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Machtkampf in Bagdad

Vor dem US-Truppenabzug aus dem Irak versucht Regierungschef Al-Maliki, seine Position zu festigen. Provinzen drängen auf Autonomie

Von Karin Leukefeld *

Nach achteinhalb Jahren haben die US-Truppen am 1. Dezember die Militärbasis »Sieg« verlassen und »Camp Victory« den Irakern übergeben. In Hochzeiten der Besatzung waren dort bis zu 46000 US-Soldaten stationiert. Die militärische Kleinstadt vor den Toren Bagdads war Mitte April 2003 besetzt worden und umfaßte auch die Basen »Stryker« und »Liberty«.

Der Abzug der US-Truppen aus dem Irak ist begleitet von wachsender Gewalt und Spannungen. Sowohl Opposition und Regierung als auch die verschiedenen Volks- und Religionsgruppen liegen miteinander im Streit. Für Unmut sorgte Ministerpräsident Nuri Al-Maliki kürzlich mit Massenfestnahmen in der nördlichen Provinz Salahaddin. Drei Tage lang hatten die Sicherheitskräfte mehr als 600 Personen festgesetzt, denen sie vorwarfen, mit Aufständischen zusammenzuarbeiten. Beobachter meinen, Maliki wolle seine Autorität in der Provinz manifestieren, um nach dem Abzug der US-Truppen Kritiker der Zentralregierung einzuschüchtern. Fast alle Festgenommenen waren Sunniten. Maliki, der eine von schiitischen religiösen Parteien dominierte Regierung führt, warf ihnen vor, Anhänger oder Mitglieder der verbotenen Baath-Partei des gestürzten und hingerichteten Präsidenten Saddam Hussein zu sein. Sechs Monate habe man die Festgenommenen verfolgt und observiert, die angeblich einen Putsch geplant hätten, hieß es im Innenministerium. Man habe festgestellt, daß die Verhafteten Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Qaida gehabt hätten, die sie »finanziell und logistisch unterstützen«, begründete der stellvertretende Innenminister Adnan Al-Asadi die Maßnahmen.

Fast zeitgleich hatte das irakische Bildungsministerium in Tikrit 140 Angehörige der Universität entlassen, angeblich auf Anordnung der sogenannten Entbaathifizierungskomitees in Bagdad. Dieses Gremium ist höchst umstritten, verfügt aber dennoch innenpolitisch weiterhin über großen Einfluß. Immer wieder hat es regierungskritische Politiker und Beamte denunziert. Ali Al-Jibouri, Professor für politische Wissenschaften an der Bagdad Universität, meint, das Vorgehen werde auf Dauer »Religionsstreitigkeiten und Bürgerkrieg« unter den Irakern auslösen.

Als große Bevölkerungsteile aus Protest gegen die Massenfestnahmen in Salahaddin eine Demonstration ankündigten, befahl Premier Maliki der in Tikrit stationierten 4. Armeedivision, jeden Protest zu unterbinden. Eigentlich fällt es in den Verantwortungsbereich des Gouverneurs einer Provinz, eine Demonstration zu genehmigen.

In einer »Botschaft« an die Zentralregierung in Bagdad erklärte der Provinzrat von Salahaddin mittlerweile symbolisch die Autonomie und begründete den Schritt mit den »anhaltenden, willkürlichen Festnahmen ohne juristische Grundlage«. In der irakischen Verfassung ist vorgesehen, daß Provinzen – wie die drei kurdischen im Norden des Landes – einen Autonomiestatus erhalten, sofern die Bevölkerung sich in einer Volksabstimmung dafür ausspricht und das irakische Gesamtparlament den Status bestätigt. Die südirakischen Provinzen Basra und Wasit haben ebenfalls einen entsprechenden Antrag in Bagdad gestellt, bisher aber noch keine Antwort erhalten. Während in den beiden südlichen Provinzen vor allem irakische Schiiten leben, ist die Bevölkerung in Salahaddin mehrheitlich sunnitisch. Nach UN-Angaben leben 39,9 Prozent der rund 1,2 Millionen Bewohner dieser Provinz unter der Armutsgrenze von 2,2 US-Dollar am Tag. Die Arbeitslosigkeit beträgt rund 18 Prozent. Die Beziehungen zwischen Bagdad und den Provinzen seien deutlich zerrüttet, meint Joost Hiltermann in einer Studie für die von der EU finanzierte International Crisis Group. Wie die süd­irakischen Provinzen fühle man sich auch in Salahaddin von der Zentralregierung in Bagdad vernachlässigt. Weiterer Streit ist programmiert.

Maliki wies die Autonomieerklärung des Provinzrates zurück und sagte, in Salahaddin versuchten »Neo-Baathisten«, ihn herauszufordern. Demonstranten reagierten wiederum mit dem Vorwurf, Maliki selber entfache religiöse Konflikte und verhalte sich »wie ein Diktator«.

Unbehagen löste wiederum eine Stellungnahme des Präsidenten der kurdischen Autonomieregion, Masud Barzani, aus. Im November hatte dieser erklärt, die Kurden seien bereit, den Preis für ihre Unabhängigkeit zu bezahlen, »auch wenn es Krieg bedeutet«. Barzani machte Maliki direkt dafür verantwortlich, daß bisher das Referendum über die Zukunft der Erdölstadt Kirkuk nicht abgehalten worden sei. Mit der mehrmals verschobenen Volksabstimmung wollen die Kurden Kirkuk den Autonomiegebieten einverleiben. Die Metropole gilt als Sinnbild des einstigen irakischen Mosaiks, wo Kurden, Turkmenen, Araber, Christen, Muslime und Jesiden friedlich zusammenlebten.

Das US-Militär im Irak warnt derweil, daß nach dem Abzug Ende 2011 die iranischen Al-Quds-Brigaden wie auch Reste des Al-Qaida-Netzwerks im Zweistromland wieder an Macht gewinnen könnten. Rund 520 US-Soldaten verlassen täglich den Irak, bis zu 5000 Lastwagen transportieren wöchentlich US-Ausrüstung nach Kuwait. Reste der Ausrüstung würden dem Irak übergeben oder verblieben unter Kontrolle der US-Botschaft in Bagdad, heißt es. Die Botschaft – mit 16000 Mitarbeitern die größte und teuerste diplomatische Vertretung Washingtons weltweit – wird zukünftig Aufgaben der US-Armee übernehmen.

* Aus: junge Welt, 3. Dezember 2011


Schuldspruch aus Kuala Lumpur **

Das Kriegsverbrechertribunal von Kuala Lumpur (Kuala Lampur War Crimes Commis­sion – KLWCC) hat die früheren Regierungschefs der USA und Großbritanniens, George W. Bush und Anthony Blair, für ihre Beteiligung am Krieg gegen den Irak für schuldig befunden. Zwei Jahre hatte das von einer lokalen Nichtregierungsorganisation ins Leben gerufene Tribunal ermittelt. Während der viertägigen Verhandlung (18.–22. November) kamen die fünf Richter einstimmig zu dem Schluß, daß Bush und Blair sich im Irak-Krieg 2003 und bei der anschließenden Besatzung der Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord schuldig gemacht haben. Beide Politiker waren eingeladen worden, sich gegen die Anklage zu verteidigen. Doch ebenso wie internationale Leitmedien ignorierten Bush und Blair die Verhandlung.

Nicht ignoriert wurde die Arbeit des Tribunals hingegen von Richard Falk, dem UN-Sonderbeauftragten für die Menschenrechte in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten, der am 1. Dezember einen Bericht über das Verfahren vorgelegt hat. Zwar habe der Schuldspruch des Tribunals keine bindende Wirkung, wie Schuldsprüche von Gerichten eines souveränen Staates oder des Internationalen Strafgerichtshofs, räumte Falk ein. Doch habe sich das Gremium unter Vorsitz der international anerkannten Richter streng an juristische Standards gehalten, so daß das Urteil jenseits einer moralischen Verantwortung der Beschuldigten Bestand habe.

Das Tribunal wird George W. Bush und Tony Blair in das Strafregister des Kriegsverbrechertribunals in Kuala Lumpur eintragen. Die KLWCC-Untersuchungsergebnisse über Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der beiden Politiker werden an den Internationalen Strafgerichtshof weitergeleitet. Die UN-Vollversammlung soll aufgefordert werden, eine Resolution mit der Forderung nach dem Ende der US-Besatzung im Irak zu verabschieden. Außerdem werden die Ergebnisse an alle Unterzeichnerstaaten des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes weitergeleitet sowie an alle Staaten, die die Verfolgung von Kriegsverbrechen an nationalen Gerichten zulassen. Der UN-Sicherheitsrat wird zudem aufgefordert, die souveränen Rechte des irakischen Volkes zu gewährleisten.
(kl)

** Aus: junge Welt, 3. Dezember 2011


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