Eine Atempause, die zur Chance werden kann
"... dann werden sich die USA dem Votum der Weltöffentlichkeit beugen"
In der Wochenzeitung "Freitag" äußerte sich Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedensforschung und
Sicherheitspolitik Hamburg, verhalten optimistisch über die Chancen, den drohenden Irak-Krieg doch noch zu verhindern. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Interview, das Hans Thie mit Dieter S. Lutz führte.
FREITAG: Der Irak hat den Bericht über seine Waffenprogramme
abgeliefert. Welche Reaktionen erwarten Sie von den Vereinten
Nationen, vor allem von den USA?
DIETER S. LUTZ: Meine Hoffnung ist, dass der Bericht vollständig
der Öffentlichkeit zugänglich wird. Allerdings soll - so die Ver-
lautbarungen - der Report auch Namen von Zulieferfirmen aus den
USA und Europa enthalten. Ich bin skeptisch, ob wir diese Namen
erfahren werden. Besonders die Amerikaner haben kein Interesse
daran. Im Gegenteil. Darüber hinaus können wir wohl davon ausgehen,
dass die Bush-Regierung weiter Misstrauen schüren und den Wahrheits-
gehalt des Berichts bezweifeln wird. Hat sie Hinweise auf Waffen
und Rüstungsprogramme, so sollte sie ihr Wissen unverzüglich mit
UNMOVIK teilen und nicht eventuelle irakische Fehler oder Lügen
als Vorwand für einen Krieg nehmen. Immerhin - so meine Vermutung -
werden der umfangreiche Bericht und seine Bearbeitung dazu beitragen,
den Krieg hinauszuzögern. Eine Atempause, die als Chance genutzt
werden sollte.
Die Bush-Administration will bekanntlich unbedingt den Irak mit
kriegerischen Mitteln unter ihre Kuratel bringen. Die Begründungen
dürften längst vorbereitet sein. Was vermuten Sie - wie werden die
Amerikaner eine Nichtbefolgung der UN-Resolution "nachweisen"?
Da es sich um Dual-Use-Probleme handelt, also um Technologien oder
Programme, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden
können, gibt es viele Möglichkeiten, um über unterschiedliche
Interpretationen die Situation eskalieren zu lassen. Es gibt aber
auch Stimmen, die von direkten Provokationen durch interessierte
Kreise sprechen. Ein Anschlag auf den Fuhrpark der UN-Inspektoren
zum Beispiel könnte als Anlass zum Krieg genommen werden.
Was passiert, wenn Chefinspektor Blix demnächst feststellt, dass der
Irak sich voll und ganz an alle Verpflichtungen hält?
Viele Äußerungen aus den USA deuten darauf hin, dass Bush den Krieg
will. Wenn aber die Mehrheit der Welt, darunter auch Deutschland
und andere europäische Staaten, standhaft genug sind, werden sich
auch die USA dem Votum der Weltöffentlichkeit beugen. Bush und
seine Crew dürften dann die Verhinderung eines Krieges letztlich
als Erfolg ihre Drohpolitik hinstellen.
Wie neutral kann Blix angesichts der obwaltenden Umstände überhaupt
sein?
Ich habe volles Vertrauen in Blix, seine Kompetenz und Integrität.
Im Kriegsfall werden wahrscheinlich auch von Deutschland aus Luftan-
griffe geflogen, zumindest dürften die US-Basen in Ramstein und
anderswo logistisch von Bedeutung sein. ... Läuft
Deutschland Gefahr, im Sog der USA zur Kriegspartei zu werden und
damit auch zum Ziel terroristischer Angriffe?
Wird der Krieg im Auftrag der Vereinten Nationen geführt, sollte die
Bundesregierung die Nutzungs- und Überflugrechte nicht beschneiden.
Wird der Krieg dagegen ohne Mandat oder gar gegen den Willen der UN
geführt, sollte - ja, muss - die Regierung diese Rechte verweigern. (...)
Was würden Sie in dieser Lage tun, trügen Sie für die deutsche
Außenpolitik Verantwortung?
Ich würde fast deckungsgleich den von Kanzler Schröder beschrittenen
"Deutschen Weg" gehen. Er entspricht unserem Grundgesetz und der
Erfahrung aus 50 Jahren Ost-West-Konflikt. Allenfalls würde ich mich
stärker um Bündnispartner in Europa bemühen. Ich hoffe und erwarte,
dass die Regierung ihren jetzigen Kurs beibehält. (...)
... Zumindest in den meinungsbildenden Medien gelten Gewalt und Vergeltung
längst als legitimes Mittel der Politik. Sehen Sie überhaupt Chancen,
wieder Standards der Vernunft durchzusetzen?
(...)
Diese US-Regierung verändert momentan die Welt radikal. Sie stellt
sich gegen das mit der UN-Charta von 1945 beschlossene zivilisatorische Projekt für die "Eine Welt". Es zielte darauf, den Krieg
als Institution abzuschaffen und die Gewalt als zwischenstaatliche
Verkehrsform zu eliminieren. An die Stelle eines Rechts des Stärkeren
sollten Gerechtigkeit und die Stärke des Rechts treten. Vor diesem
Hintergrund fordern wir seit langem Prävention als Prinzip zu praktizieren, aber zugleich standhaft der Versuchung zu widerstehen, eine
Doktrin der sogenannten präventiven Selbstverteidigung zu akzeptieren.
Verteidigung und Angriff sind absolute Gegensätze. Nicht zufällig
sind militärische Angriffe nach unserem Grundgesetz verfassungswidrig
und sogar unter Strafe gestellt. Das Gegensatzpaar Angriff und Verteidigung nicht nur semantisch, sondern auch strategisch-konzeptionell
aufzuheben, dreht das zivilisatorische Rad, das wir in Jahrzehnten so
mühsam nach vorn bewegt haben, mit einem Schlag um Epochen zurück -
mit unabsehbaren Folgen für die ganze Menschheit.
Nach dem 11. September sprachen Sie von einem Fenster der Verwundbarkeit, das sich für die westlichen Industrieländer geöffnet habe. Bush
will dieses Fenster mit militärischer Gewalt schließen. Wird es dadurch
nicht immer weiter aufgerissen?
Wir können wirklich nicht die Augen davor verschließen, dass Präsident
Bush in seinen Reden droht: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns"
oder Donald Rumsfeld die Herausforderung des neuen Jahrhunderts darin
erblickt, die Nation zu verteidigen, und zwar "gegen das Unbekannte,
das Ungewisse, das Unsichtbare, das Unerwartete". Wer so denkt, spricht
und handelt, provoziert, was er zu verhüten vorgibt: nimmer enden
wollende Serien von Kriegen. Nein: Die Vereinigten Staaten sind es,
die nicht erst seit dem 11. September 2001, sondern bereits nach den
revolutionären Umbrüchen von 1989/90 zunehmend mit dem Konsens der
Vergangenheit brechen, immer öfter aus der Gemeinschaft der Staaten
ausscheren und möglicherweise - wenn auch ungewollt - Gefahr laufen,
zu einem weitaus größeren Risiko für den Weltfrieden zu werden als es
Länder wie der als "Schurkenstaat" indizierte Irak je vermochten oder
vermögen werden.
Das Gespräch führte Hans Thie
Aus: Freitag 51, 13. Dezember 2002
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