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Unter der Losung "Wandel" gegen die traditionelle Zweiparteienwirtschaft

Einig sind sich die Kurden in der Forderung nach mehr Selbstständigkeit gegenüber Bagdad

Von Karin Leukefeld *

Wenn am heutigen Sonnabend (25. Juli) in den kurdischen Provinzen Nordiraks ein neues Parlament gewählt wird, könnte die traditionell durch zwei Parteien geprägte politische Landschaft durch mindestens ein neues Element bereichert werden.

2,5 Millionen Wahlberechtigte sind in den drei Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimanija registriert. Rund 500 Kandidaten und Kandidatinnen, nominiert von 24 Parteien, konkurrieren um 111 Parlamentssitze, von denen 11 für Turkmenen (5), Assyrer (5) und Armenier (1) reserviert sind. Frauen stehen laut irakischer Verfassung mindestens 30 Sitze zu. Gewählt werden nicht einzelne Kandidaten oder Kandidatinnen, sondern Listen. Ebenfalls zur Wahl steht der Präsident der Kurdischen Autonomieregion. Das Amt wird seit 2005 von Massud Barsani, dem Vorsitzenden der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), ausgeübt. Seine Wiederwahl wird allgemein erwartet.

Auch im Parlament dürften die KDP und die Patriotische Union Kurdistans (PUK), die beiden großen Parteien der Region (siehe Kasten unten), ihre Vorherrschaft behaupten. Herausgefordert werden sie von einer neuen Gruppierung, die sich das Zauberwort »Wandel« zum Motto gemacht hat. Das Emblem der »Liste für Wandel« – eine orangefarbene Kerze auf blauem Grund – war im Wahlkampf auf Plakaten, T-Shirts, Taxis und Baseballkappen präsent. Die Liste gruppiert sich um den früheren Peschmergaführer Nuschirwan Mustafa (65), der zu den Gründern der PUK gehörte, seinen Posten im PUK-Politbüro jedoch 2006 aufgab. Unterstützt von Medien der Wooshe Gesellschaft, einem in Sulaimanija ansässigen Medienzentrum mit Zeitung, Webseite und einem Satellitenfernsehsender, prangert die »Liste für Wandel« seit 2007 Korruption, Vetternwirtschaft und Verschwendung von Haushaltsgeldern durch die regierende PUK-KDP-Allianz an und klärt die Bevölkerung über ihre demokratischen Rechte auf. Eine weitere »Liste für Reformen und Dienste« wurde von zwei islamistischen und zwei links orientierten Parteien gebildet.

Die neue Vielfalt der kurdischen politischen Landschaft wird nicht von allen begrüßt. Durch innerkurdische Konkurrenz könnte die Stimme der Kurden in Bagdad an Gewicht verlieren, fürchtet Dr. Raouf Uthman, PUK-Abgeordneter im irakischen Parlament. Die Kurden sollten nicht zerstritten auftreten. Herausforderer Nuschirwan Mustafa begegnet dem mit dem Argument, nur durch eine »vereinigte Debatte« könne auch in Bagdad kurdische Einheit erreicht werden. Die Regierung habe die nationalen Interessen der Kurden vernachlässigt, wie man an der mehrfachen Verschiebung des Referendums über die Zugehörigkeit der Erdölstadt Kirkuk zur Autonomieregion sehen könne. Dass Kirkuk und andere mehrheitlich kurdisch besiedelte Gebiete zur Kurdenregion gehören müssen, ist unter den kurdischen Parteien unumstritten – ebenso wie die Forderung nach weitgehender politischer, militärischer und wirtschaftlicher Selbstständigkeit.

Teuerung, Arbeitslosigkeit und Wohnungsmangel werden vor allem junge Wähler mobilisieren, die immer offener die traditionellen Parteien kritisieren. »Junge Leute haben die Schnauze voll von der Regierung«, formulierte ein junger Unterstützer der »Liste für den Wandel« den verbreiteten Unmut. Er verdiene zu wenig, um heiraten und eine Familie gründen zu können, sagte der 28-Jährige, der als Verkäufer in einem Supermarkt arbeitet, einem Reporter des Instituts für Reportagen von Krieg und Frieden in Sulaimanija. Wie viele seiner Altersgenossen überlege er, ins Ausland zu gehen.

Die Parteien scheinen die Botschaft verstanden zu haben. Eine Reihe junger Kandidaten wurde aufgestellt, um die Zustimmung der wahlentscheidenden Jugend zu gewinnen. Wem die Jungwähler glauben, das wird sich am Wahltag zeigen.

Lexikon - Kurdistan

Ein unabhängiges Kurdistan sollte ursprünglich nach dem Ende des Osmanischen Reiches entstehen. Doch als Siegermächte des Ersten Weltkrieges teilten Briten und Franzosen die arabischen Provinzen untereinander auf, von einem unabhängigen Staat Kurdistan sprachen fortan nur noch die Kurden. Sowohl in der 1923 neu gegründeten Türkischen Republik als auch in Iran, Irak und Syrien entstanden kurdische Unabhängigkeitsbewegungen, die allerdings im Laufe der Jahre sehr unterschiedliche Wege gingen.

Nach dem Golfkrieg 1991 wurden die kurdischen Provinzen Nordiraks – Dohuk, Arbil und Sulaimanija – als »Sicherer Hafen« politisch von Irak getrennt, was die dortigen Kräfte stärkte. Die völkerrechtswidrige USA-Invasion 2003 wurde von KDP und PUK unterstützt, wofür sie nach dem Sturz Saddam Husseins mit hohen Ämtern in der Regierung Iraks belohnt wurden. Der Präsident und ein Vizepräsident sowie der Außenminister in Bagdad sind Kurden.

Basis der heutigen kurdischen Autonomie ist ein Statut, das 1974 zwischen Bagdad und den Kurden vereinbart worden war. Wegen der andauernden Spannungen wurde es jedoch nie vollständig realisiert. Pläne, Kurdistan gänzlich von Irak abzutrennen, wurden besonders nach 2003 laut. Große Bedeutung für eine eigenständige kurdische Wirtschaft hätte die Übernahme der Ölmetropole Kirkuk. Um diese zu verhindern, weigert sich Bagdad bis heute, ein in der Verfassung vorgesehenes Referendum durchzuführen.

Auch Iran, Syrien und die Türkei lehnen eine Loslösung der kurdischen Gebiete von Irak ab, um die eigene kurdische Bevölkerung nicht zu ermutigen, es den Kurden in Irak gleichzutun. Die Türkei und Iran gehören gleichwohl zu den größten Handelspartnern der Kurdischen Gebiete. Syrien, das der KDP, der PUK und auch der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) lange Exil gewährte, reagiert empfindlich, wenn es um nationale kurdische Selbstbestimmung geht. In den kurdischen Autonomieprovinzen Nordiraks denkt man derweil laut über einen Anschluss an die Türkei nach. So könnte man sich von den Arabern in Irak distanzieren und Europa näher rücken. K.L.

Verbündete Rivalen

Die kurdische Gesellschaft in Nordirak ist eine Stammes- oder Clangesellschaft. Den Ton geben die Familien Barsani und Talabani an. Der legendäre Peschmergaführer und Clanvater Mullah Mustafa Barsani gründete 1946 die Kurdische Demokratische Partei (KDP), die wegen ihrer gelben Fahne auch »Die Gelben« genannt wird. Der Barsani-Clan hat seine Hochburg in den Provinzen Dohuk und Arbil.

Dschalal Talabani, der heutige Präsident Iraks, ging beim alten Barsani in die Schule, machte sich aber 1975 mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) selbstständig. Die PUK-Hochburg ist Sulaimanija, das als weltoffen und als kulturelles Zentrum gilt. KDP und PUK sind in der Kurdistan-Allianz verbündet, die derzeit mit 100 Abgeordneten im Parlament eine überwältigende Mehrheit hält.

PUK und KDP waren jedoch nicht immer verbündet. Mitte der 90er Jahre, als die kurdischen Provinzen als sogenannter Sicherer Hafen der Kontrolle der Bagdader Regierung unter Saddam Hussein entzogen waren, lieferten sie sich einen blutigen Krieg mit Hunderten von Toten. Dabei ging es vor allem um die Kontrolle der Grenzübergänge zur Türkei und die damit verbundenen Einnahmen für das Erdöl, das heimlich und dennoch für alle Welt sichtbar aus der Region um Kirkuk in die Türkei geschmuggelt wurde. K.L.



* Aus: Neues Deutschland, 25. Juli 2009


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