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Palästinenser fliehen vor Gewalt im Irak

Von Karin Leukefeld*

Der Sturz des alten Regimes und die Besatzung durch ausländische Truppen haben seit dem Frühjahr 2003 die gesellschaftlichen Strukturen grundlegend verändert. Neben rund 50.000 Inlandsvertriebenen hat die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, UNHCR, auch eine große Zahl ausländischer Flüchtlinge im kriegszerrütteten Land registriert. Bei den Inlandsflüchtlingen handelt es sich zumeist um irakische Araber, die von zurückkehrenden Kurden aus ihren Häusern in Kirkuk und Umgebung vertrieben wurden. Der UNHCR geht davon aus, dass rund 44.000 dieser Vertriebenen inzwischen in Bagdad sind, wo sie entweder bei Verwandten oder aber in leer stehenden Häusern leben. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Familien, die vor US-Militäreinsätzen gegen „Aufständische“ wie zum Beispiel in Falludscha, Ramadi, Al Khaim geflohen sind, diese Familien werden vor allem vom Irakischen Roten Halbmond betreut.

Bei den ausländischen Flüchtlingen im Irak handelt es sich neben iranischen und türkischen Kurden, Griechen, Türken, Syrern und Sudanesen auch um eine große Gruppe von Palästinensern. Vor dem Krieg 2003 lebten nach Angaben der damaligen Regierung rund 80.000 Palästinenser im Irak. Sie waren 1948, 1967 oder 1991 aus ihrer Heimat geflohen oder von dort vertrieben worden, der Irak wurde ihnen zu einer neuen Heimat. Unter Saddam Hussein hatten die Palästinenser im Irak verhältnismäßig gute Lebensbedingungen. Sie hatten ordentliche Wohnungen, deren Miete großzügig vom Staat subventioniert wurde. Der irakische Staat ermöglichte jungen Leuten ein Studienstipendium, es gab viele irakisch-palästinensische Eheschließungen, die Palästinenser wurden in die irakische Gesellschaft integriert, wenn auch nicht mit allen Rechten. So waren junge Palästinenser nicht zum Militärdienst zugelassen.

Nach dem Krieg 2003 sahen sich die Palästinenser bisher ungeahnten Schwierigkeiten gegenüber. Nach dem Sturz von Saddam Hussein meldeten sich die Eigentümer ihrer Wohnungen und konfrontierten sie – wie auch viele andere Iraker übrigens - mit horrenden Mieterhöhungen. Wer nicht zahlen konnte, flog raus. Die Palästinenser, die unter dem alten Regime nur bedingt arbeiten konnte, dafür aber großzügig unterstützt worden waren, mussten ihre Wohnungen verlassen und fanden Unterkunft in einem Zeltlager auf dem Sportplatz nahe ihrer alten Wohnanlage im Osten Bagdads. Hier wurden sie – mit Unterstützung des UNHCR - von einem inoffiziellen Ableger der UNRWA mit Lebensmitteln und medizinisch versorgt. 22.000 Palästinenser (8.500 Familien) registrierte die UN Flüchtlingsorganisation allein in Bagdad. Landesweit wird die Zahl auf 34.000 geschätzt, Palästinenser leben auch in Mossul und in Basra. Alle mussten sich 2003 als Flüchtlinge neu registrieren lassen, nach Generationen relativer Sicherheit im Irak, sehen die Palästinenser sich plötzlich wieder einer unsicheren Zukunft entgegen.

Nun hat sich nach Angaben des UNHCR die Lage für die Palästinenser im Irak massiv verschärft. Tausende palästinensischer Flüchtlinge würden angegriffen und massiv aus dem Alltag ausgegrenzt, heißt es in der Erklärung, die über das UN-Informationsnetzwerk IRIN verbreitet wurde. Ron Redmond, Sprecher von UNHCR in Genf erklärte: „In der vergangenen Woche haben wir Berichte erhalten, dass bis zu 10 Palästinenser in Bagdad getötet wurden, mehrere wurden entführt.“ Die Vereinigung der Palästinensischen Muslime (PMA) erklärte, sie habe seit September 2005 mehr als 270 Berichte von Übergriffen auf Palästinenser erhalten, es gebe Vergewaltigungen und Morde. „Frauen werden vor den Augen ihrer Ehemänner vergewaltigt, nur weil sie Palästinenser sind“, so PMA-Sprecher Ahmed Muffitlak.

UNHCR-Sprecher Ron Redmond führt die große Zahl der Angriffe darauf zurück, dass es sich bei den Palästinensern um sunnitische Muslime handele, die nach der Zerstörung der goldenen Moschee in Samarra (22. Febraur) verstärkt zu Zielen religiös motivierter Angriffe geworden seien. „Sie mischen sich aber in interne irakische Streitigkeiten nicht ein“, so Redmond.

Farhan Obaid vom Ministerium für Vertreibung und Flucht ist dagegen der Ansicht, dass Palästinenser im Irak angegriffen würden, weil es ihnen unter dem früheren Regime recht gut gegangen sei: „Die Palästinenser wurden von der Regierung geschützt“, so Obaid. „Sie erhielten Essenspakete, Schulen und gesundheitliche Versorgung.“ Hunderte Palästinenser hätten seit 2003 schon den Irak verlassen, so Obaid weiter. Wachsende Diskriminierung und Gewalt hätten sie vertrieben.

Das irakische Menschenrechtsministerium will das so nicht stehen lassen. Alle Iraker, nicht nur die Palästinenser, hätten unter der Gewalt zu leiden, so Ahmed Sattar, ein Spitzenbeamter am Ministerium.

Die Flucht der Palästinenser aus dem Irak nimmt derweil zu. Dutzende verlassen das Land Woche für Woche, so PMA-Sprecher Muffitlak. „Sie versuchen in anderen Ländern Schutz zu finden, der Irak ist für uns jetzt sehr unsicher.“ Wohin sie allerdings fliehen sollen, ist fraglich. Erst vor zwei Tagen sperrte die jordanische Regierung ihre Grenze für Palästinenser aus dem Irak. Seitdem sitzen 89 Palästinenser, darunter 42 Kinder, im Niemandsland zwischen den irakischen und jordanischen Grenzübergängen. Ihre neue Heimat ist ein provisorisches Zeltlager, das bereits kurz nach Beginn des Irankrieges dort entstanden war. Schon 2003 lebten Palästinenser dort, weil die jordanische Regierung sich weigerte, sie aufzunehmen. Die Flüchtlinge teilten sich damals das trostlose Dasein mit iranischen Kurden, die inzwischen im Nordirak eine neue Bleibe gefunden haben.

Der Artikel erschien in gekürzter Form im Neuen Deutschland vom 22. März 2006


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