dem Truppenrückzug vom Verteidigungsministerium auf den Auslandsgeheimdienst CIA. Ein Regierungsbeamter steckte der »New York Times« nur so viel, dass die CIA im Gegensatz zum Militär ihre Stärke in Irak nicht reduzieren werde. Unter dem Etikett »Antiterror « könnten die USA also durchaus auch militärische Operationen wieder aufnehmen, dieses Mal unter der Führung des Geheimdienstes. Ein Präzedenzfall war die Tötung Osama bin Ladens – ausgeführt von Elitesoldaten der US Navy, aber unter CIA-Führung. Nötig ist dazu nur das grüne Licht des Präsidenten. Darüber hinaus kann die CIA örtliche Kräfte für Operationen anheuern – und macht sich dabei äußerlich nicht einmal die Finger schmutzig.

Wie viele »zivile« USA-Staatsbürger über die Botschaft und den Geheimdienst hinaus in Irak tätig bleiben, ist nicht bekannt. Aber die privaten amerikanischen Söldnerfirmen, die bisher dem Militär zuarbeiteten, werden sich nicht zurückziehen, solange das Geschäft lukrativ ist. Beobachter schätzen die Zahl der verbleibenden Söldner in Irak auf über 5000.

Unterdessen befürchten Berater Obamas, dass sich die zunehmende Gewalt in Irak schlecht auf Obamas Wahlkampf auswirken könnte. Der Präsident könne wegen des Rückzugs und des hinterlassenen Machtvakuums dafür verantwortlich gemacht werden. Sein Herausforderer von 2008, der republikanische Senator John Mc- Cain, sagte Ende vergangener Woche im Fernsehen bereits, die USA würden »einen teuren Preis dafür bezahlen«, dass Obama keine Truppenkontingente in Irak beließ.

** Aus: neues deutschland, 28. Dezember 2011


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