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Besuch in "Suli"

Kurden in Nordirak zwischen Tradition und Moderne. Türkische Kriegsdrohungen allgegenwärtig

Von Karin Leukefeld, Sulaimania *

Schokolade aus der Schweiz, Honig aus Deutschland, Kekse aus Malaysia, Besteck aus Japan, Fruchtsaft aus Saudi-Arabien – der »Zagros Supermarkt« im irakisch-kurdischen Sulaimania ist voller Produkte aus aller Welt. Sulaimania ist die Hauptstadt der gleichnamigen südlichsten Kurdenprovinz im Nord­irak. Mehr als ein Viertel der vier Millionen irakischen Kurden lebt hier. Eingebettet zwischen Gebirgszügen und nur knappe 100 Kilometer von der iranischen Grenze und den Kandilbergen entfernt, gilt Sulaimania, oder »Suli«, wie die Einwohner ihre Stadt nennen, als unkonventionell und weltoffen, als kulturelles Zentrum.

Sulaimania ist eine gespaltene Stadt. Nur wenige Meter neben der boomenden Moderne mit dem »Zagros Supermarkt«, liegt der alte, traditionelle Markt Sulaimanias, wo mageres Fleisch an Haken von der Decke hängt und dicke Bohnen, frisch und weich gekocht, als Snack verkauft werden. In nur wenigen Jahren hat sich die Gesellschaft des kurdischen Nordirak völlig verändert, sagt Bauingenieur Ako Ali Rascheed, der seit langem für die Vereinten Nationen arbeitet. Mit seinem Kollegen Amjad Mustafa bereitet Rascheed ein Projekt von UN-Habitat südlich von Sulaimania vor, Schulen und öffentliche Anlagen sollen saniert werden. Beide Männer studierten in den 1970iger Jahren in Mosul und erinnern sich, daß damals viele Bauern von der irakischen Regierung unter Saddam Hussein in Sammeldörfern angesiedelt wurden, um zu verhindern, daß der kurdische Widerstand erstarkte. Heute versucht man, die Menschen, inzwischen in der zweiten Generation, wieder zurückzusiedeln, doch ohne Erfolg. Das ländliche Leben lohnt sich nicht, erklärt Amjad Mustafa. Niemand kaufe den Bauern ihr Getreide ab, Weizen und Reis kämen aus Iran oder Asien. »Die junge Generation interessiert sich überhaupt nicht mehr für die alten Traditionen.«

Sieben Milliarden US-Dollar beträgt der jährliche Haushalt der kurdischen Regionalregierung, das Geld kommt aus Bagdad. 70 Prozent davon werden für Löhne und Pensionen gezahlt, das schafft ein Patronagesystem, mit dem sich auch Saddam Hussein zu seinen Leb- und Amtszeiten schon eine enge Gefolgschaft sicherte. Die Gesellschaft im Nordirak habe sich von einer produzierenden Agrargesellschaft zu einer nicht produzierenden Konsumgesellschaft gewandelt, erläutert Mohammed Taufik im Gespräch mit jW. Taufik war Peschmerga (bewaffneter Kämpfer) in den Reihen der PUK (Patriotische Union Kurdistans) von Dschelal Talabani, dem heutigen irakischen Präsidenten. Aus Protest gegen die aktuelle Politik in den irakisch-kurdischen Provinzen trat Taufik im Sommer 2006 von seinem Posten im Politbüro zurück und gab auch alle anderen Parteiämter ab. Das Jahresbudget für die kurdische Regionalregierung sei heute siebenmal höher, als zur Zeit der UN-Sanktionen (1990–2003), erläutert Taufik seine Kritik an der offiziellen politischen Linie. Anstatt mit den Milliarden US-Dollar den dringend erforderlichen Wiederaufbau zu fördern, Arbeits- und Wohnmöglichkeiten für die Bevölkerung zu schaffen, die Agrarwirtschaft zu stärken, werde ein Beamtensystem finanziert, das nicht nur unproduktiv, sondern in höchstem Maße korrupt sei.

Die türkischen Kriegsdrohungen an der nördlichen Grenze des Irak sind allgegenwärtig in den kurdischen Medien. Die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) sei ein Problem für die kurdischen Gebiete, meint Taufik, der aus seiner Ablehnung der Guerilla keinen Hehl macht. Die Kandilberge seien ein uneinnehmbares Rückzugsgebiet. Die kurdischen Behörden hätten zudem keine Ahnung, wo genau die PKK sich aufhalte, da könne man nichts machen.

Anders äußert sich ein kurdischer Geschäftsmann der IT-Branche, der nicht namentlich genannt werden möchte. Für den Mittdreißiger repräsentiert die PKK einen Teil der Kurden. Die USA müßten vermitteln und die Türkei von einem Eingreifen abhalten, meint er. Schließlich sei es kein Vorteil für Washington, gegen die PKK vorzugehen, denn sollte die PKK ihre Lager verlassen, würden sofort Al-Qaida und Ansar Al-Islam sich dort niederlassen. »Und was ist besser für die USA? Doch sicher die PKK!«

* Aus: junge Welt, 1. November 2007

Kriegsgeschrei macht taub

Türkei: Vorschläge zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage ignoriert

Von Nico Sandfuchs, Ankara *


Vorschläge für die friedliche Lösung der Kurdenfrage stehen im Mittelpunkt eines Thesenpapiers, das die kurdisch-linke »Partei für eine demokratische Gesellschaft« (DTP) auf einem außerordentlichen Parteitag am 8. November verabschieden will. Am vergangenen Wochenende wurden die Thesen von einem von der DTP in der kurdischen Millionenmetropole Diyarbakir veranstalteten Kongreß erarbeitet. Drei Tage lang hatten die rund 500 Delegierten verschiedenster gesellschaftlicher Gruppierungen debattiert, um der türkischen Öffentlichkeit ihre Vorschläge vorzulegen.

Das Thesenpapier benennt das herrschende kemalistische Ideologiekonstrukt und den streng zentralistischen Aufbau der Türkei als die wesentlichen Ursachen für den Kurdenkonflikt. Obwohl die Türkei ein multiethnischer Staat sei, würde dieser Tatsache weder im Staatsaufbau noch in der Verfassung Rechnung getragen. So sei in dem derzeit gültigen Grundgesetz etwa nur von »Türken« die Rede, während die Existenz der zahlreichen Minderheiten des Landes systematisch verschwiegen werde.

Zu den Kernforderungen der Programmschrift gehört deshalb ein grundsätzlich gewandeltes Staatsbürgerverständnis, mit dem zukünftig die politischen und kulturellen Rechte der Minderheiten ausdrücklich anerkannt werden sollen, sowie eine tiefgreifende Reform des Verwaltungsaufbaus der Türkei. So könne eine dauerhafte und friedliche Lösung des Minderheitenproblems nur erreicht werden, wenn der Zentralismus durch einen ausgeprägten Föderalismus mit Provinzparlamenten und weitreichender regionaler Selbstverwaltung ersetzt werde, heißt es in dem Dokument.

Bereits seit Wochen wird die türkische Öffentlichkeit durch die meisten Medien und Parteien auf Kriegskurs getrimmt. In der öffentlichen Debatte werden derzeit ausschließlich gewaltsame Konzepte zur Lösung der Kurdenfrage diskutiert. Kaum verwunderlich also, daß der Kongreß den meisten türkischen Zeitungen allenfalls eine Randnotiz wert war.

* Aus: junge Welt, 1. November 2007




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