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Iraker beklagen die "große Lüge"

Alltag im Zweistromland von Mangel und Teuerung geprägt

Von Karin Leukefeld*

Über 1000 arbeitslose Iraker haben jüngst in der südlichen Stadt Amara mit einer Demonstration auf ihre Lage aufmerksam gemacht. Der Protest fand kurz vor dem 3. Jahrestag eines Ereignisses statt, mit dem sich das Leben in Irak gründlich ändern sollte.


Am 9. April 2003 hatten US-Marines in Bagdad symbolträchtig die Statue Saddam Husseins vom Sockel gezogen und den Irakern Freiheit, Demokratie und Wohlstand versprochen. Doch außer im kurdischen Norden des Landes haben sich die Lebensbedingungen für die meisten Iraker verschlechtert. Darüber täuschen auch viele Institutionen nicht hinweg, die mit USA-Unterstützung gegründet wurden, um dem Volk zu helfen. Beispielsweise das Soziale Sicherheitsnetzwerk, das arbeitslosen Menschen in Südirak helfen soll. Die Demonstranten in Amara nannten dieses Netzwerk jetzt eine »große Lüge«. Angekündigte Hilfszahlungen blieben aus, die Verantwortlichen betrieben Vetternwirtschaft, schimpfte ein Demonstrant. Der Provinzrat richtete einen Untersuchungsausschuss ein, der die Vorwürfe prüfen soll.

Seit Beginn des UNO-Embargos 1990 lebten die Iraker von subventionierten Lebensmitteln. Nach Angaben des Handelsministeriums sind auch heute noch rund 26,5 der 28 Millionen Iraker auf die staatlich subventionierte Lebensmittelhilfe angewiesen. Für 2006 wurde diese Hilfe jedoch um 30 Prozent gekürzt – eine direkte Folge des Subventionsabbaus von bisher vier Milliarden Dollar pro Jahr auf drei Milliarden. Das entspricht der Forderung des Internationalen Währungsfonds, der Irak mit Hilfe von Krediten von einer Staatsökonomie in eine freie Marktwirtschaft überführen will.

Im Alltag bedeutet der Subventionsabbau, dass bedürftige Familien nur noch vier Grundnahrungsmittel auf ihre Lebensmittelkarten erhalten: Zucker, Reis, Mehl und Öl. Unter Saddam Hussein erhielten sie darauf zwölf Grundnahrungsmittel. Parallel zu den Kürzungsmaßnahmen wachsen die Lebensmittelpreise auf ein Vielfaches. Für ein Kilogramm Linsen, das 2002 noch 50 Cent kostete, zahlt man heute bis zu zwei Dollar. Die Preise für Obst und Gemüse hatten sich mit Jahresbeginn verdoppelt und steigen seitdem wöchentlich um satte 20 Prozent.

Nach zwei Todesfällen in der nordirakischen Provinz Süleymania im Januar wurden 2,5 Millionen Hühner getötet und ein Impportstopp für Geflügel verhängt. Lammfleisch, so der Bagdader Schlachter Abdul Jabbar, koste inzwischen pro Kilo acht Dollar – »für uns ein sehr gutes Geschäft«. Raad Hamza, ein hochrangiger Mitarbeiter des Handelministeriums, rechtfertigte die Kürzung der Lebensmittelhilfen gegenüber dem Regionalen Informationsnetzwerk IRIN: »Wenn Irak weiterhin sozialistisch geführt wird, kann sich die Wirtschaft nicht entwickeln.« Die Einzelhandelspreise würden sich rasch stabilisieren. Doch Muhammad Wissam, der als Maler Frau und vier Kinder zu ernähren hat, ist verzweifelt: »Ich verdiene monatlich 50 Dollar, nur für die Miete bezahle ich aber 42 Dollar.«

Regierungsangaben zufolge sollen seit dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra Ende Februar landesweit rund 40 000 Menschen vertrieben worden sein. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Genf berichtet von 30 000 irakischen Inlandsflüchtlingen aus religiösen Gründen, eine Million Inlandsvertriebene gebe es als Folge jahrzehntelanger Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik. Zählt man die aus Bagdad geflohenen palästinensischen Familien sowie diejenigen mit, die vor Kämpfen zwischen der USA-Armee und Aufständischen geflohen sind, dürfte die Zahl noch höher sein. Die Koordinationsstelle der Unabhängigen Hilfsorganisationen NCCI schrieb in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, dass seit der USA-Invasion insgesamt 1;5 Millionen Iraker vertrieben worden sind. 26 Prozent der Bevölkerung seien unterernährt, 20 Prozent lebten unter der Armutsgrenze und Zehntausende Zivilisten seien in den vergangenen Jahren durch USA-geführte Militäroperationen getötet worden. Die Zahlen wurden mit Hilfe irakischer Hilfsorganisationen zusammengetragen, berichtet Kasra Mofarah vom NCCI-Büro in Amman.

Irakische Regierungsvertreter räumen die Dramatik der Lage ein. »Fast sechs Prozent der gesamten Bevölkerung sind vertrieben«, gab der Sprecher des Ministeriums für Flüchtlinge und Migration, Sattar Nawruz, zu. Eine Sonderkommission werde die Lage untersuchen und an einer Lösung arbeiten.

Die Regierung hat bisher 400 000 Dollar als Hilfe für die Inlandsflüchtlinge zur Verfügung gestellt, doch es wird mehr Geld gebraucht. Die IOM beantragte nach eigenen Angaben bei internationalen Geldgebern zehn Millionen Dollar, um ein einjähriges Nothilfeprogramm finanzieren zu können.

Die Flüchtlinge werden derzeit in 14 Übergangslagern mit Wasser und medizinischer Hilfe versorgt. Allein in Tikrit haben sich nach offiziellen Angaben 600 Iraker in Sicherheit gebracht. Südlich von Bagdad, in Nadschaf, sollen es mehr als 8000, in Kut und Samawa rund 3000 Menschen sein, die in Zeltlagern leben und von örtlichen Organisationen, dem Irakischen Roten Halbmond und der Bevölkerung versorgt werden. Auch Bagdader Familien haben ihre ursprünglichen Wohnungen verlassen und leben jetzt in Zeltlagern auf Park- oder Sportanlagen, in verlassenen Schulen oder leeren Regierungsgebäuden.

Kinder leiden unter der Situation besonders. Gewalt und Unsicherheit, Armut und schwere psychische Schäden tragen dazu bei, dass mindestens 30 Prozent der schulpflichtigen Kinder nicht regelmäßig am Unterricht teilnehmen, heißt es aus dem Bildungsministerium. Lehrer zeigen sich besorgt über religiöse Vorurteile, denen die Kinder in manchen Schulen ausgesetzt sind. Seit Jahren unterrichte sie an einer Grundschule in Bagdad-Mansour, sagte Mariam Salah gegenüber dem UNO-Informationsnetzwerk IRIN. Nie sei es für sie wichtig gewesen, wer welchen Glauben hatte, doch neuerdings würden manche Lehrer die Kinder je nach Religionszugehörigkeit diskriminieren. »So etwas habe ich früher hier nie erlebt.«

Die NCCI-Koordinationsstelle äußerte sich »pessimistisch über die humanitäre Situation«. Besonders die instabile politische Lage gebe Anlass zur Sorge. Die internationale Spendenbereitschaft habe drastisch abgenommen, obwohl die wirtschaftliche Situation in Irak immer schlechter werde. »Wir rufen die Regierungsverantwortlichen und bewaffneten Kräfte in Irak auf, die Gewalt zu beenden und Grundlagen für Dialog und nationale Versöhnung zu schaffen«, heißt es im NCCI-Bericht.

* Aus: Neues Deutschland, 19. April 2006


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