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Die Feinde "im Dunklen"

Anschlag bei Kirkuk ist ein Menetekel für die Zukunft Iraks



Die Meldung:

Mindestens 72 Tote bei Anschlag im Norden des Irak

Bei dem schwersten Anschlag im Irak seit fast anderthalb Jahren sind am Samstag (20. Juni) mindestens 72 Menschen getötet worden. Nach Angaben des regionalen Polizeichefs, Sarhad Kadir, wurden bei dem Anschlag im Norden des Landes mehr als 200 weitere Menschen verletzt. Demnach brachte der Selbstmordattentäter einen mit Sprengstoff präparierten Lastwagen in der Ortschaft Tasa rund 30 Kilometer südlich der Ölstadt Kirkuk zur Explosion.

Offiziell bekannte sich niemand zu dem Anschlag. Nach einem Bericht der britischen BBC sprechen die Behörden von Hinweisen auf das Terrornetzwerk El Kaida als Urheber.

Die Opfer, unter ihnen zahlreiche Schwerverletzte, wurden in Krankenhäuser nach Kirkuk gebracht. Die meisten Opfer seien Kinder, Frauen und Alte - schutzlose Menschen, die "ein leichtes Ziel für Terroristen sind", sagte der Gouverneur von Kirkuk, Abdelrahman Mustapha.

Der mit rund einer Tonne Sprengstoff beladene Lastwagen war in der Nähe der Rassul-Moschee in Tasa abgestellt worden. Mehr als achtzig Häuser wurden nach Angaben der Polizei zerstört, deren Bewohner zum Teil unter den Trümmern begraben wurden. Die Suche nach weiteren Opfern dauere an. Es müsse mit mehr Toten gerechnet werden, sagte ein Arzt in der städtischen Leichenhalle. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) schickte eine Tonne medizinisches Material ins Dschumhuri-Krankenhaus in Kirkuk, wie ein IKRK-Sprecher sagte.

Der irakische Regierungschef Nuri el Maliki sprach von einem "hässlichen Verbrechen", das gegen die Sicherheit und Stabilität im Land gerichtet sei und Zweifel an den Sicherheitskräften nähren solle. Die Täter würden zur Rechenschaft gezogen. Tasa ist eine vorwiegend von schiitischen Turkmenen bewohnte Stadt.

Noch am Donnerstag (18. Juni) hatte der irakische Regierungschef Nuri al- Maliki in einer Rede an die turkmenische Minderheit den Abzug der US- Truppen aus irakischen Städten als «großen Sieg» gefeiert und zugleich vor neuen Anschläge während des US-Rückzugs gewarnt. Das Attentat am Samstag wurde als Antwort auf diese Ansprache gewertet.

Am Sonntag (21. Juni) herrschten Verzweiflung und Wut in Tasa. Menschen suchten in den Trümmern ihrer Häuser nach Habseligkeiten. "Die ganze Familie Saman, zusammen 17 Mitglieder, wurde getötet", sagte der 58-jährige Nachbar Madschid Schaker. "Nur ein fünfjähriges Kind, Hussein, hat überlebt, weil er nicht im Haus war."

In wenigen Tagen, am 30. Juni, will sich die US-Armee vereinbarungsgemäß aus allen größeren und mittleren irakischen Städten zurückziehen und die Verantwortung für die Sicherheit dort ganz in die Hände der Iraker legen. Das sieht ein zwischen Washington und Bagdad geschlossenes Sicherheitsabkommen vor.

Quelle: Nachrichtenagenturen AFP, dpa, 21. Juni 2009



Die Feinde "im Dunklen"

Anschlag bei Kirkuk ist ein Menetekel für die Zukunft Iraks

Von Karin Leukefeld


Über 70 Menschen wurden am Sonnabend (20. Juni) bei einer mächtigen Explosion in Tasa nahe der nordirakischen Stadt Kirkuk getötet. Die Tat riss das Kurdengebiet aus seiner relativen Ruhe.

Die Explosion ereignete sich in dem Moment, als die Gläubigen nach dem Mittagsgebet die Moschee verließen. Viele Farmarbeiter seien zudem für die Mittagspause auf dem Weg nach Hause gewesen, sagte Majeed Azzat, Mitglied des Provinzrates von Kirkuk. Die Explosion wurde durch einen mit Sprengstoff beladenen Lastwagen unmittelbar vor der schiitischen Moschee ausgelöst. Während einige Medien von einem »Selbstmordanschlag« sprechen, vermuten andere, dass die Explosion durch Fernzündung ausgelöst wurde. Nach dem Attentat bot sich ein Bild der Verwüstung: Die Moschee und mindestens 30 der umliegenden Häuser wurden völlig zerstört; Bilder zeigen Menschen, die in den Trümmern nach Überlebenden suchen.

In Tasa leben vor allem Iraker turkmenischer Herkunft, die Turkmenische Front rief eine dreitägige Trauer aus und forderte die Regierung auf, den Anschlag »sofort zu untersuchen und die Kriminellen festzunehmen«. Zunächst hatte niemand die Verantwortung für die Tat übernommen.

Kurden, Turkmenen und Araber streiten in Kirkuk seit Jahren um die politische Kontrolle von Stadt und Provinz, unter deren Boden die zweitgrößten Ölvorkommen Iraks lagern. Die Kurden wollen Kirkuk als »Herz Kurdistans« in ihren Einflussbereich des autonomen Kurdengebietes im Norden eingliedern. Ein in der Verfassung vorgesehenes Referendum darüber wurde bisher nicht abgehalten, weil massive Unruhen befürchtet wurden. Bei den Wahlen zu den Provinzräten Anfang des Jahres war in Kirkuk nicht abgestimmt worden, weil die Vertreter der verschiedenen Gruppen sich nicht auf eine Sitzverteilung in dem zu wählenden Gremium hatten einigen können. Die Vereinten Nationen hatten erst vor wenigen Wochen in einem Bericht über die Situation in Kirkuk Vorschläge für die Zukunft der Provinz ausgearbeitet.

Weil sich der Anschlag vor einer schiitischen Moschee ereignete, könnte er sich gegen die vor Jahrzehnten aus Südirak nach Kirkuk umgesiedelten schiitischen Araber richten. Sie werden von den Kurden als unrechtmäßige Bewohner des Bodens angesehen, von dem die Kurden während des Iran-Irak-Krieges (1980-1988) in den Norden vertrieben worden waren.

Die Kurden stehen der Politik von Ministerpräsident Nuri al-Maliki reserviert bis ablehnend gegenüber, weil dieser einen Anschluss von Kirkuk an die kurdischen Gebiete ablehnt. Kurdische Peschmerga haben Augenzeugenberichten zufolge schon gewaltsam versucht, Araber sowohl aus Kirkuk als auch aus Mossul zu vertreiben. Auch die christlichen Strömungen in dem Gebiet bleiben von Anschlägen nicht verschont.

Ende Juni sollen sich die US-Truppen gemäß dem bilateralen Truppenabkommen USA-Irak aus den Städten in ihre Basen zurückziehen. Regierungsgegner könnten diese Übergangsphase zum Anlass nehmen, neue Anschläge auszuführen, hatte die Regierung gewarnt. Nur wenige Stunden vor dem Attentat in Tasa hatte Ministerpräsident Maliki Vertreter der Turkmenen bei einem Treffen beruhigt und gesagt, die Sicherheitsvorkehrungen in Irak würden immer besser. »Verlieren Sie nicht den Mut«, wenn ab und zu eine Bombe explodiert, wird Maliki von Teilnehmern des Treffens laut Al-Dschasira zitiert. Der Rückzug der US-Truppen könnte von »Feinden Iraks« genutzt werden, »im Dunklen Anschläge zu planen, um das Land zu destabilisieren«, erklärte der Regierungschef. »Wir werden darauf vorbereitet sein.«

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2009


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