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"Im Zweistromland herrscht die Sprache der Gewalt"

Karin Leukefeld über die alltäglichen Gefahren für Journalisten im Irak

Die Meldung:

Journalistin entführt
In einem bewegenden Appell an die Entführer hat die Familie der im Irak verschleppten US-Journalistin Jill Carroll um ihre Freilassung gebeten. "Jill ist eine unschuldige Journalistin und wir bitten Sie mit allem Respekt, Milde zu zeigen und ihr die Rückkehr zu ihrer Mutter, Schwester und Familie zu erlauben", heißt es in dem schriftlichen Appell, den Carrolls Zeitung "Christian Science Monitor" jetzt auf ihrer Internetseite veröffentlichte. Nach Angaben des Senders Al Dschasira fordern Carrolls Entführer die Freilassung aller weiblichen Gefangenen in Irak innerhalb der nächsten drei Tage; andernfalls drohen sie mit ihrem Tod.
Die 28-jährige Carroll war am 7. Januar offenbar auf dem Weg zu einem Interview in Bagdad verschleppt worden. Ihr Übersetzer wurde von den Kidnappern erschossen; ihren Chauffeur ließen sie dagegen nach dessen eigenen Angaben laufen. Laut Al Dschasira bekannte sich eine bislang unbekannte islamistische Gruppe namens "Brigaden der Rache" zu der Entführung. "Jill ist ein liebenswürdiger Mensch. Ihre Liebe für den Irak und das irakische Volk spiegelte sich in ihren Artikeln wider", heißt es in der Erklärung weiter.
Laut »Reporter ohne Grenzen« wurden seit Beginn des Irak-Kriegs im Frühjahr 2003 bereits 31 Medienvertreter verschleppt.
AFP/ND, 19.01.2006


Der Kommentar

Entführung in Irak – cui bono?

Von Karin Leukefeld

»Natürlich kannst du deine Story erzählen, vorausgesetzt, du bringst den nötigen Schutz mit.« Dexter Filkins, Bagdad-Korrespondent der New York Times, steht neben seinem CNN-Kollegen Michael Holmes. »Live, nur auf CNN« sprechen die beiden über ihre »riskante Aufgabe« als Korrespondenten in Bagdad. Filkins hat sich aus Europa einen »kugelsicheren Wagen mitgebracht, für 250.000 Dollar«, erzählt er. Bewaffnete Personenschützer gehören zu seiner ständigen Begleitung. Einer fährt mit in seinem kostbaren Wagen, weitere folgen in einem zweiten Wagen. So ähnlich ist das auch für Michael Holmes, der ständig die Fahrzeuge beobachtet, die ihm begegnen: »Wie viele Leute sitzen drin? Haben sie Waffen? Warum fährt der so langsam?« Eigentlich aber, so Holmes weiter, habe er kaum Zeit, raus zu gehen: »Du fliegst ein, bist ein paar Tage hier und schon geht es wieder raus.« Die Arbeit »draußen», außerhalb der schwer gesicherten CNN-Niederlassung in Bagdad, wird von irakischem Personal erledigt. Sie drehen Bilder, machen Interviews, jagen los, wenn sich wieder ein Selbstmordanschlag oder eine andere Explosion ereignet hat.

Jill Carroll (28) hat anders gearbeitet. Wurde die freie Journalistin deswegen entführt? Zu den Umständen ihrer Entführung gibt es widersprüchliche Aussagen, klar ist nur, dass ihr Fahrer davongejagt und ihr Dolmetscher erschossen wurde. Sie selber soll sich in den Händen einer Gruppe befinden, die sich die »Rachebrigaden« nennen. In einem Video hat die müde, doch gefasst wirkende Jill Carroll die Forderungen der Entführer genannt. Innerhalb von drei Tagen sollen alle weiblichen irakischen Gefangenen freigelassen werden, sonst werde sie getötet. Vielleicht wirkt sie so gefasst, weil sie die Forderung versteht. Frauen gefangen zu nehmen, ist ein schwer wiegendes Vergehen in der islamisch-arabischen Gesellschaft. Der Koran verpflichtet Muslime, unter allen Umständen Frauen zu schützen. Ähnliches gilt für Gäste, für Fremde, sofern sie mit guten Absichten kommen.

In Irak gilt nichts mehr davon. Die islamisch-arabische Kultur bietet niemandem mehr Schutz. Weder Mann noch Frau, weder Fremden noch Einheimischen. Im Zweistromland herrscht die Sprache der Gewalt, der Lüge, des Verrats. Die US-Armee und ihre irakischen Verbündeten nehmen Frauen als Geiseln, um deren männliche Angehörige zur Aufgabe zu bewegen. US-amerikanische Soldatinnen foltern und demütigen irakische Gefangene, die sie wie Hunde an einer Leine schleifen oder neben deren Leichen sie in Kameras feixen. US-Militärs stürmen Moscheen mitten im Freitagsgebet.

Permanent wird die einst schützende Gesellschaftsstruktur zerstört. Eine logische Folge ist, dass auch diejenigen zu Geiseln werden, die im Land sind, um genau darüber zu berichten. Jill Carroll war nicht »eingebettet« in einen kostspieligen Sicherheitsapparat. Sie arbeitete mit irakischen Freunden, nicht mit Bodyguards. Für Jill Carroll ist es die »höchste journalistische Aufgabe, Ungerechtigkeit und Grausamkeit« ans Tageslicht zu befördern. Das schreibt die »Jordan Times«, für die Jill Carroll schrieb, bevor sie im Sommer 2003 nach Irak ging. Als »beste Botschafterin, die sich Araber nur wünschen können«, so die »Jordan Times«, wollte sie für eine möglichst breite Öffentlichkeit über die »menschlichen Tragödien« der Nachkriegszeit in Irak berichten. Die aber ereignen sich jenseits der vom ausländischen und irakischen Militär und den Geheimdiensten kontrollierten Öffentlichkeit. Jill Carroll wollte über das schreiben, was den Entführern – sofern es sich wirklich um die handelt, als die sie sich ausgeben – wichtig ist. Was wird die Welt noch wissen über Irak, wenn diejenigen, die jenseits von Propaganda und individuellen Weblogs recherchieren, aus dem Land gezwungen, entführt und getötet werden? Cui bono?

Aus: Neues Deutschland, 23. Januar 2006 ("Medienkolumne")


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