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Einfach zu wenig Tote

Internationaler Strafgerichtshof: Der Chefankläger Luis Moreno-Ocampo will im Zusammenhang mit dem Irakkrieg keine Kriegsverbrechen zur Anklage bringen

Von Peter Strutynski*

Niemand soll mehr während eines Krieges glauben, im Schutz und in der Anonymität des Kollektivs ein Verbrechen zu begehen. So hatten die BefürworterInnen des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) argumentiert, als es um dessen Einrichtung ging. Sie erhofften sich eine präventive Wirkung. Doch jetzt, nachdem der ICC letztes Jahr in Den Haag seine Arbeit aufgenommen hat, zeigt sich, dass vor diesem Gericht nicht alle erkannten Kriegsverbrechen behandelt werden. Luis Moreno-Ocampo, der Chefankläger des ICC will die Kriegsverbrechen im Irak nicht vor Gericht bringen.

240 Eingaben hatte Luis Moreno-Ocampo im Zusammenhang mit dem Irakkrieg erhalten. Eingaben, die eine Untersuchung wegen Agressionskrieg, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verlangten. Kürzlich hat Moreno-Ocampo in einem zehnseitigen Schreiben auf die Eingaben geantwortet und begründet weshalb er sich vorderhand nicht weiter mit dem Irakkrieg befassen wird: Es habe in anderen Kriegen Verbrechen in viel grösserer Zahl gegeben.

In vielen Fällen hatte Moreno-Ocampo bereits die Voruntersuchung verweigert. Denn die USA und der Irak sind dem ICC nicht beigetreten. Folglich könnte Moreno-Ocampo zwar ermitteln, aber eine Verurteilung durch den ICC ist per Statut ausgeschlossen. So werden die ICC-Richter weder über die Flächenbombardements von Falludscha noch über die Misshandlungen von Gefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib zu beraten haben.

Moreno-Ocampo musste sich auch nicht mit der Frage auseinander setzen, ob die Invasion der Koalitionstruppen in den Irak legal gewesen sei oder ein Agressionskrieg war. Zwar fällt der Strafbestand «Agression» unter das Statut des ICC, doch fehlt eine von den Mitliederstaaten allgemein akzeptierte Definition des Begriffes. Eine nötige Ergänzung des Statuts kann frühestens im Jahr 2009 vorgenommen werden. Das Mandat des Gerichtes beschränkt sich somit auf die Geschehnisse während des Krieges.

Dass es im Irakkrieg zu Völkermord oder zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sie, schloss Moreno-Ocampo zum vornherein aus. Die verfügbaren Informationen hätten keine hinreichenden Indizien geliefert, wonach die Koalitionstruppen die Ansicht gehabt hätten, «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören», wie es im entsprechenden Artikel 6 formuliert ist. Moreno-Ocampo schloss auch aus, dass Handlungen «im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung» begangen worden seien.

Somit prüfte Moreno-Ocampo schliesslich nur noch Anzeigen genauer, die sich auf Kriegsverbrechen bezogen. Kriegsverbrechen sind gemäss ICC-Definition absichtlicher Angriffe gegen Zivilpersonen oder Angriffe auf militärische Ziele, die «Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen, die eindeutig in keinem Verhältnis zu den insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.»

War der Einsatz von Streubomben ein Kriegsverbrechen? Nein, schreibt der Chefankläger, denn diese Waffe findet sich nicht auf der ICC-Liste verbotener Munitionen. Ihr Einsatz ist somit «per se» nicht strafbar. Und ihr Einsatz gegen Zivilpersonen? «Die verfügbaren Informationen ergaben keinen Hinweis auf absichtliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung», schreibt Moreno-Ocampo.

Bleiben vorsätzliche Tötungen, Folter und unmenschliche Behandlungen. Moreno-Ocampo kommt zum Schluss dass es vier bis zwölf Fälle von vorsätzlichen Tötungen und eine begrenzte Anzahl von Fällen von unmenschlicher Behandlung gegeben habe. Betroffen seien davon insgesamt «weniger als zwanzig Personen». Zwar handle es sich um «schwere Verbrechen», doch müsse eine «bestimmte Schwelle» überschritten sein. Die geringe Zahl der Fälle bedeute, so der Chefankläger, dass das Gericht nicht zuständig sei. Es seien nicht «im grossen Umfang» Kriegsverbrechen verübt worden, wie dies das Statut für einen ICC-Prozess vorschreibe.

Auch im Vergleich zu anderen Kriegsverbrechen sei die Schwere der Straftaten im Irak nicht gegeben. Der Chefankläger verweist auf gleichzeitig von ihm untersuchte Kriegsverbrechen im Kongo, in Nord-Uganda und in Darfur (Sudan) hin. In jedem dieser drei Fälle gebe es tausende von vorsätzlichen Tötungen, unzählige Fälle sexueller Gewalt und Entführungen sowie Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen.

Moreno-Ocampos Entscheidung, die bislang kaum öffentlich zur Kenntnis genommen worden ist, dürfte der Reputation des noch jungen internationalen Strafgerichtshofes einen schlechten Dienst erweisen. Der friedenspolitische Fortschritt, dass Kriegsverbrechen individuell eingeklagt werden können, ist mit der abweisenden Haltung des Chefanklägers wieder relativiert worden.

* Peter Strutynski ist Politikwissenschaftler an der Uni Kassel und Sprecher des deutschen Friedensratschlags

Aus: Wochenzeitung WoZ (Zürich), 9. März 2006



Hier geht es zum Brief des Chefanklägers des IStGH, Luis Moreno-Ocampo:
"The situation did not appear to meet the required threshold of the Statute" (pdf-Datei)


Quelle: Website des Internationalen Strafgerichtshofs: www.icc-cpi.int

Eine längere Fassung des obigen Artikels haben wir bereits hier veröffentlicht: "Die vom Statut geforderte Schwelle wurde nicht überschritten"



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