Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wir sitzen in der Irak-Falle"

Bürgerrechtler Jesse Jackson über die Irakpolitik der US-Regierung

Der Baptistenpfarrer und Bürgerrechtler Jesse Jackson, 1990 zum Senator von Washington DC. gewählt, gehört einer Gallup-Liste zufolge zu den zehn angesehensten US-Amerikanern der letzten zehn Jahre. Dem europäischen Publikum ist er schon seit den 70er Jahren bekannt, als er das Erbe des ermordeten Martin Luther King übernahm und eine der prominentesten Führungspersönlichkeiten der amerikanischen Bürgerrechts- und Friedensbewegung wurde. Immer wieder hat er sich auch als Vermittler in außenpolitischen Konflikten engagiert. Reverend Jackson, der sich in der Demokratischen Partei mehrfach um die Präsidentschaftskandidatur bemühte, gilt als scharfer Kritiker von Präsident George W. Bush.
Das folgende Interview mit Jesse Jackson haben wir dem "Neuen Deutschland" entnommen.


(Mit dem 62-Jährigen sprach Daniel Kestenholz.)

ND: Bei vielen USA-Bürgern wachsen mit Blick auf Irak die Sorgen. Ihre Einschätzung der Lage?

Jackson: Die USA befinden sich in einem Krieg, der nicht nötig ist. Fast jeden Tag sterben Soldaten, über 6000 sind verwundet und auf dem Weg nach Hause. Aber von dieser Zahl hört man nichts in den Medien, auch nicht von den Selbstmorden. Viele der Verletzten sind noch gar nicht operiert worden, weil es an Operationssälen, Chi-rurgen, Betten mangelt. Die Art und Weise, wie wir verwundete Kriegsveteranen behandeln, ist eine Schande. Die Heimkehr der toten Soldaten darf nicht im Fernsehen gezeigt werden. Bei der Abreise zeigt man sie winkend auf Kriegsschiffen. Die Rückkehr der Särge, die auf der Dover-Luftwaffenbasis die Rampe herunterkommen, ist zensiert.

Wendet sich die öffentliche Meinung in den USA dennoch langsam gegen Bush?

Europas Medien waren immer freier. USA-Medien waren »embedded«, eingebettet, ich nenne das: im Bett mit Soldaten. Alles, was man uns zeigte, druckten und glaubten wir, etwa zu Jessica Lynch, der das Pentagon ein Rambo-Image verpasste. Nichts lag ferner von der Wahrheit. Ihre Waffe klemmte, sie war ein einsames verlassenes Mädchen in einem fernen feindlichen Land. Oder nehmen Sie Justizminister Ashcrofts »Patriot Act« – eine Angstbehörde. Mit dem Verlust von Bürgerrechten haben wir mit unbeabsichtigten Konsequenzen umzugehen. Wir geben viel Geld für Irak aus, während Teile unseres stolzen, reichen Amerikas mittlerweile der Dritten Welt ähneln. Das Heer der Armen und Verstoßenen aber wird verschwiegen. Noch glauben die meisten Amerikaner, was man ihnen sagt. Doch die öffentliche Meinung wandelt sich, je mehr Informationen verfügbar werden. Bush widerspiegelt nicht das gesamte Amerika.

Wie aber weiter in Irak?

Die USA marschierten auf arrogante, unilaterale Weise ein. Und Arroganz geht dem tiefen Fall voraus. Auf Dauer können wir dort nicht allein überleben. Deutschland und Frankreich und auch China müssen mit einer allseitig geteilten Verantwortung eingebunden werden für ein neues Irak. Wir führen einen Krieg, auf den wir nicht vorbereitet waren. Wir sitzen in der Falle. Wir können nicht gehen und können nicht bleiben. Wir sehen den Feind nicht einmal. Genau wie in Vietnam, wo wir den Willen des Volkes unterschätzten. Eine Politik, die nur unsere eigenen Bedingungen zulässt, muss scheitern. Denn die Mehrheit ist in Wahrheit eine Minderheit. Wenn sich Bush und Blair treffen, ist das ein Minderheiten-Treffen. Sie repräsentieren gerade einmal fünf Prozent der Weltbevölkerung. Die Mehrheit ist schwarz, braun, gelb, nicht-christlich, jung, spricht nicht Englisch, und ist arm, arm, arm.

Eine Politik, die die USA auch erheblich Ansehen in der Welt kostet.

Die Invasion in Irak ist die Abkehr von Amerikas Kultur der Verteidigung hin zu einer des Präventivkrieges. Wir teilten Europa, haben die UNO untergraben, nutzten Falschinformationen als Vorwand für Krieg und töten unschuldige Frauen und Kinder. Selbstverständlich verlieren die USA in den Augen der Welt damit ihre moralische Autorität. Nie wieder dürfen wir in einen Krieg stürmen und unsere europäischen Verbündeten ignorieren. Die USA-Politik hat Irak zudem in eine kritische Masse aus Hass, Gewalt und Angst verwandelt. Saddam Hussein war vor dem Krieg zumindest eingedämmt, jetzt ist Irak zum internationalen Hauptsitz der Anti-USA-Bewegung geworden. Wir finden keine Mittel gegen diese Guerillakriegführung, und eine Ende ist nicht in Sicht.

Innenpolitisch scheinen die Demokraten all diese Probleme aber nicht recht nutzen zu können.

Man hatte uns gesagt, ohne echte Beweise vorzulegen, dass von Irak eine unmittelbare Bedrohung ausgehe. Doch es gibt noch immer keinen einzigen Hinweis auf Massenvernichtungswaffen – dafür aber Hinweise auf eine Massentäuschung. Man sagte uns, dass es zwischen Irak und Al Qaida Verbindungen gebe. Es gibt, oder besser: gab keine Verbindungen. Und die Kriegführung wird immer schwieriger. Es ist nicht einfach, eine 7000-jährige Kultur zu besetzen. Wir brauchen Hilfe, um heil aus der Sache herauszukommen.
Doch ob Bush deswegen bei den nächsten Wahlen zu schlagen ist? Zuallererst müssen die Demokraten sicherstellen, dass der Gewinner auch gewinnt. Das letzte Mal gewann Bush mit der Losung »Stoppt die Auszählung!«. Die Stimmen der Farmarbeiter und Latinos, einer Basis der Demokraten, waren nicht gezählt worden. Ansonsten gilt wie immer: Die Demokratische Partei ist stark, wenn sie für die Massen kämpft. Clinton hat zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Seitdem haben wir drei Millionen Arbeitsplätze verloren – während zwei Millionen Amerikaner in Haft sind. Unter Clinton hatten wir einen Haushaltsüberschuss von 115 Milliarden US-Dollar. Bush verwandelte ihn in ein 500-Milliarden-Defizit. Die Zahl der von Armut geplagten Menschen in Amerika wächst. Wir haben zweitklassige Schulen und erstklassige Gefängnisse. Es ist eine Schande. Selbstverständlich inspiziert man eine Supermacht nicht. Wir inspizieren bloß die Schwachen. Doch der Wandel von Friedensdividende und Überschüssen in Krieg und Defizit wird Folgen haben.

Vorerst sind aus Washington aber kaum Signale für einen wirklichen Wechsel in der US-amerikanischen Irak-Politik zu erkennen.

All unsere Macht kann nicht gegen den Willen des Volkes siegen. Am Ende hatte uns auch der Wille des vietnamesischen Volkes bezwungen. Okkupation ist falsch, sie gelingt nie, das spüren die Russen in Tschetschenien ebenfalls. Doch da gibt es auch Wirtschaftsfaktoren. Wir bauen die meisten und die raffiniertesten Bomben. Wir verkaufen am meisten Waffen, und Halliburton und Bechtel haben diese Multimilliardenverträge in Irak erhalten.

Ist Bush eigentlich Herr seiner Politik?

Die Entscheidung, in Irak einzumarschieren, war schon vor dem 11. September 2001 gefallen. Wolfowitz und Perle waren die Architekten einer Idee, die von Rumsfeld unterstützt wurde – Leute, die nicht gewählt und also nicht rechenschaftspflichtig sind. Bush begrüßte ihre Idee. Sie machten Saddam zu einem dämonischen Symbol, das man zu zerstören habe. Heute glaubt die Weltgemeinschaft längst, dass es bei der Invasion weniger um Terrorismus ging, sondern um eine Art Abrechnung.

Wird Washington nun so unter Druck geraten, dass es schließlich doch Konsequenzen ziehen muss?

Diese Regierung wird immer radikaler. Weder schloss sie sich dem Kyoto-Protokoll zu den Klimaveränderungen an noch der Antirassismus-Konferenz in Südafrika. Unsere Politik ist isolationistisch. Nach dem 11. September standen alle hinter uns, um den Terrorismus zu bekämpfen, selbst Libyen und Syrien. Doch wir haben es geschafft, diese Koalition zu demontieren. Nur gibt es keine Zukunft in einem Kreislauf der Gewalt. Man soll an Frieden glauben und nicht dem Krieg erliegen. Ich habe Amerikaner aus ausländischen Gefängnissen gerettet. Die jetzige USA-Regierung aber hat der guten alten Diplomatie abgeschworen. Sie kennt nur die »Achse des Bösen« und »teuflische Regimes«. Dabei wäre es eine Pflicht, mit dem Feind zu sprechen, um ihn zu neutralisieren.
Wir haben uns an internationales Recht zu halten, an Menschenrechte und wirtschaftliche Konsistenz. Man kann nicht mit China Handel treiben und Kuba aus ideologischen Gründen boykottieren. Oder schauen Sie in den Nahen Osten. Nur jemand, der richtige Führerschaft beweist, vermag dort das Vertrauen beider Seiten zu gewinnen. Mauern müssen durch Brücken ersetzt werden. Amerika könnte es, Amerika könnte eine große Quelle für Frieden sein. Fünf Grundbedürfnisse gehören abgedeckt: Wasser, Ausbildung, Medizin, angemessene Behausung und stabile Regierungen. Wir könnten ein Licht für alle sein. Amerikas Größe liegt in seinen Werten, nicht in seiner Militärmacht. Dieser kraftvolle Optimismus ist das Beste, was Amerika zu bieten hat. Genau dafür kämpfe ich.

Aus: Neues Deutschland, 11. November 2003

Besuchen Sie unsere Chronik des Irak-Konflikts:
Kriegs-Chronik Irak

Tag für Tag Meldungen rund um den Irak.


Zurück zur Irak-Seite

Zur USA-Seite

Zur Seite "Menschenrechte"

Zurück zur Homepage