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Der Tod eines Totems

Irak: Kann das Ende des Abu Musab al-Zarqawi den beschleunigten Zerfall des Landes aufhalten?

Von Lutz Herden*

Am Abend des 7. Juni wurde der Jordanier Abu Musab al-Zarqawi bei einem Angriff der US-Luftwaffe nahe der irakischen Stadt Bakuba schwer verletzt und danach laut Zeugenaussagen von US-Soldaten getötet - für Präsident Bush "ein Sieg im weltweiten Kampf gegen den Terror", für den irakischen Premier Nuri al-Maliki ein Erfolg, der die Sicherheitslage im Land "entscheidend verbessern" werde.

Man durfte darüber rätseln - was hatte Nuri al-Maliki bewogen, am Abend des 8. Juni mit einem derart euphorischen Statement in der Grünen Zone von Bagdad den Tod des Abu Musab al-Zarqawi zu vermelden? Das triumphierende Gebaren schien weder zum Naturell noch zu den bisherigen öffentlichen Auftritten des gerade inthronisierten Premierministers zu passen. War so etwas wie Genugtuung im Spiel, dass es einmal wenigstens gelungen war, die amerikanische Besatzung zum Handlanger irakischer Interessen zu machen? Nur waren diese Interessen eigentlich nicht die des schiitischen Regierungschefs, eher die seiner schärfsten Widersacher in einem mühsam ausgehandelten Kabinett.

Offenkundig hatte irgendwer aus dem sunnitischen Widerstand den "Zorro des Jihad" an die Amerikaner verraten. Vielleicht kam der entscheidende Wink, Abu Musab al-Zarqawi halte sich am Rande der Stadt Bakuba auf, von der Armee Mohammeds oder aus den El-Haq-Brigaden. Wer ihn wirklich auslieferte, darüber kann nur spekuliert werden. Keine Spekulation, sondern eine Tatsache ist es hingegen, dass die sunnitische Community des Irak - von den Milizen bis zu den im Parlament vertretenen Parteien - mit dem Rücken zur Wand steht. Die Sunniten wollen nicht nur, sie müssen den Zentralstaat retten. Nur der kann ihnen als Minderheit letzten Endes Schutz und Sicherheit garantieren.

Den arabischen Jihadisten eine gewaltige Bresche schlagen

Wer freilich den irakischen Staat erhalten will, darf ihn nicht im Bürgerkrieg opfern und durch Gewalt gegen die schiitische Mehrheit darauf hinsteuern. Seit am 24. Februar mutmaßliche sunnitische Extremisten mit der Goldenen Moschee von Samarra eines der großen schiitischen Heiligtümer in die Luft sprengten, scheint eine Eskalation greifbarer denn je. Al-Zarqawi war augenscheinlich entschlossen, eine solch finale Konfrontation nach Kräften anzuheizen, vollends von seinem Ziel beseelt, im Irak ein Kalifat zu errichten und den arabischen Jihadisten eine gewaltige Bresche zu schlagen. Ein tödliches Unterfangen, wie sich zeigen sollte - einflussreichen Sunniten bleibt die irakische Realität näher (und wichtiger) als die islamistische Utopie.

Ministerpräsident al-Maliki hätte daher am 8. Juni auch mitteilen können, da er die Umstände in etwa kenne, unter denen al-Zarqawi zu Tode kam, müsse er diese Vorgänge zugleich als Botschaft des sunnitischen Lagers werten. Sie erinnere an die Bedingungen, unter denen die sunnitischen Parteien nach fünfmonatigen, zähen Verhandlungen am 21. Mai in die Regierung eingetreten seien.

Dieser Schritt war letzten Endes der Zusicherung al-Malikis zu verdanken, die Provisorische Verfassung vom August 2005 zu "überarbeiten", etwa der Dezentralisierung Grenzen zu setzen und den nationalen Einheitsstaat nicht zugunsten einer Föderation (Kapitel II/III) weitgehend autonomer Regionen aufzugeben. Zu fragen wäre nur, hofft Nuri al-Maliki ernsthaft, dass sich der de facto existierende kurdische Separatstaat im Norden wieder unter Kuratel stellen und dem Einheitsstaat zuordnen lässt? Diese Autonomie wurde seit 1991 [1] bereits von Saddam Hussein stillschweigend respektiert. Sie galt als Joker der Amerikaner, der sich jederzeit spielen ließ, falls Gründe für einen Waffengang gegen den Irak gebraucht wurden. Absolut undenkbar, unter Duldung der US-Besatzung etwas revidieren zu wollen, was US-Regierungen von George Bush senior bis George Bush junior nach Kräften gefördert haben. Vor einem Jahr war der Föderalismus-Streit im Verfassungsrat dermaßen eskaliert, dass die kurdischen Parteien damit drohten, die damalige Zentralregierung zu verlassen. Sollte andererseits die Verfassung einer forcierten Sezession Vorschub leisten, haben die Sunniten endgültig verloren. Allein die marginalen Erdöl- und Erdgas-Ressourcen im sunnitischen Dreieck von Falludscha dürften sie künftig zu Kostgängern der Kurden degradieren, die kaum zum politischen Nulltarif aushelfen werden. Ihr Preis steht längst fest: föderative Strukturen mit einem Höchstmaß an regionaler Autonomie.

Auch Artikel XVI der Verfassung bleibt umstritten, betont er doch die exponierte Stellung des Islam für die irakische Gesellschaft und die Funktion des schiitischen Klerus, dem quasi ein geistliches Patronat über ein wie auch immer geartetes irakisches Gemeinwesen eingeräumt wird. Hier reklamieren die sunnitischen Parteien gleichfalls Korrekturbedarf, da derartige Regelungen dazu führen könnten, ihnen jeden Einfluss auf den Staat zu entziehen.

Was aber ist von diesem Staat geblieben, den die Sunniten verteidigen und nicht in einer Front mit al-Qaida und al-Zarqawi zerstören wollen? Augenblicklich reicht er kaum über die Grüne Zone von Bagdad hinaus, in der Nuri al-Maliki und sein Kabinett ihr Refugium haben, bewacht nicht von irakischen, sondern ausschließlich von US-Soldaten. Geschützt vor dem Land, das sie führen soll, reicht die Autorität dieser Regierung nicht viel weiter als die Sicherheitsgarantien der Besatzungsmacht.

Eine Regierung, die nur im Hochsicherheitstrakt sicher ist

Dabei lässt sich der Souveränitätsverlust der irakischen Exekutive nicht allein am Grad ihrer Ohnmacht ermessen, sondern ebenso der grassierenden Anarchie entnehmen, die davon ausgelöst wird. Ersteres ließe sich durch einen Abzug der Besatzungsmacht beheben, letzteres scheint vorerst unumkehrbar.

Insofern argumentieren Präsident Bush und Premier Blair durchaus richtig, wenn sie einen Rückzug zum jetzigen Zeitpunkt indirekt als Signal zum Bürgerkrieg deuten. Beide müssen es wissen, haben sie doch dafür gesorgt, dass der irakische Staat verlor, was für jeden Staat unverzichtbar ist, um als solcher existieren zu können: ein durchsetzbares Gewaltmonopol. Es wurde von der Besatzungsmacht außer Kraft gesetzt, so dass Armeen und Milizen von Parteien, religiösen, ethnischen und urbanen Gemeinschaften in das entstandene Vakuum stießen. Soll diese Entwicklung aufgehalten oder gar umgekehrt werden, muss der irakische Staat wieder die Gewähr dafür bieten, dass bewaffnete Formationen nicht länger aus Gründen der Notwehr unentbehrlich sind. Solange ein Bürgerkrieg näher rückt, gelten die Milizen irakischen Familien, Clans und Stämmen als legitimer Schutz, um zu überleben. Eine Regierung, die nur im Hochsicherheitstrakt der Grünen Zone sicher ist, lässt wissen, wie Recht sie haben. Die Besatzungsmacht taugt allein als Schutzmacht einer irakischen Elite, nicht der Bevölkerung.

General George Casey, der Oberkommandierende der alliierten Truppen, hatte unmittelbar nach Übernahme der Befehlsgewalt Ende 2005 eingeräumt, man sei nach dem Sieg vom April 2003 einer Fehlkalkulation erlegen. Lange wurde ein Zusammenspiel der baathistischen Kader Saddam Husseins mit dem islamistischen Widerstand ausgeschlossen. Inzwischen müsse man davon ausgehen, dass eben diese Allianz das "zentrale Nervensystem des Terrors" bilde. Vielleicht hätte man die Reste der Armee Saddams nicht auflösen, sondern für Ordnungsdienste einsetzen sollen.

Der US-Plan, neue Sicherheitskräfte von null an aufzubauen, war gescheitert, bevor Donald Rumsfeld Ende 2003 mit seinen Phantasiezahlen von 200.000 bestens ausgebildeten und im Sinne der Demokratie motivierten irakischen Polizisten den US-Kongress täuschte, der sich bereitwillig täuschen ließ. Bereits im August 2003 war der schiitische Aufstand - nicht der sunnitische - in vollem Gange, getragen zunächst von der Mahdi-Armee (bis zu 10.000 Mann) des radikalen Predigers Muktada al-Sadr, später flankiert von den Milizen des heute mit regierenden Supreme Council of Islamic Revolution in Iraq (SCIRI).

Von Abu Musab al-Zarqawi war zu diesem Zeitpunkt noch wenig zu sehen, er wartete ab, ob sich das sunnitische Lager vom Sturz Saddams erholen würde. Erst als sich die Erhebung im sunnitischen Falludscha abzeichnete, begann er dafür zu sorgen, dass keine nationale Einheitsfront des Widerstandes entstand und statt des Unabhängigkeits- ein Heiliger Krieg geführt wurde, der nicht zur Befreiung des Irak, sondern der Proklamation eines irakischen Gottesstaates führen sollte. Diese Strategie ging von Anfang an über Leichen. Dass nun mit al-Zarqawi eine der Galionsfiguren des Terrors darunter ist, verschafft den Jihadisten einen Märtyrer, der ihnen mehr als willkommen sein wird. Mit ihrem Triumphgeheul über den Tod al-Zarqawis helfen ihnen die Amerikaner - der Westen überhaupt - dabei. Sie haben den Desperado zu seinen Lebzeiten wie ein Totem behandelt und viel getan, sich in al-Zarqawi wiederzukennen - auf dass dem Irak der Heilige Krieg und damit die Selbstzerstörung erhalten bleiben.

Anmerkung:

1 Der Irak-Krieg im Februar/März 1991 ("Operation Wüstensturm") hatte unter anderem dazu geführt, dass Saddam Hussein die Kontrolle über die Kurdenprovinzen weitgehend verlor.

Iraks Administrationen seit April 2003

Coalition Provisional Authority, (CPA/US-Zivilverwaltung); Leitung Paul Bremer
April 2003 - Juni 2004

Kabinett Iyad al-Allawi (Schiit/Partei: Irakisches Nationales Übereinkommen)
Juni 2004 - April 2005

Kabinett Ibrahim al-Jaafari (Schiit / Islamische Partei Dawa)
Mai 2005 - Mai 2006

Kabinett Nuri al-Maliki (Schiit/Vereinigte Irakische Allianz)
Ab Mai 2006



* Aus: Freitag 24, 16. Juni 2006


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